Das Herz der Lerche

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Leseerfahrungsbericht

Zuerst, beim Einstieg, war es mir zu lang. Auch erfasste ich rasch, um welches Thema es ging, und sagte mir, dass es mich gerade jetzt nur mäßig interessiere. Ich überflog also die einzelnen Abschnitte bloß mit den Augen, las nur noch hier und da probeweise. Und dabei stieß ich allmählich auf dieses und jenes Detail, das mich doch vom Stoff her ansprach (z.B. die Gedanken über die Zeit an sich). Außerdem bekam ich einen Eindruck von der beachtlichen sprachlichen Qualität. Ja, und dann habe ich es doch von vorn bis hinten durchgelesen und finde es insgesamt recht gelungen.

Um auf die eingangs von dir, fraulange, gestellten Fragen einzugehen: Ich würde nichts kürzen. Stoff und Länge scheinen mir in einem angemessenen Verhältnis zu stehen. Gewiss könnte man, wenn man unbedingt kürzen wollte, zwei oder drei Absätze weglassen - aber welche? Die Auswahl dürfte schwierig (zufällig, willkürlich) werden, da die einzelnen Bestandteile sich auf annähernd gleich hohem Niveau bewegen und von ihrer Bedeutung für den Ablauf alle gleichermaßen relativ verzichtbar wie auch wiederum unverzichtbar erscheinen. Vielleicht äußert sich eben darin das Moment des Epischen. - Zur Botschaft: Habe ich sie denn verstanden? Ich bin mir da gar nicht sicher. Ich will den Eindruck lieber noch sacken lassen und hoffe, die von dir beabsichtigte Botschaft lässt sich nicht mit drei Worten ausdrücken. Ich finde in der Erzählung sowohl die Schwierigkeit (wenn nicht Unmöglichkeit) glücklichen Zusammenlebens von Menschen überhaupt wie auch, im Gegenteil, sein dann doch fallweises Eintreten (Lerchenepisode). Beim nochmaligen Durchlesen: Im vorletzten Absatz kommt mir das Hinarbeiten auf die Moral von der Geschicht ein wenig bemüht vor, zu verdeutlichend. Hier würde ich es knapper, vager fassen. Lass den Text doch den Leser durch die Brille seiner jeweiligen Lebenserfahrung selbst interpretieren.

In Kap. II, Absatz 6 würde ich das Wort "doof" durch einen anderen Ausdruck ersetzen. Es entspricht nicht dem sonstigen Sprachniveau der Tochter. Vielleicht statt "doof und unangenehm" besser "einfach peinlich" oder "nur peinlich"?

Ach ja, die Hunde ... Eben solche hatte ich auch.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

fraulange

Mitglied
Hier also nun die Erzählung in voller Länge.

Sie schildert, wie eine Tochter und eine Mutter das Sterben der Mutter erleben. Da kommen viele, auch bittere Erinnerungen hoch ... Aus ganz unterschiedlicher Perspektive spüren beide, Mutter wie Tochter, Konflikten, Erwartungen und Sehnsüchten nach.

Falls sich der eine oder andere von Euch die Mühe machen möchte, die Geschichte zu lesen, dann bin ich besonders dankbar für einen Tipp zu meinem Dilemma, ob man vielleicht auch Abschnitte weglassen kann und die Geschichte mit ihrer Botschaft trotzdem noch funktioniert. Funktioniert sie überhaupt? Entmutigt den Leser nicht schon die Länge an sich? Trotz aller Bedenken: Viel Freude beim Lesen!


Das Herz der Lerche

I

Der Feierabend. Das Telefon. Der Rufton ins Leere, immer wieder. Es wird doch nichts passiert sein? Ach was, vielleicht hat sie ihr Hörgerät nicht drin, oder der Akku vom Telefon ist mal wieder alle.

Der Feierabend. Die Müdigkeit. Wird schon nichts passiert sein.

Der Morgen. Das Telefon. Der Rufton, immer wieder. Die Fahrt. Der Schlüssel. Die Wohnung. Die Terrasse. Ihr Körper, ihr Mund, das Lallen. Die Sirenen. Das Blaulicht. Die Nachbarin: Ich dachte doch … Ich weiß. Ich dachte auch. Wird schon nichts passiert sein.

Da habe ich mich so oft gefragt, wie es wohl sein wird einmal, was für ein Tag wird es sein, ein Sonntag, ein Dienstag? Was für ein Tag wird es sein, und kann es ein Wetter für ihn geben wie für jeden anderen Tag auch? Und dann ist der Tag da, es ist irgendeiner. Vielleicht wird es an einem Abend geschehen, an dem der Sommer vorsichtig und wie zur Probe duftet, die Luft noch voller Kühle, ein paar Wolken, ihr Grau zerrissen und an den Rändern lohfarben. Eben stand ich noch vor dem Abreißkalender in der Küche und schaute mir das neue Datum an; ich mache das immer schon am Vorabend. Ich dachte noch, was für ein merkwürdiges Datum. Zweiundachtzig Mal war es an mir vorbei gestrichen, ohne dass ich etwas Besonderes gedacht oder gefühlt hatte, ich hatte gespielt oder den Abwasch gemacht, ein Buch gelesen oder einen Brief geschrieben. Und jetzt sollte es ein so wichtiges Datum sein. Merkwürdig, dass ich das dachte. Die Terrassentür stand offen, ich hörte draußen ein Geräusch, ein leises Scharren, und ging hin, um nachzuschauen. Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter unter dem Vogelhäuschen lagen. Als ich näher kam, huschte es davon und verschwand in der Dämmerung. Die Sonnenblumenkerne müssten endlich mal weggefegt werden, dachte ich, und: Ist doch schon bald Sommer. Ich spähte über den Rasen zu den Fichten, dorthin, wo die Schatten sich zur Nacht versammelten, aber das Tier war fort, und ich fröstelte auf einmal, und mir war seltsam im Kopf und schwindelig. Und im nächsten Moment ist da eine Leiter gewesen, mitten auf meiner Terrasse! Die ist hoch, so hoch gewesen, dass ich das Ende gar nicht sehen konnte, und ist verschwunden in den Wolken. Da hab ich’s gleich gewusst und bin emporgestiegen und habe gedacht, da bin ich so eine alte Frau, und es ist so leicht, diese Leiter hochzusteigen. Höher, immer höher! Und ist oben ein Wagen gekommen und hat mich und andere mitgenommen, und sind welche betrübt gewesen und haben laut geweint, und haben welche ganz still geweint und welche gar nicht. Ich aber, ich bin vergnügt gewesen: Weiter, nur immer weiter! Und hat nach einiger Zeit der Wagen angehalten, und ist jeder für sich weitergeflogen, denn jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne.

Brauchst keine Angst zu haben, Mama, sagt jemand. Nein, oh nein, ich habe keine Angst. Jetzt weiß ich es wieder: Ich bin in einem Krankenhaus, mein Kind ist da, und es war eine ganz leichte Geburt! Hinter dem Fenster wird es Nacht. Ein Wortspiel kommt mir in den Sinn: Das Leben ist eine schwere Geburt. Das Sterben aber ist leicht. Da will ich lieber weiter sterben. Weiter, immer weiter geht meine Reise hinaus aus dem Fenster und vorbei an den Sternen.

Hast du Schmerzen, Mama, fragt mich jemand. Ja, ich habe Schmerzen, aber es tut nicht mehr weh. Ich bin längst am Schmerzstern vorbei und am Angststern und am Durststern, das ging so schnell und war es wert. Per aspera ad nihil. Durch die Bitterkeit ins Nichts. Ich freu mich so auf das Nichts! Bald werde ich hinter allen Sternen gut versteckt sein, und niemand wird mich finden, und ihr, ihr könnt mich suchen, solang ihr lustig seid. Lustig, ihr wart immer lustig miteinander und lachtet, und bei euch klang es so einfach. Und ich wollte mitlachen, fand aber bald, dass es viel schwerer war als ich gedacht hatte. Rhythmus und Melodie wollten mir nicht gelingen. Ich hörte, wie falsch mein Lachen geriet und lachte und dachte, das kann doch nicht so schwierig sein, warum kann ich das nicht, ich kann nicht mal das, ich kann gar nichts! Und da schämte ich mich, und das Schämen und das Lachenwollen taten mir so weh in Hals und Herz. Ich hab mein Herz kaputtgelacht, ich hab mein Hirn kaputtgedacht. Das Lachen ist eine schwere Geburt, sterben aber, sterben kann jeder.


II

Ich hätte nie gedacht, dass es auf einer Intensivstation so laut ist. Nicht dass ich jemals groß darüber nachgedacht hatte. Kein zurückhaltendes Piepsen einzelner Geräte, kein stilles Hin- und Herhuschen der Schwestern und Pfleger, hier wurde nicht geflüstert. Hier wurde gerufen und gerannt und geräumt, hier schepperte und rumste es. Ist ja auch logisch, dachte ich, die machen hier ihre Arbeit, die machen hier einen richtig schweren Job.

„Brauchst keine Angst zu haben, Mama“, sagte ich. „ Ich bin da.“ Und: „Hast du Schmerzen, Mama?“

Meiner Mutter war bewusst, dass sie im Krankenhaus lag. „Gut, dass die Elisabeth Krankenschwester ist, die wusste gleich, was zu tun war, als es losging mit den Wehen“, sagte sie. Die Elisabeth, ihre Schwägerin, seit fünfzehn Jahren tot. Ganz hinten in meiner Kehle kitzelten ein Lachen und ein Weinen um die Wette. Ich lachte. „Mit den Wehen?“ „Ja“ sagte sie, und ich versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber das ließ sich schwierig an, weil das Bett so hoch war, ich konnte mich nicht zu ihr setzen, also nahm ich ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Und dann erzählte sie mir, wie die Geburt verlaufen und wer schon zu Besuch gewesen war: Alle, alle waren da gewesen, der Piet und die Suse und die Elke, Verwandte und Freunde, Lebende und Verstorbene, und sogar eine Katze war gekommen! – ja, auch frühere Haustiere reihten sich in diese Besucherscharen ein. Schließlich sagte sie, ich solle ihre Eltern grüßen und ihnen ausrichten, alles sei gut gegangen. Das versprach ich ihr, und das war das letzte, was wir zueinander sagten.

Bis zum Mittag hatte ich alle angerufen. Siebenhundert Kilometer weiter südlich machte sich meine Schwester auf den Weg. Die Frau meines Vaters hatte sofort angefangen zu weinen und meinen Vater ans Telefon geholt. Der Einweg-Schutzkittel aus grünem Vlies, vor der Tür zur Intensivstation hastig gegriffen, war vorne offen. „Ich hab das hier verkehrt rum an, oder“, fragte ich die Schwester. Sie lachte und nickte, ich lachte auch. Und brach in Tränen aus. Am Nachbarbett keuchte ein Atemgerät.

„Das eigentlich Schlimme ist die Hirnschwellung. Wir könnten die Schädeldecke öffnen und eine Operation versuchen, aber bei den Schäden …“ der Satz des jungen Arztes blieb in der Luft hängen. Ich schaute die Stelle in der Luft an, wo er ungefähr hängen musste, der Satz, dann schaute ich den Arzt wieder an.
„Was würden Sie tun, wenn es Ihre Mutter wäre, mit so einer Patientenverfügung?“ fragte ich ihn.
„Ganz ehrlich?“ sagte er. Und dann gab es nichts mehr zu tun als weiter bei ihr zu sitzen.

Ganz ehrlich. Dass es mir jedes Mal unangenehm war, wenn sie mich nach einem Besuch bei ihr nach draußen begleitete, um mir mit einem verrutschten Lächeln hinterherzuwinken. Dass ich erleichtert war, wenn ich ihre Gestalt im Rückspiegel kleiner werden sah. Dass der letzte Satz eine Lüge war und ich nie in den Rückspiegel schaute. Dass ich mich ausgelaugt und leergesogen fühlte, wenn ich von ihr kam. Und trotzdem immer wieder zu ihr kam, wie hätte ich nicht kommen sollen? Ich kam immer wieder, zu ihren Brotscheiben vom Vorvortag, zu ihrer Halbfettmargarine, zu ihrem Käse, der an den Rändern hart und glasig war, zu den Abendbrotbrettchen mit dem Siebzigerjahremuster. Zum Ticken der Wanduhr, von ihrem Vater geerbt, einem langsamen, schwermütigen und zuletzt völlig verkalkten Mann. Zu jeder halben Stunde schnarrten die Eingeweide der Uhr und bereiteten sich zum Schlagen vor. Die Uhr schlug halb sechs, schlug um sechs, schlug halb, schlug um, halb um die Zeit, Tagesschau, halb neun, dann will ich mal so langsam. Ach, schon? Wie schade. Ja, wie schade. Ganz ehrlich. Dass ich sie anschrie, an einem Weihnachtsabend: Für das, was sie immer so poetisch „das schwere Erbe meines Vaters“ nannte, gab es einen klinischen Begriff, und es war behandelbar, schon mal davon gehört! Mein Gott, sie war doch nicht die einzige Frau auf der Welt, die von ihrem Mann betrogen und verlassen worden war, oder die den Krieg erlebt hatte! Wollte sie nicht oder konnte sie nicht, und gab es einen Unterschied zwischen Nichtkönnenwollen und Nichtwollenkönnen? Dann geht doch zu eurem lustigen Vater. Und dann, mitten im Streit, stellte sie mir mit dem feinen Instinkt des Opfers für den falschen Zeitpunkt ihre Frage. Mein Gott, sie hätte mich besser kennen sollen, ich konnte nicht lügen, das wusste sie genau, ich fühlte kein Ja und ich fühlte kein Nein. Mein Zögern war ihr Antwort genug. Nach zwanzig endlosen Sekunden sagte ich: Ich will dich nicht lieben müssen, ich will dich lieben dürfen. Verflucht und frohes Fest, ganz ehrlich.

Überhaupt, die Liebe! Was die alles leisten sollte bei uns zuhause. Da wäre der fleißigste Sklave überfordert gewesen. Dabei war ja immer genug da! Im Keller hat, seit ich klein war, ein Tresor gestanden, der war randvoll mit Liebe. Bloß, das Schloss hat geklemmt, und keiner kam ran. Wir haben gerüttelt und gezerrt, und schließlich haben wir uns aufs Schreien verlegt. Aufs Anschreien, aufs Rausschreien, aufs Fordern. Jeder hat gehofft, wenn er am lautesten brüllt, dann bekommt er ein Stück von der Liebe. Ich wusste immer, sie war da, aber ich kam nicht dran, ich fühlte sie nicht. Ich hatte keine Schuld, und meine Schuld war unermesslich.

Es wurde Nachmittag. Auf der Intensivstation konnte man nichts mehr für sie tun, und andere Patienten brauchten den Platz dringender. Hier, im zarten Olivgrün eines gewöhnlichen Stationszimmers, würde sie sterben. Für jeden Menschen gibt es einen Ort zum Sterben, dieser war ihrer. Sie lag im medikamentösen Tiefschlaf, ohne Angst, ohne Schmerzen, wie ich hoffte und betete zu ich-weiß-nicht-wem. Wo liegt mein Ort zum Sterben, dachte ich, wie sieht er aus? Gibt es ihn schon, ist das Haus, ist das Zimmer gebaut?

Ihr Hörgerät, ihre Brille, ihr Buch. Ein paar Dinge auf dem Nachttisch, die ich heute Morgen eilig zusammengesucht hatte. Wann war das gewesen, vor drei Stunden, vor hundert Jahren? Genährt von welcher Hoffnung? Sie war nie ohne Buch gewesen, niemals.

Das Bücherregal, das Herz des Wohnzimmers, seit ich denken konnte. Franz Kafkas betrübte Miene auf der Werkausgabe blickte aus dem Bücherregal auf meine Kinderspiele herab. Kafka hatte, das wussten wir früh, an seinem Vater gelitten, hatte an sich und der Welt gelitten. Wir Kinder, heimlich auch unser Vater, machten uns über seine abstehenden Ohren lustig. Sie mochte es, wenn Menschen … Nein, der Satz war ja ganz verkehrt, das durfte man doch nicht einmal denken! Noch einmal: Sie mochte Menschen, die litten. Kurt Tucholsky, schwerkrank und irre geworden am Unrecht seiner Zeit, vergiftete sich. Heinrich Heine, Jahre dahinsiechend in seiner Matratzengruft! Oder die Juden … Ja, die Juden. Sie liebte diese Menschen, liebte sie auf Friedhöfen, an Gedenkstätten, in Dichterhäusern. Sie schenkte ihnen, den Opfern, ihre wohlverdiente Achtung, ihre Liebe und Bewunderung. Die Welt, ein Stück gerechter. Sie selbst, getröstet für den Augenblick. Und wenn ihre Kinder unglücklich gewesen wären? Nur ein bisschen, ein kleines bisschen unglücklicher? Nicht einmal denken durfte man doch so etwas! Aber wenn, aber wenn … dann wäre sie nicht so mutterseelen-, so kinderseelenalleine gewesen.

Zwischen all den Büchern wohnten in unserem Bücherregal auch zwei Hunde, ein schwarzer und ein weißer Terrier, ein Mitbringsel von irgendjemandem. Sie waren kaum länger als mein kleiner Finger, in ihren Plastikleibern waren Magnete verborgen. Der Spaß bestand darin, dass, wenn man auf der Tischplatte den einen auf den anderen zuschob, dieser sich im letzten Moment blitzschnell drehte, so dass die beiden aneinander hingen, die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen. Ich aber konnte mich lange mit dem Versuch beschäftigen, ihre Schnauzen zusammenzubringen, was natürlich nie gelingen konnte, da an dieser Stelle die Magneten einander abstießen. In jeder Faust eines der beiden Hündchen haltend, sah ich zu, wie mal die eine und mal die andere Hundeschnauze nach oben oder nach unten wegrutschte. Die beiden Hunde, der schwarze und der weiße, waren nur mit Gewalt dazu zu bewegen, sich in die Augen zu schauen. Später, viel später übten sie und ich uns im gleichen Spiel. Sie rutschte mir immer wieder nach oben oder nach unten weg. War ich der Schwarze? Der Weiße? Ihre Moral oder mein Mitleid, ich hatte die Wahl. Nur mit Gewalt und nur scheinbar ließen sich unsere Blicke zusammenzwingen, im Streit, im Verletzen, im Immer-Lauter-Schreien: Sieh mich an. Sieh mich an! SIEH MICH VERDAMMT NOCH MAL NUR EINMAL, EINMAL RICHTIG AN!!! Ich wollte Schwarz und Weiß mischen zu tausend Grautönen, die dann vor Farbe explodieren würden, ich wollte ihr beweisen, wie es sein konnte zwischen uns, ich wusste, wusste, es war möglich, sie musste, musste, MUSSTE! es doch sehen.

Ihr Schwarz barg keine Hoffnung, sie wusste, es war niemals möglich. Ihr Weiß blieb strahlend.

Der Abend. Der Stationsarzt hatte sich nur mühsam überreden lassen, ihre Patientenverfügung zu lesen, sein Tonfall war der eines genervten Oberkellners gewesen, der keine Lust hat, meine Bestellung aufzunehmen. „Gut, Schmerz- und Beruhigungsmittel ja, künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe nein.“ Ich heulte. „Aber dann bestätigen Sie mir bitte schriftlich, dass Sie es in Kauf nehmen, wenn Ihre Mutter verhungert und verdurstet.“ Ich saß wieder am Bett meiner Mutter und nahm in Kauf, dass sie verhungerte und verdurstete. Das Verhungern und Verdursten sah friedlich aus. Ich sah ihr beim Verhungern und Verdursten zu, beim Einatmen und Ausatmen und dachte daran, wie sie mir alles Glück, das in ihr war, in den ersten Jahren ins Fläschchen gefüllt, in den Brei gerührt, mit der Marmelade aufs Graubrot geschmiert, die Scheiben halbiert und geviertelt und alles an mich verfüttert hatte. Ich hatte, wie Kinder es tun, mit hungrigem Schnabel verputzt, soviel eben da war.

Einatmen, Ausatmen. Ein. Aus. Noch. Nicht -

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Auf dem Stern des Streites befindet sich ein großer Gerichtssaal, in dessen Mitte auf einem Podest eine Maschine thront. Ihre Zahnräder bewegen sich in unbegreiflichem Rhythmus, manche mit trägem Schwung, manche hektisch flimmernd. Die Maschine produziert verwirrende Sätze, die mir um die Ohren fliegen. Ich soll antworten, es geht aber viel zu schnell, meine Antworten sind hilflos, abwehrend. Eine Serie von Hammerschlägen wie auf Metall begleitet jeden Satz, der Lärm ist kaum zu ertragen und bohrt sich in mein Hirn. Du sollst wollen. Ich will nicht. Aber du sollst wollen können. Ich kann nicht. Aber wir wollen, dass du wollen dürfen kannst! Was für ein Strafgericht. Mitten in meiner Verwirrung nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen, ich weiß, hohes Gericht, es ist der falsche Zeitpunkt, ich bin für eine ehrliche Antwort gar nicht gewappnet. Aber wenn ich schon dürfen soll, Hohes Gericht, dann möchte ich nur eines erfahren. Und dann steht die Frage im Raum. Als sie noch in mir war, erschien sie mir wie etwas Großes. Aber nun, da sie entblößt und zitternd im Raum steht, wirkt sie dürftig und bedürftig. Erbärmlich. Ich halte den Atem an, mein Herz pocht angstvoll, und doch auch voller Hoffnung: Das Zauberwort und endlich die Erlösung, kann es, darf es sein? Die Räder der Maschine verkanten, etwas rastet lärmend ein, mit einem gewaltsamen Ruck kommt alles zum Stillstand, die Maschine, der Stern, das ganze All. Konsterniertes Schweigen, das All schaut strafend und schweigend auf mich herab, und ich begreife, ich habe einen furchtbaren, einen nie wieder gut zu machenden Fehler begangen. Auf meinem Fall ins Bodenlose schreit man mir einen letzten Satz nach, etwas von wollen und müssen und dürfen. Behäbig setzt die Maschinerie sich wieder in Bewegung, das Reden geht weiter, in unbegreiflichem Rhythmus. Und ich? Ich kann nicht mehr wollen, und ich will nicht mehr sollen, und ich kann jetzt nicht mehr. Ich kann gar nichts mehr.

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Schon von weitem sehe ich: Ein rötliches Leuchten ist um den Stern der Liebe, auf ihm pulsiert das Leben. Ich bin noch Meilen und Meilen entfernt, aber ich spüre bis hierhin die heimelige Wärme, die er ins All abgibt. Wie gerne ich dorthin möchte, dort, wo es warm ist, und wo Trost ist und Licht. Ein paar Zeilen eines Liedes huschen durch meine Erinnerung, und während ich schwebe, wiege ich die Hüften in Vorfreude: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“ Als ich mich dem Stern der Liebe nähere, erkenne ich, was dort wirklich los ist. Und ich erkenne, dass der Stern der Liebe eine einzige Wunde ist, eine Entzündung, in der es zuckt und fiebert und arbeitet. Vor Schreck und Ekel wird mir übel, ich möchte abdrehen und vorbeifliegen, doch es ist zu spät: Zu groß ist die Anziehungskraft, und ich werde rasend schnell angesogen von der stinkenden Wunde, der weichen Fäulnis. Oh bitte nicht, bitte nicht! Doch plötzlich wird, je näher ich komme, der Stern immer kleiner, und in dem Moment, da ich aufschlagen soll, da ist der Stern mein Herz. Und mein Herz, mein rohes, mein nacktes, mein lebendiges Herz zuckt in der Hand eines Dämons, der an einem Herd steht, in einer verschmutzten Küche. Fliegen surren wie von Sinnen, taumeln, verrecken im schwülen grauen Licht. Die Lippen des Dämons kräuseln sich zwischen den Haaren eines schütteren Bartes, er grinst. „Hu“ ruft er und schüttelt sich in gespieltem Entsetzen und wendet sich um zu zwei kleinen Mädchen, die sich erschrocken an die schmierige Spüle drücken, die Hände vorm Mund, die Augen weit aufgerissen. „Schaut nur, was für ein dreckiges Herz! Kinder, jetzt kochen wir Drecksuppe!“ Und mein Herz pocht und glitscht zwischen seinen Fingern über einem brodelnden Topf, aus dem es riecht wie Blut und Übelkeit. „Du bist nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch“, sagt er, und da bin ich nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch. Er darf nicht loslassen! Bitte, er darf nicht loslassen! Da lässt er los, und jemand schreit, und das bin ich, ich bin es, die da schreit! Ich flüchte, flüchte, und in meinen Ohren klingt noch einige Zeit das Kichern zweier kleiner Mädchen und ihre hellen Stimmchen: Papa, wann spielen wir wieder Drecksuppe kochen. Rötliche Hautfetzen wabern heiß um den Stern der Liebe und leuchten entzündet ins Dunkel. Es pumpt, es zuckt, es eitert und fault, und es kann nicht heilen. Niemals. Und das ist es, was auf dem Stern der Liebe wirklich passiert, und ich habe meine Kleinen geliebt und sie mich und liebe sie noch immer, und jetzt kochen sie Drecksuppe mit ihrem Vater. „Wenn wir uns im Tanze wiegen, ist mir so, als könnt ich fliegen, auf zu den Sternen, zum Himmel empor …“ Hinter mir verwehen schief und wie ein Weinen die letzten Töne eines Liedes.

Jeder hat seinen eigenen Weg … Der letzte Stern, den ich besuche, ist eine Stube, ich kenne sie gut. Sie riecht nach Staub und Holz und Sommer. Vormittags habe ich die Mama für mich alleine, ich glaube, es geht ihr schon besser, denn wir spielen Verstecken. Die Mama zählt. Ich stehe an der Wand hinter der offenen Wohnzimmertür und halte die Luft an. Ihre Stimme aus der Küche: „… achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig!“ Ich höre sie in der Speisekammer rascheln und beiße mir auf die Fingerknöchel: Jetzt nicht kichern, da findet sie mich ja gleich! Ihre Schritte, die sich der Stube nähern, jetzt kommt sie, sie kommt! Sie ist in der Mitte der Stube stehen geblieben, bestimmt steht sie da, schaut sich nach mir um und überlegt, wo sie mich suchen könnte. Stille, nur die Wanduhr tickt. Tickt und tickt und tickt … Die Luft, die ich angehalten habe, entweicht, ich luge um die Türkante. Die Mama hat die Hände auf eine Sessellehne gestützt. Das Ticken der Uhr, ungerührt. Ihr Blick. Zwei Fotos in dunklen Rahmen auf der Anrichte. Meine Brüder, so schick und erwachsen in ihrer Uniform! Sie sucht mich überhaupt nicht mehr. Warum sucht sie mich denn nicht mehr. Ich springe heraus, ich bin fröhlich, der Kloß in meinem Hals hat da gar nichts zu suchen. Ich bin schon fast ein Schulkind, keine Heulliese. „Mama, hier bin ich! Guck mal, hier bin ich!“ Ihr Lächeln, ihr Blick, aus dem ich wieder herausfalle und verloren gehe. Das Schlagwerk der Uhr schnarrt und bereitet sich zum Schlagen vor, das zehnfache „Dong!“ zittert in der Luft, tanzt mit den Staubkörnern in einem Sonnenstrahl. Mamas Blick schwebt über meinem Kopf aus der Stube, und wenn ich ein Vöglein wär, dann folgte ich ihrem Blick aus dem Fenster den Pflasterweg entlang auf die Straße ans andere Ende des Dorfes und durch ein Eisentörchen auf den Friedhof, weiter den Kiesweg entlang zu einem Rasenstück, wo zwei Birken, zwei junge, schön gewachsene, frisch gepflanzte Birken stehen, und weiter, immer weiter bis in ein Land, das ganz weit weg ist und Russland heißt. Wenn ich ein Vöglein wär, Mama?

III

Und dann habe ich all meine Sterne passiert. Ich hatte immer gedacht, im All ist es still, aber um mich ist ein feines hohes Summen, und plötzlich erkenne ich, was es ist. Dass ich nicht eher darauf gekommen bin! Ich habe es schon früher gehört, nachts, wenn es sonst ganz still war. Es ist die Zeit selbst, die da summt, und solange wir leben, hören wir sie nur als Ahnung eines Geräusches im Augenblick zwischen Wachsein und Schlaf, und nur manche von uns hören sie überhaupt.

Und aus all diesem ist das Summen der Zeit gemacht: Herzklopfen. Das Herzklopfen so vieler Generationen von Vorfahren. Einer Schwester. Eines Geliebten. Das Ticken einer Uhr in einem lange vergangenen Zimmer. Das ferne Bellen eines Hundes an einem Winterabend, immer desselben seit Anbeginn der Zeiten. Das jähe Rascheln des Windes, der in zwei Birken fährt. Die Schreie von Lerchen. Ein Choral aus dem Radio an einem Sonntagmorgen vor über vierzig Jahren; ein Messer ruckt durch ein Brötchen, schabt über Butter, Stimmen, Streit, ein Krümel fällt, fällt, fällt eine ewige Sekunde lang zu Boden, sein Fallen hallt jahrzehntelang im Ohr. Das Rollen der Ostsee, die Wellen drängen vorwärts und fließen zurück in der Dunkelheit hinter dem Ferienhaus, wo zwei kleine Mädchen längst in ihren Betten liegen. Sie sind den ganzen Nachmittag in ihren gelben Kleidchen die Dünen hochgerannt und wieder hinuntergerollt, und noch in dieser Nacht werden sich ihre runden braunen Gliedmaßen strecken und zu denen von Frauen werden. Die Zeit selbst gibt es nicht, es gibt nur, was sie anrichtet. Und die Zeit richtet an, dass jedes Kind lernt, etwas anderes zu können als zu lieben und etwas anderes zu wollen als geliebt zu werden.

Ein sanftes Wort, ein erster Schrei.

Die Zeit arbeitet und verdichtet sich, aus dem Summen wird ein Murmeln, aus dem Murmeln wird ein Tosen, das tief und mächtig in mir rauscht. Fragen, tausend Fragen wie das Murmeln eines Baches; von allen Seiten kommen neue Fragen, aus dem Bach wird ein Fluss wird ein Strom, der mündet ins Meer, und das Meer ist die Antwort. Und ich verstehe die Antwort und habe doch keine der Fragen verstanden. Es ist Zeit. Es ist gut.

Aus dem Dröhnen wird ein Grollen, aus dem Grollen wird ein Summen, das erstirbt, alle Zeit hört jetzt auf. Es ist still, endlich still. Ganz entfernt noch ein paar Sternenschlieren, Funken, die zerstieben, der letzte Funke erlischt und jetzt der allerletzte ein schwächliches Verglühen im All jetzt kaum noch auf der Netzhaut und jetzt nur noch Erinnerung an das Verglühen und weiter vorne kommt nichts mehr ich weiß nichts mehr und bin jetzt an allem, an allem vorbei. Ich bin jetzt

Vorbei, es war vorbei. Sie war vorbei. Kein Ein, kein Aus. Sie war vorbei und fort von mir und allen Dingen. Ihr Buch, ihre Brille, ihre Hände, ihr Gesicht. Ihr Gesicht, so geschafft, endlich geschafft. Ich nahm nach einer Weile die Dinge, die nicht mehr ihre waren und packte sie in die Tasche, die nicht mehr ihre war und trug sie aus dem Zimmer, den Flur entlang und fort von ihr. Ich stand mit der Tasche, die niemandem gehörte, im Freien, ein Wind fuhr in die Birken, die den Weg zum Parkplatz säumten. Und tief in meinem überraschten Herzen, da, wo das Liebhaben und das Traurigsein am meisten wehtun, zerbarst ein Schloss, und es öffnete sich mit Gewalt und Getöse und viel zu spät der verfluchte Tresor, und sein Inhalt quoll mir entgegen: Alles für mich, für mich ganz allein.

Ein paar Wochen später löste ich ihre Wohnung auf. Das war nicht die stille Einkehr, die Begegnung, das Zwiegespräch mit ihr, das ich mir für diese Aufgabe immer vorgestellt hatte. Es war packen, räumen, aussortieren. Es war erledigen, organisieren, telefonieren. Mit der Sparkasse. Mit den Versicherungen. Mit der Entrümplungsfirma. Und es waren ihre Augen, die mich aus einer Zimmerecke ansahen, wann immer ich etwas wegwarf. Ich warf vieles weg, sie hatte keine Schätze gehabt bis auf einen einzigen, und aus dem pickte sich der Buchhändler vom Antiquariat noch ein paar Brocken heraus und gab mir sechzig Euro dafür. An diesem Freitag war ich nach der Arbeit noch lange in der Wohnung gewesen, wenn ich mich ranhielt, würde ich am Wochenende fertig werden. Das Sofa und einige andere Dinge würden morgen die Kollegen von der Arbeitslosenhilfe abholen, doch vorerst lag ich rücklings darauf, erschöpft vom Wühlen und Schleppen, mit meiner Tasche als Kissen unter dem Kopf. Mein Blick fiel durch die geöffnete Terrassentür in den Garten. Draußen feierte der Sommer ein Fest, das ganz große Schauspiel, die ganz große Sinfonie. Da! Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter auf der Terrasse lagen. Plötzlich hielt es inne und saß mit erhobenem Köpfchen ganz still da, lauschte, witterte, huschte schließlich davon und verschwand in der Dämmerung, ein geschmeidiger brauner Schatten. Niedlicher kleiner Kerl, dachte ich und musste eingeschlafen sein, denn im nächsten Augenblick stand meine Mutter auf der Terrasse, genau da, wo das Eichhörnchen nach Kernen gesucht hatte. Sie hatte eine Hand an eine Leiter gelegt, die neben ihr stand und so hoch aufragte, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Sie schaute mich an und schaute an der Leiter hoch und lächelte. „Was willst du denn mit der Leiter?“ fragte ich sie. „Was ist denn da oben?“
„Nichts“, sagte sie. „Gar nichts.“
Wieder sah sie mich an, und wieder lächelte sie auf diese liebe und ein wenig ironische Art, als kenne sie ein schönes Geheimnis. „Weißt du noch“, fragte sie mich „als ich damals mein Hörgerät bekam?“
Ich war verdutzt. Warum fing sie jetzt mit ihrem Hörgerät an?
„Du hattest mich abgeholt an dem Nachmittag“, fuhr sie fort. „Wir waren spazieren, weißt du noch, den Feldweg entlang, den wir manchmal gegangen sind. Da habe ich zum ersten Mal seit Jahren die Lerchen wieder singen hören. Ich hatte doch gedacht, es gibt gar keine mehr. Bist du traurig, meine Kleine?“ Und ihr Blick suchte mich, und ihr Lächeln meinte mich.
Ich sah sie an. Ich sah sie an, und dann sagte ich es ihr. Dass ich das mit den Lerchen noch wusste und nur vergessen hatte. Dass dies nur ein Traum war, aber ich, ich träumte ihn ja, und so war er doch wahr. Das jedes Kind mit dem Herzen wie dem einer Lerche geboren wird, die mit einem Jubelschrei ins Nachmittagsblau des Sommers steigt. Dass wir alle uns schuldig machen, immer wieder, und dass es niemals Schuld ist. Und dass die Antwort Ja ist.

Dann wachte ich auf, und eine Traurigkeit und ein Glück überfielen mich mit solcher Wucht, dass sie von jeder meiner Zellen Besitz ergriffen und ich aus ihnen bestand und aus nichts sonst. Tränen liefen mir die Schläfen hinab in die Haare, ich war schwer wie ein Fels, und ich rührte mich nicht. Eine Ewigkeit später stand ich auf, ging in die Küche und trank Wasser aus meinen hohlen Händen, trank in langen, durstigen Zügen.
 

fraulange

Mitglied
Hier also nun die Erzählung in voller Länge.

Sie schildert, wie eine Tochter und eine Mutter das Sterben der Mutter erleben. Da kommen viele, auch bittere Erinnerungen hoch ... Aus ganz unterschiedlicher Perspektive spüren beide, Mutter wie Tochter, Konflikten, Erwartungen und Sehnsüchten nach.

Falls sich der eine oder andere von Euch die Mühe machen möchte, die Geschichte zu lesen, dann bin ich besonders dankbar für einen Tipp zu meinem Dilemma, ob man vielleicht auch Abschnitte weglassen kann und die Geschichte mit ihrer Botschaft trotzdem noch funktioniert. Funktioniert sie überhaupt? Entmutigt den Leser nicht schon die Länge an sich? Trotz aller Bedenken: Viel Freude beim Lesen!


Das Herz der Lerche

I

Der Feierabend. Das Telefon. Der Rufton ins Leere, immer wieder. Es wird doch nichts passiert sein? Ach was, vielleicht hat sie ihr Hörgerät nicht drin, oder der Akku vom Telefon ist mal wieder alle.

Der Feierabend. Die Müdigkeit. Wird schon nichts passiert sein.

Der Morgen. Das Telefon. Der Rufton, immer wieder. Die Fahrt. Der Schlüssel. Die Wohnung. Die Terrasse. Ihr Körper, ihr Mund, das Lallen. Die Sirenen. Das Blaulicht. Die Nachbarin: Ich dachte doch … Ich weiß. Ich dachte auch. Wird schon nichts passiert sein.

Da habe ich mich so oft gefragt, wie es wohl sein wird einmal, was für ein Tag wird es sein, ein Sonntag, ein Dienstag? Was für ein Tag wird es sein, und kann es ein Wetter für ihn geben wie für jeden anderen Tag auch? Und dann ist der Tag da, es ist irgendeiner. Vielleicht wird es an einem Abend geschehen, an dem der Sommer vorsichtig und wie zur Probe duftet, die Luft noch voller Kühle, ein paar Wolken, ihr Grau zerrissen und an den Rändern lohfarben. Eben stand ich noch vor dem Abreißkalender in der Küche und schaute mir das neue Datum an; ich mache das immer schon am Vorabend. Ich dachte noch, was für ein merkwürdiges Datum. Zweiundachtzig Mal war es an mir vorbei gestrichen, ohne dass ich etwas Besonderes gedacht oder gefühlt hatte, ich hatte gespielt oder den Abwasch gemacht, ein Buch gelesen oder einen Brief geschrieben. Und jetzt sollte es ein so wichtiges Datum sein. Merkwürdig, dass ich das dachte. Die Terrassentür stand offen, ich hörte draußen ein Geräusch, ein leises Scharren, und ging hin, um nachzuschauen. Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter unter dem Vogelhäuschen lagen. Als ich näher kam, huschte es davon und verschwand in der Dämmerung. Die Sonnenblumenkerne müssten endlich mal weggefegt werden, dachte ich, und: Ist doch schon bald Sommer. Ich spähte über den Rasen zu den Fichten, dorthin, wo die Schatten sich zur Nacht versammelten, aber das Tier war fort, und ich fröstelte auf einmal, und mir war seltsam im Kopf und schwindelig. Und im nächsten Moment ist da eine Leiter gewesen, mitten auf meiner Terrasse! Die ist hoch, so hoch gewesen, dass ich das Ende gar nicht sehen konnte, und ist verschwunden in den Wolken. Da hab ich’s gleich gewusst und bin emporgestiegen und habe gedacht, da bin ich so eine alte Frau, und es ist so leicht, diese Leiter hochzusteigen. Höher, immer höher! Und ist oben ein Wagen gekommen und hat mich und andere mitgenommen, und sind welche betrübt gewesen und haben laut geweint, und haben welche ganz still geweint und welche gar nicht. Ich aber, ich bin vergnügt gewesen: Weiter, nur immer weiter! Und hat nach einiger Zeit der Wagen angehalten, und ist jeder für sich weitergeflogen, denn jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne.

Brauchst keine Angst zu haben, Mama, sagt jemand. Nein, oh nein, ich habe keine Angst. Jetzt weiß ich es wieder: Ich bin in einem Krankenhaus, mein Kind ist da, und es war eine ganz leichte Geburt! Hinter dem Fenster wird es Nacht. Ein Wortspiel kommt mir in den Sinn: Das Leben ist eine schwere Geburt. Das Sterben aber ist leicht. Da will ich lieber weiter sterben. Weiter, immer weiter geht meine Reise hinaus aus dem Fenster und vorbei an den Sternen.

Hast du Schmerzen, Mama, fragt mich jemand. Ja, ich habe Schmerzen, aber es tut nicht mehr weh. Ich bin längst am Schmerzstern vorbei und am Angststern und am Durststern, das ging so schnell und war es wert. Per aspera ad nihil. Durch die Bitterkeit ins Nichts. Ich freu mich so auf das Nichts! Bald werde ich hinter allen Sternen gut versteckt sein, und niemand wird mich finden, und ihr, ihr könnt mich suchen, solang ihr lustig seid. Lustig, ihr wart immer lustig miteinander und lachtet, und bei euch klang es so einfach. Und ich wollte mitlachen, fand aber bald, dass es viel schwerer war als ich gedacht hatte. Rhythmus und Melodie wollten mir nicht gelingen. Ich hörte, wie falsch mein Lachen geriet und lachte und dachte, das kann doch nicht so schwierig sein, warum kann ich das nicht, ich kann nicht mal das, ich kann gar nichts! Und da schämte ich mich, und das Schämen und das Lachenwollen taten mir so weh in Hals und Herz. Ich hab mein Herz kaputtgelacht, ich hab mein Hirn kaputtgedacht. Das Lachen ist eine schwere Geburt, sterben aber, sterben kann jeder.


II

Ich hätte nie gedacht, dass es auf einer Intensivstation so laut ist. Nicht dass ich jemals groß darüber nachgedacht hatte. Kein zurückhaltendes Piepsen einzelner Geräte, kein stilles Hin- und Herhuschen der Schwestern und Pfleger, hier wurde nicht geflüstert. Hier wurde gerufen und gerannt und geräumt, hier schepperte und rumste es. Ist ja auch logisch, dachte ich, die machen hier ihre Arbeit, die machen hier einen richtig schweren Job.

„Brauchst keine Angst zu haben, Mama“, sagte ich. „ Ich bin da.“ Und: „Hast du Schmerzen, Mama?“

Meiner Mutter war bewusst, dass sie im Krankenhaus lag. „Gut, dass die Elisabeth Krankenschwester ist, die wusste gleich, was zu tun war, als es losging mit den Wehen“, sagte sie. Die Elisabeth, ihre Schwägerin, seit fünfzehn Jahren tot. Ganz hinten in meiner Kehle kitzelten ein Lachen und ein Weinen um die Wette. Ich lachte. „Mit den Wehen?“ „Ja“ sagte sie, und ich versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber das ließ sich schwierig an, weil das Bett so hoch war, ich konnte mich nicht zu ihr setzen, also nahm ich ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Und dann erzählte sie mir, wie die Geburt verlaufen und wer schon zu Besuch gewesen war: Alle, alle waren da gewesen, der Piet und die Suse und die Elke, Verwandte und Freunde, Lebende und Verstorbene, und sogar eine Katze war gekommen! – ja, auch frühere Haustiere reihten sich in diese Besucherscharen ein. Schließlich sagte sie, ich solle ihre Eltern grüßen und ihnen ausrichten, alles sei gut gegangen. Das versprach ich ihr, und das war das letzte, was wir zueinander sagten.

Bis zum Mittag hatte ich alle angerufen. Siebenhundert Kilometer weiter südlich machte sich meine Schwester auf den Weg. Die Frau meines Vaters hatte sofort angefangen zu weinen und meinen Vater ans Telefon geholt. Der Einweg-Schutzkittel aus grünem Vlies, vor der Tür zur Intensivstation hastig gegriffen, war vorne offen. „Ich hab das hier verkehrt rum an, oder“, fragte ich die Schwester. Sie lachte und nickte, ich lachte auch. Und brach in Tränen aus. Am Nachbarbett keuchte ein Atemgerät.

„Das eigentlich Schlimme ist die Hirnschwellung. Wir könnten die Schädeldecke öffnen und eine Operation versuchen, aber bei den Schäden …“ der Satz des jungen Arztes blieb in der Luft hängen. Ich schaute die Stelle in der Luft an, wo er ungefähr hängen musste, der Satz, dann schaute ich den Arzt wieder an.
„Was würden Sie tun, wenn es Ihre Mutter wäre, mit so einer Patientenverfügung?“ fragte ich ihn.
„Ganz ehrlich?“ sagte er. Und dann gab es nichts mehr zu tun als weiter bei ihr zu sitzen.

Ganz ehrlich. Dass es mir jedes Mal unangenehm war, wenn sie mich nach einem Besuch bei ihr nach draußen begleitete, um mir mit einem verrutschten Lächeln hinterherzuwinken. Dass ich erleichtert war, wenn ich ihre Gestalt im Rückspiegel kleiner werden sah. Dass der letzte Satz eine Lüge war und ich nie in den Rückspiegel schaute. Dass ich mich ausgelaugt und leergesogen fühlte, wenn ich von ihr kam. Und trotzdem immer wieder zu ihr kam, wie hätte ich nicht kommen sollen? Ich kam immer wieder, zu ihren Brotscheiben vom Vorvortag, zu ihrer Halbfettmargarine, zu ihrem Käse, der an den Rändern hart und glasig war, zu den Abendbrotbrettchen mit dem Siebzigerjahremuster. Zum Ticken der Wanduhr, von ihrem Vater geerbt, einem langsamen, schwermütigen und zuletzt völlig verkalkten Mann. Zu jeder halben Stunde schnarrten die Eingeweide der Uhr und bereiteten sich zum Schlagen vor. Die Uhr schlug halb sechs, schlug um sechs, schlug halb, schlug um, halb um die Zeit, Tagesschau, halb neun, dann will ich mal so langsam. Ach, schon? Wie schade. Ja, wie schade. Ganz ehrlich. Dass ich sie anschrie, an einem Weihnachtsabend: Für das, was sie immer so poetisch „das schwere Erbe meines Vaters“ nannte, gab es einen klinischen Begriff, und es war behandelbar, schon mal davon gehört! Mein Gott, sie war doch nicht die einzige Frau auf der Welt, die von ihrem Mann betrogen und verlassen worden war, oder die den Krieg erlebt hatte! Wollte sie nicht oder konnte sie nicht, und gab es einen Unterschied zwischen Nichtkönnenwollen und Nichtwollenkönnen? Dann geht doch zu eurem lustigen Vater. Und dann, mitten im Streit, stellte sie mir mit dem feinen Instinkt des Opfers für den falschen Zeitpunkt ihre Frage. Mein Gott, sie hätte mich besser kennen sollen, ich konnte nicht lügen, das wusste sie genau, ich fühlte kein Ja und ich fühlte kein Nein. Mein Zögern war ihr Antwort genug. Nach zwanzig endlosen Sekunden sagte ich: Ich will dich nicht lieben müssen, ich will dich lieben dürfen. Verflucht und frohes Fest, ganz ehrlich.

Überhaupt, die Liebe! Was die alles leisten sollte bei uns zuhause. Da wäre der fleißigste Sklave überfordert gewesen. Dabei war ja immer genug da! Im Keller hat, seit ich klein war, ein Tresor gestanden, der war randvoll mit Liebe. Bloß, das Schloss hat geklemmt, und keiner kam ran. Wir haben gerüttelt und gezerrt, und schließlich haben wir uns aufs Schreien verlegt. Aufs Anschreien, aufs Rausschreien, aufs Fordern. Jeder hat gehofft, wenn er am lautesten brüllt, dann bekommt er ein Stück von der Liebe. Ich wusste immer, sie war da, aber ich kam nicht dran, ich fühlte sie nicht. Ich hatte keine Schuld, und meine Schuld war unermesslich.

Es wurde Nachmittag. Auf der Intensivstation konnte man nichts mehr für sie tun, und andere Patienten brauchten den Platz dringender. Hier, im zarten Olivgrün eines gewöhnlichen Stationszimmers, würde sie sterben. Für jeden Menschen gibt es einen Ort zum Sterben, dieser war ihrer. Sie lag im medikamentösen Tiefschlaf, ohne Angst, ohne Schmerzen, wie ich hoffte und betete zu ich-weiß-nicht-wem. Wo liegt mein Ort zum Sterben, dachte ich, wie sieht er aus? Gibt es ihn schon, ist das Haus, ist das Zimmer gebaut?

Ihr Hörgerät, ihre Brille, ihr Buch. Ein paar Dinge auf dem Nachttisch, die ich heute Morgen eilig zusammengesucht hatte. Wann war das gewesen, vor drei Stunden, vor hundert Jahren? Genährt von welcher Hoffnung? Sie war nie ohne Buch gewesen, niemals.

Das Bücherregal, das Herz des Wohnzimmers, seit ich denken konnte. Franz Kafkas betrübte Miene auf der Werkausgabe blickte aus dem Bücherregal auf meine Kinderspiele herab. Kafka hatte, das wussten wir früh, an seinem Vater gelitten, hatte an sich und der Welt gelitten. Wir Kinder, heimlich auch unser Vater, machten uns über seine abstehenden Ohren lustig. Sie mochte es, wenn Menschen … Nein, der Satz war ja ganz verkehrt, das durfte man doch nicht einmal denken! Noch einmal: Sie mochte Menschen, die litten. Kurt Tucholsky, schwerkrank und irre geworden am Unrecht seiner Zeit, vergiftete sich. Heinrich Heine, Jahre dahinsiechend in seiner Matratzengruft! Oder die Juden … Ja, die Juden. Sie liebte diese Menschen, liebte sie auf Friedhöfen, an Gedenkstätten, in Dichterhäusern. Sie schenkte ihnen, den Opfern, ihre wohlverdiente Achtung, ihre Liebe und Bewunderung. Die Welt, ein Stück gerechter. Sie selbst, getröstet für den Augenblick. Und wenn ihre Kinder unglücklich gewesen wären? Nur ein bisschen, ein kleines bisschen unglücklicher? Nicht einmal denken durfte man doch so etwas! Aber wenn, aber wenn … dann wäre sie nicht so mutterseelen-, so kinderseelenalleine gewesen.

Zwischen all den Büchern wohnten in unserem Bücherregal auch zwei Hunde, ein schwarzer und ein weißer Terrier, ein Mitbringsel von irgendjemandem. Sie waren kaum länger als mein kleiner Finger, in ihren Plastikleibern waren Magnete verborgen. Der Spaß bestand darin, dass, wenn man auf der Tischplatte den einen auf den anderen zuschob, dieser sich im letzten Moment blitzschnell drehte, so dass die beiden aneinander hingen, die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen. Ich aber konnte mich lange mit dem Versuch beschäftigen, ihre Schnauzen zusammenzubringen, was natürlich nie gelingen konnte, da an dieser Stelle die Magneten einander abstießen. In jeder Faust eines der beiden Hündchen haltend, sah ich zu, wie mal die eine und mal die andere Hundeschnauze nach oben oder nach unten wegrutschte. Die beiden Hunde, der schwarze und der weiße, waren nur mit Gewalt dazu zu bewegen, sich in die Augen zu schauen. Später, viel später übten sie und ich uns im gleichen Spiel. Sie rutschte mir immer wieder nach oben oder nach unten weg. War ich der Schwarze? Der Weiße? Ihre Moral oder mein Mitleid, ich hatte die Wahl. Nur mit Gewalt und nur scheinbar ließen sich unsere Blicke zusammenzwingen, im Streit, im Verletzen, im Immer-Lauter-Schreien: Sieh mich an. Sieh mich an! SIEH MICH VERDAMMT NOCH MAL NUR EINMAL, EINMAL RICHTIG AN!!! Ich wollte Schwarz und Weiß mischen zu tausend Grautönen, die dann vor Farbe explodieren würden, ich wollte ihr beweisen, wie es sein konnte zwischen uns, ich wusste, wusste, es war möglich, sie musste, musste, MUSSTE! es doch sehen.

Ihr Schwarz barg keine Hoffnung, sie wusste, es war niemals möglich. Ihr Weiß blieb strahlend.

Der Abend. Der Stationsarzt hatte sich nur mühsam überreden lassen, ihre Patientenverfügung zu lesen, sein Tonfall war der eines genervten Oberkellners gewesen, der keine Lust hat, meine Bestellung aufzunehmen. „Gut, Schmerz- und Beruhigungsmittel ja, künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe nein.“ Ich heulte. „Aber dann bestätigen Sie mir bitte schriftlich, dass Sie es in Kauf nehmen, wenn Ihre Mutter verhungert und verdurstet.“ Ich saß wieder am Bett meiner Mutter und nahm in Kauf, dass sie verhungerte und verdurstete. Das Verhungern und Verdursten sah friedlich aus. Ich sah ihr beim Verhungern und Verdursten zu, beim Einatmen und Ausatmen und dachte daran, wie sie mir alles Glück, das in ihr war, in den ersten Jahren ins Fläschchen gefüllt, in den Brei gerührt, mit der Marmelade aufs Graubrot geschmiert, die Scheiben halbiert und geviertelt und alles an mich verfüttert hatte. Ich hatte, wie Kinder es tun, mit hungrigem Schnabel verputzt, soviel eben da war.

Einatmen, Ausatmen. Ein. Aus. Noch. Nicht -

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Auf dem Stern des Streites befindet sich ein großer Gerichtssaal, in dessen Mitte auf einem Podest eine Maschine thront. Ihre Zahnräder bewegen sich in unbegreiflichem Rhythmus, manche mit trägem Schwung, manche hektisch flimmernd. Die Maschine produziert verwirrende Sätze, die mir um die Ohren fliegen. Ich soll antworten, es geht aber viel zu schnell, meine Antworten sind hilflos, abwehrend. Eine Serie von Hammerschlägen wie auf Metall begleitet jeden Satz, der Lärm ist kaum zu ertragen und bohrt sich in mein Hirn. Du sollst wollen. Ich will nicht. Aber du sollst wollen können. Ich kann nicht. Aber wir wollen, dass du wollen dürfen kannst! Was für ein Strafgericht. Mitten in meiner Verwirrung nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen, ich weiß, hohes Gericht, es ist der falsche Zeitpunkt, ich bin für eine ehrliche Antwort gar nicht gewappnet. Aber wenn ich schon dürfen soll, Hohes Gericht, dann möchte ich nur eines erfahren. Und dann steht die Frage im Raum. Als sie noch in mir war, erschien sie mir wie etwas Großes. Aber nun, da sie entblößt und zitternd im Raum steht, wirkt sie dürftig und bedürftig. Erbärmlich. Ich halte den Atem an, mein Herz pocht angstvoll, und doch auch voller Hoffnung: Das Zauberwort und endlich die Erlösung, kann es, darf es sein? Die Räder der Maschine verkanten, etwas rastet lärmend ein, mit einem gewaltsamen Ruck kommt alles zum Stillstand, die Maschine, der Stern, das ganze All. Konsterniertes Schweigen, das All schaut strafend und schweigend auf mich herab, und ich begreife, ich habe einen furchtbaren, einen nie wieder gut zu machenden Fehler begangen. Auf meinem Fall ins Bodenlose schreit man mir einen letzten Satz nach, etwas von wollen und müssen und dürfen. Behäbig setzt die Maschinerie sich wieder in Bewegung, das Reden geht weiter, in unbegreiflichem Rhythmus. Und ich? Ich kann nicht mehr wollen, und ich will nicht mehr sollen, und ich kann jetzt nicht mehr. Ich kann gar nichts mehr.

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Schon von weitem sehe ich: Ein rötliches Leuchten ist um den Stern der Liebe, auf ihm pulsiert das Leben. Ich bin noch Meilen und Meilen entfernt, aber ich spüre bis hierhin die heimelige Wärme, die er ins All abgibt. Wie gerne ich dorthin möchte, dort, wo es warm ist, und wo Trost ist und Licht. Ein paar Zeilen eines Liedes huschen durch meine Erinnerung, und während ich schwebe, wiege ich die Hüften in Vorfreude: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“ Als ich mich dem Stern der Liebe nähere, erkenne ich, was dort wirklich los ist. Und ich erkenne, dass der Stern der Liebe eine einzige Wunde ist, eine Entzündung, in der es zuckt und fiebert und arbeitet. Vor Schreck und Ekel wird mir übel, ich möchte abdrehen und vorbeifliegen, doch es ist zu spät: Zu groß ist die Anziehungskraft, und ich werde rasend schnell angesogen von der stinkenden Wunde, der weichen Fäulnis. Oh bitte nicht, bitte nicht! Doch plötzlich wird, je näher ich komme, der Stern immer kleiner, und in dem Moment, da ich aufschlagen soll, da ist der Stern mein Herz. Und mein Herz, mein rohes, mein nacktes, mein lebendiges Herz zuckt in der Hand eines Dämons, der an einem Herd steht, in einer verschmutzten Küche. Fliegen surren wie von Sinnen, taumeln, verrecken im schwülen grauen Licht. Die Lippen des Dämons kräuseln sich zwischen den Haaren eines schütteren Bartes, er grinst. „Hu“ ruft er und schüttelt sich in gespieltem Entsetzen und wendet sich um zu zwei kleinen Mädchen, die sich erschrocken an die schmierige Spüle drücken, die Hände vorm Mund, die Augen weit aufgerissen. „Schaut nur, was für ein dreckiges Herz! Kinder, jetzt kochen wir Drecksuppe!“ Und mein Herz pocht und glitscht zwischen seinen Fingern über einem brodelnden Topf, aus dem es riecht wie Blut und Übelkeit. „Du bist nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch“, sagt er, und da bin ich nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch. Er darf nicht loslassen! Bitte, er darf nicht loslassen! Da lässt er los, und jemand schreit, und das bin ich, ich bin es, die da schreit! Ich flüchte, flüchte, und in meinen Ohren klingt noch einige Zeit das Kichern zweier kleiner Mädchen und ihre hellen Stimmchen: Papa, wann spielen wir wieder Drecksuppe kochen. Rötliche Hautfetzen wabern heiß um den Stern der Liebe und leuchten entzündet ins Dunkel. Es pumpt, es zuckt, es eitert und fault, und es kann nicht heilen. Niemals. Und das ist es, was auf dem Stern der Liebe wirklich passiert, und ich habe meine Kleinen geliebt und sie mich und liebe sie noch immer, und jetzt kochen sie Drecksuppe mit ihrem Vater. „Wenn wir uns im Tanze wiegen, ist mir so, als könnt ich fliegen, auf zu den Sternen, zum Himmel empor …“ Hinter mir verwehen schief und wie ein Weinen die letzten Töne eines Liedes.

Jeder hat seinen eigenen Weg … Der letzte Stern, den ich besuche, ist eine Stube, ich kenne sie gut. Sie riecht nach Staub und Holz und Sommer. Vormittags habe ich die Mama für mich alleine, ich glaube, es geht ihr schon besser, denn wir spielen Verstecken. Die Mama zählt. Ich stehe an der Wand hinter der offenen Wohnzimmertür und halte die Luft an. Ihre Stimme aus der Küche: „… achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig!“ Ich höre sie in der Speisekammer rascheln und beiße mir auf die Fingerknöchel: Jetzt nicht kichern, da findet sie mich ja gleich! Ihre Schritte, die sich der Stube nähern, jetzt kommt sie, sie kommt! Sie ist in der Mitte der Stube stehen geblieben, bestimmt steht sie da, schaut sich nach mir um und überlegt, wo sie mich suchen könnte. Stille, nur die Wanduhr tickt. Tickt und tickt und tickt … Die Luft, die ich angehalten habe, entweicht, ich luge um die Türkante. Die Mama hat die Hände auf eine Sessellehne gestützt. Das Ticken der Uhr, ungerührt. Ihr Blick. Zwei Fotos in dunklen Rahmen auf der Anrichte. Meine Brüder, so schick und erwachsen in ihrer Uniform! Sie sucht mich überhaupt nicht mehr. Warum sucht sie mich denn nicht mehr. Ich springe heraus, ich bin fröhlich, der Kloß in meinem Hals hat da gar nichts zu suchen. Ich bin schon fast ein Schulkind, keine Heulliese. „Mama, hier bin ich! Guck mal, hier bin ich!“ Ihr Lächeln, ihr Blick, aus dem ich wieder herausfalle und verloren gehe. Das Schlagwerk der Uhr schnarrt und bereitet sich zum Schlagen vor, das zehnfache „Dong!“ zittert in der Luft, tanzt mit den Staubkörnern in einem Sonnenstrahl. Mamas Blick schwebt über meinem Kopf aus der Stube, und wenn ich ein Vöglein wär, dann folgte ich ihrem Blick aus dem Fenster den Pflasterweg entlang auf die Straße ans andere Ende des Dorfes und durch ein Eisentörchen auf den Friedhof, weiter den Kiesweg entlang zu einem Rasenstück, wo zwei Birken, zwei junge, schön gewachsene, frisch gepflanzte Birken stehen, und weiter, immer weiter bis in ein Land, das ganz weit weg ist und Russland heißt. Wenn ich ein Vöglein wär, Mama?

III

Und dann habe ich all meine Sterne passiert. Ich hatte immer gedacht, im All ist es still, aber um mich ist ein feines hohes Summen, und plötzlich erkenne ich, was es ist. Dass ich nicht eher darauf gekommen bin! Ich habe es schon früher gehört, nachts, wenn es sonst ganz still war. Es ist die Zeit selbst, die da summt, und solange wir leben, hören wir sie nur als Ahnung eines Geräusches im Augenblick zwischen Wachsein und Schlaf, und nur manche von uns hören sie überhaupt.

Und aus all diesem ist das Summen der Zeit gemacht: Herzklopfen. Das Herzklopfen so vieler Generationen von Vorfahren. Einer Schwester. Eines Geliebten. Das Ticken einer Uhr in einem lange vergangenen Zimmer. Das ferne Bellen eines Hundes an einem Winterabend, immer desselben seit Anbeginn der Zeiten. Das jähe Rascheln des Windes, der in zwei Birken fährt. Die Schreie von Lerchen. Ein Choral aus dem Radio an einem Sonntagmorgen vor über vierzig Jahren; ein Messer ruckt durch ein Brötchen, schabt über Butter, Stimmen, Streit, ein Krümel fällt, fällt, fällt eine ewige Sekunde lang zu Boden, sein Fallen hallt jahrzehntelang im Ohr. Das Rollen der Ostsee, die Wellen drängen vorwärts und fließen zurück in der Dunkelheit hinter dem Ferienhaus, wo zwei kleine Mädchen längst in ihren Betten liegen. Sie sind den ganzen Nachmittag in ihren gelben Kleidchen die Dünen hochgerannt und wieder hinuntergerollt, und noch in dieser Nacht werden sich ihre runden braunen Gliedmaßen strecken und zu denen von Frauen werden. Die Zeit selbst gibt es nicht, es gibt nur, was sie anrichtet. Und die Zeit richtet an, dass jedes Kind lernt, etwas anderes zu können als zu lieben und etwas anderes zu wollen als geliebt zu werden.

Ein sanftes Wort, ein erster Schrei.

Die Zeit arbeitet und verdichtet sich, aus dem Summen wird ein Murmeln, aus dem Murmeln wird ein Tosen, das tief und mächtig in mir rauscht. Fragen, tausend Fragen wie das Murmeln eines Baches; von allen Seiten kommen neue Fragen, aus dem Bach wird ein Fluss wird ein Strom, der mündet ins Meer, und das Meer ist die Antwort. Und ich verstehe die Antwort und habe doch keine der Fragen verstanden. Es ist Zeit. Es ist gut.

Aus dem Dröhnen wird ein Grollen, aus dem Grollen wird ein Summen, das erstirbt, alle Zeit hört jetzt auf. Es ist still, endlich still. Ganz entfernt noch ein paar Sternenschlieren, Funken, die zerstieben, der letzte Funke erlischt und jetzt der allerletzte ein schwächliches Verglühen im All jetzt kaum noch auf der Netzhaut und jetzt nur noch Erinnerung an das Verglühen und weiter vorne kommt nichts mehr ich weiß nichts mehr und bin jetzt an allem, an allem vorbei. Ich bin jetzt

Vorbei, es war vorbei. Sie war vorbei. Kein Ein, kein Aus. Sie war vorbei und fort von mir und allen Dingen. Ihr Buch, ihre Brille, ihre Hände, ihr Gesicht. Ihr Gesicht, so geschafft, endlich geschafft. Ich nahm nach einer Weile die Dinge, die nicht mehr ihre waren und packte sie in die Tasche, die nicht mehr ihre war und trug sie aus dem Zimmer, den Flur entlang und fort von ihr. Ich stand mit der Tasche, die niemandem gehörte, im Freien, ein Wind fuhr in die Birken, die den Weg zum Parkplatz säumten. Und tief in meinem überraschten Herzen, da, wo das Liebhaben und das Traurigsein am meisten wehtun, zerbarst ein Schloss, und es öffnete sich mit Gewalt und Getöse und viel zu spät der verfluchte Tresor, und sein Inhalt quoll mir entgegen: Alles für mich, für mich ganz allein.

Ein paar Wochen später löste ich ihre Wohnung auf. Das war nicht die stille Einkehr, die Begegnung, das Zwiegespräch mit ihr, das ich mir für diese Aufgabe immer vorgestellt hatte. Es war packen, räumen, aussortieren. Es war erledigen, organisieren, telefonieren. Mit der Sparkasse. Mit den Versicherungen. Mit der Entrümplungsfirma. Und es waren ihre Augen, die mich aus einer Zimmerecke ansahen, wann immer ich etwas wegwarf. Ich warf vieles weg, sie hatte keine Schätze gehabt bis auf einen einzigen, und aus dem pickte sich der Buchhändler vom Antiquariat noch ein paar Brocken heraus und gab mir sechzig Euro dafür. An diesem Freitag war ich nach der Arbeit noch lange in der Wohnung gewesen, wenn ich mich ranhielt, würde ich am Wochenende fertig werden. Das Sofa und einige andere Dinge würden morgen die Kollegen von der Arbeitslosenhilfe abholen, doch vorerst lag ich rücklings darauf, erschöpft vom Wühlen und Schleppen, mit meiner Tasche als Kissen unter dem Kopf. Mein Blick fiel durch die geöffnete Terrassentür in den Garten. Draußen feierte der Sommer ein Fest, das ganz große Schauspiel, die ganz große Sinfonie. Da! Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter auf der Terrasse lagen. Plötzlich hielt es inne und saß mit erhobenem Köpfchen ganz still da, lauschte, witterte, huschte schließlich davon und verschwand in der Dämmerung, ein geschmeidiger brauner Schatten. Niedlicher kleiner Kerl, dachte ich und musste eingeschlafen sein, denn im nächsten Augenblick stand meine Mutter auf der Terrasse, genau da, wo das Eichhörnchen nach Kernen gesucht hatte. Sie hatte eine Hand an eine Leiter gelegt, die neben ihr stand und so hoch aufragte, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Sie schaute mich an und schaute an der Leiter hoch und lächelte. „Was willst du denn mit der Leiter?“ fragte ich sie. „Was ist denn da oben?“
„Nichts“, sagte sie. „Gar nichts.“
Wieder sah sie mich an, und wieder lächelte sie auf diese liebe und ein wenig ironische Art, als kenne sie ein schönes Geheimnis. „Weißt du noch“, fragte sie mich „als ich damals mein Hörgerät bekam?“
Ich war verdutzt. Warum fing sie jetzt mit ihrem Hörgerät an?
„Du hattest mich abgeholt an dem Nachmittag“, fuhr sie fort. „Wir waren spazieren, weißt du noch, den Feldweg entlang, den wir manchmal gegangen sind. Da habe ich zum ersten Mal seit Jahren die Lerchen wieder singen hören. Ich hatte doch gedacht, es gibt gar keine mehr. Bist du traurig, meine Kleine?“ Und ihr Blick suchte mich, und ihr Lächeln meinte mich.
Ich sah sie an. Ich sah sie an, und dann sagte ich es ihr. Dass ich das mit den Lerchen noch wusste und nur vergessen hatte. Dass dies nur ein Traum war, aber ich, ich träumte ihn ja, und so war er doch wahr. Dass jedes Kind mit einem Herzen wie dem einer Lerche geboren wird, die mit einem Jubelschrei ins Nachmittagsblau des Sommers steigt. Dass wir alle uns schuldig machen, immer wieder, und dass es niemals Schuld ist. Und dass die Antwort Ja ist.

Dann wachte ich auf, und eine Traurigkeit und ein Glück überfielen mich mit solcher Wucht, dass sie von jeder meiner Zellen Besitz ergriffen und ich aus ihnen bestand und aus nichts sonst. Tränen liefen mir die Schläfen hinab in die Haare, ich war schwer wie ein Fels, und ich rührte mich nicht. Eine Ewigkeit später stand ich auf, ging in die Küche und trank Wasser aus meinen hohlen Händen, trank in langen, durstigen Zügen.
 

fraulange

Mitglied
Danke an Herziblatti und an Arno fürs Lesen und Kommentieren der Erzählung!

Lieber Arno, Du schreibst, dass Du nicht sicher bist, ob Du die Geschichte richtig verstanden hast und zeigst genau damit, dass Du sie verstanden hast, das freut mich sehr. Sicherlich hat jede Geschichte eine Kernaussage (oder sollte sie haben), die jeder formulieren kann, wie er mag, z. B. so, wie Du es tust. Der Rest darf mit den eigenen Assoziationen oder Erfahrungen jedes Lesers für sich gefüllt werden.

Und darum finde ich auch, dass Du mit Deiner Kritik am vorletzten Absatz Recht hast. Ich habe ihn noch einmal selbstkritisch gelesen, und durch das Weglassen einzelner Formulierungen hoffe ich nun, ein wenig mehr Raum für eigene Gedanken zu lassen. Man sollte seine Leser doch nie unterschätzen!

Und wie seltsam, dass ich selbst jedesmal über das blöde "doof" gestolpert bin, ohne es zu ändern ;-)

Dir und allen hier ein schönes Wochenende,

herzlichst, Kristin.
 

fraulange

Mitglied
Hier also nun die Erzählung in voller Länge.

Sie schildert, wie eine Tochter und eine Mutter das Sterben der Mutter erleben. Da kommen viele, auch bittere Erinnerungen hoch ... Aus ganz unterschiedlicher Perspektive spüren beide, Mutter wie Tochter, Konflikten, Erwartungen und Sehnsüchten nach.

Falls sich der eine oder andere von Euch die Mühe machen möchte, die Geschichte zu lesen, dann bin ich besonders dankbar für einen Tipp zu meinem Dilemma, ob man vielleicht auch Abschnitte weglassen kann und die Geschichte mit ihrer Botschaft trotzdem noch funktioniert. Funktioniert sie überhaupt? Entmutigt den Leser nicht schon die Länge an sich? Trotz aller Bedenken: Viel Freude beim Lesen!


Das Herz der Lerche

I

Der Feierabend. Das Telefon. Der Rufton ins Leere, immer wieder. Es wird doch nichts passiert sein? Ach was, vielleicht hat sie ihr Hörgerät nicht drin, oder der Akku vom Telefon ist mal wieder alle.

Der Feierabend. Die Müdigkeit. Wird schon nichts passiert sein.

Der Morgen. Das Telefon. Der Rufton, immer wieder. Die Fahrt. Der Schlüssel. Die Wohnung. Die Terrasse. Ihr Körper, ihr Mund, das Lallen. Die Sirenen. Das Blaulicht. Die Nachbarin: Ich dachte doch … Ich weiß. Ich dachte auch. Wird schon nichts passiert sein.

Da habe ich mich so oft gefragt, wie es wohl sein wird einmal, was für ein Tag wird es sein, ein Sonntag, ein Dienstag? Was für ein Tag wird es sein, und kann es ein Wetter für ihn geben wie für jeden anderen Tag auch? Und dann ist der Tag da, es ist irgendeiner. Vielleicht wird es an einem Abend geschehen, an dem der Sommer vorsichtig und wie zur Probe duftet, die Luft noch voller Kühle, ein paar Wolken, ihr Grau zerrissen und an den Rändern lohfarben. Eben stand ich noch vor dem Abreißkalender in der Küche und schaute mir das neue Datum an; ich mache das immer schon am Vorabend. Ich dachte noch, was für ein merkwürdiges Datum. Zweiundachtzig Mal war es an mir vorbei gestrichen, ohne dass ich etwas Besonderes gedacht oder gefühlt hatte, ich hatte gespielt oder den Abwasch gemacht, ein Buch gelesen oder einen Brief geschrieben. Und jetzt sollte es ein so wichtiges Datum sein. Merkwürdig, dass ich das dachte. Die Terrassentür stand offen, ich hörte draußen ein Geräusch, ein leises Scharren, und ging hin, um nachzuschauen. Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter unter dem Vogelhäuschen lagen. Als ich näher kam, huschte es davon und verschwand in der Dämmerung. Die Sonnenblumenkerne müssten endlich mal weggefegt werden, dachte ich, und: Ist doch schon bald Sommer. Ich spähte über den Rasen zu den Fichten, dorthin, wo die Schatten sich zur Nacht versammelten, aber das Tier war fort, und ich fröstelte auf einmal, und mir war seltsam im Kopf und schwindelig. Und im nächsten Moment ist da eine Leiter gewesen, mitten auf meiner Terrasse! Die ist hoch, so hoch gewesen, dass ich das Ende gar nicht sehen konnte, und ist verschwunden in den Wolken. Da hab ich’s gleich gewusst und bin emporgestiegen und habe gedacht, da bin ich so eine alte Frau, und es ist so leicht, diese Leiter hochzusteigen. Höher, immer höher! Und ist oben ein Wagen gekommen und hat mich und andere mitgenommen, und sind welche betrübt gewesen und haben laut geweint, und haben welche ganz still geweint und welche gar nicht. Ich aber, ich bin vergnügt gewesen: Weiter, nur immer weiter! Und hat nach einiger Zeit der Wagen angehalten, und ist jeder für sich weitergeflogen, denn jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne.

Brauchst keine Angst zu haben, Mama, sagt jemand. Nein, oh nein, ich habe keine Angst. Jetzt weiß ich es wieder: Ich bin in einem Krankenhaus, mein Kind ist da, und es war eine ganz leichte Geburt! Hinter dem Fenster wird es Nacht. Ein Wortspiel kommt mir in den Sinn: Das Leben ist eine schwere Geburt. Das Sterben aber ist leicht. Da will ich lieber weiter sterben. Weiter, immer weiter geht meine Reise hinaus aus dem Fenster und vorbei an den Sternen.

Hast du Schmerzen, Mama, fragt mich jemand. Ja, ich habe Schmerzen, aber es tut nicht mehr weh. Ich bin längst am Schmerzstern vorbei und am Angststern und am Durststern, das ging so schnell und war es wert. Per aspera ad nihil. Durch die Bitterkeit ins Nichts. Ich freu mich so auf das Nichts! Bald werde ich hinter allen Sternen gut versteckt sein, und niemand wird mich finden, und ihr, ihr könnt mich suchen, solang ihr lustig seid. Lustig, ihr wart immer lustig miteinander und lachtet, und bei euch klang es so einfach. Und ich wollte mitlachen, fand aber bald, dass es viel schwerer war als ich gedacht hatte. Rhythmus und Melodie wollten mir nicht gelingen. Ich hörte, wie falsch mein Lachen geriet und lachte und dachte, das kann doch nicht so schwierig sein, warum kann ich das nicht, ich kann nicht mal das, ich kann gar nichts! Und da schämte ich mich, und das Schämen und das Lachenwollen taten mir so weh in Hals und Herz. Ich hab mein Herz kaputtgelacht, ich hab mein Hirn kaputtgedacht. Das Lachen ist eine schwere Geburt, sterben aber, sterben kann jeder.


II

Ich hätte nie gedacht, dass es auf einer Intensivstation so laut ist. Nicht dass ich jemals groß darüber nachgedacht hatte. Kein zurückhaltendes Piepsen einzelner Geräte, kein stilles Hin- und Herhuschen der Schwestern und Pfleger, hier wurde nicht geflüstert. Hier wurde gerufen und gerannt und geräumt, hier schepperte und rumste es. Ist ja auch logisch, dachte ich, die machen hier ihre Arbeit, die machen hier einen richtig schweren Job.

„Brauchst keine Angst zu haben, Mama“, sagte ich. „ Ich bin da.“ Und: „Hast du Schmerzen, Mama?“

Meiner Mutter war bewusst, dass sie im Krankenhaus lag. „Gut, dass die Elisabeth Krankenschwester ist, die wusste gleich, was zu tun war, als es losging mit den Wehen“, sagte sie. Die Elisabeth, ihre Schwägerin, seit fünfzehn Jahren tot. Ganz hinten in meiner Kehle kitzelten ein Lachen und ein Weinen um die Wette. Ich lachte. „Mit den Wehen?“ „Ja“ sagte sie, und ich versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber das ließ sich schwierig an, weil das Bett so hoch war, ich konnte mich nicht zu ihr setzen, also nahm ich ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Und dann erzählte sie mir, wie die Geburt verlaufen und wer schon zu Besuch gewesen war: Alle, alle waren da gewesen, der Piet und die Suse und die Elke, Verwandte und Freunde, Lebende und Verstorbene, und sogar eine Katze war gekommen! – ja, auch frühere Haustiere reihten sich in diese Besucherscharen ein. Schließlich sagte sie, ich solle ihre Eltern grüßen und ihnen ausrichten, alles sei gut gegangen. Das versprach ich ihr, und das war das letzte, was wir zueinander sagten.

Bis zum Mittag hatte ich alle angerufen. Siebenhundert Kilometer weiter südlich machte sich meine Schwester auf den Weg. Die Frau meines Vaters hatte sofort angefangen zu weinen und meinen Vater ans Telefon geholt. Der Einweg-Schutzkittel aus grünem Vlies, vor der Tür zur Intensivstation hastig gegriffen, war vorne offen. „Ich hab das hier verkehrt rum an, oder“, fragte ich die Schwester. Sie lachte und nickte, ich lachte auch. Und brach in Tränen aus. Am Nachbarbett keuchte ein Atemgerät.

„Das eigentlich Schlimme ist die Hirnschwellung. Wir könnten die Schädeldecke öffnen und eine Operation versuchen, aber bei den Schäden …“ der Satz des jungen Arztes blieb in der Luft hängen. Ich schaute die Stelle in der Luft an, wo er ungefähr hängen musste, der Satz, dann schaute ich den Arzt wieder an.
„Was würden Sie tun, wenn es Ihre Mutter wäre, mit so einer Patientenverfügung?“ fragte ich ihn.
„Ganz ehrlich?“ sagte er. Und dann gab es nichts mehr zu tun als weiter bei ihr zu sitzen.

Ganz ehrlich. Dass es mir jedes Mal unangenehm war, wenn sie mich nach einem Besuch bei ihr nach draußen begleitete, um mir mit einem verrutschten Lächeln hinterherzuwinken. Dass ich erleichtert war, wenn ich ihre Gestalt im Rückspiegel kleiner werden sah. Dass der letzte Satz eine Lüge war und ich nie in den Rückspiegel schaute. Dass ich mich ausgelaugt und leergesogen fühlte, wenn ich von ihr kam. Und trotzdem immer wieder zu ihr kam, wie hätte ich nicht kommen sollen? Ich kam immer wieder, zu ihren Brotscheiben vom Vorvortag, zu ihrer Halbfettmargarine, zu ihrem Käse, der an den Rändern hart und glasig war, zu den Abendbrotbrettchen mit dem Siebzigerjahremuster. Zum Ticken der Wanduhr, von ihrem Vater geerbt, einem langsamen, schwermütigen und zuletzt völlig verkalkten Mann. Zu jeder halben Stunde schnarrten die Eingeweide der Uhr und bereiteten sich zum Schlagen vor. Die Uhr schlug halb sechs, schlug um sechs, schlug halb, schlug um, halb um die Zeit, Tagesschau, halb neun, dann will ich mal so langsam. Ach, schon? Wie schade. Ja, wie schade. Ganz ehrlich. Dass ich sie anschrie, an einem Weihnachtsabend: Für das, was sie immer so poetisch „das schwere Erbe meines Vaters“ nannte, gab es einen klinischen Begriff, und es war behandelbar, schon mal davon gehört! Mein Gott, sie war doch nicht die einzige Frau auf der Welt, die von ihrem Mann betrogen und verlassen worden war, oder die den Krieg erlebt hatte! Wollte sie nicht oder konnte sie nicht, und gab es einen Unterschied zwischen Nichtkönnenwollen und Nichtwollenkönnen? Dann geht doch zu eurem lustigen Vater. Und dann, mitten im Streit, stellte sie mir mit dem feinen Instinkt des Opfers für den falschen Zeitpunkt ihre Frage. Mein Gott, sie hätte mich besser kennen sollen, ich konnte nicht lügen, das wusste sie genau, ich fühlte kein Ja und ich fühlte kein Nein. Mein Zögern war ihr Antwort genug. Nach zwanzig endlosen Sekunden sagte ich: Ich will dich nicht lieben müssen, ich will dich lieben dürfen. Verflucht und frohes Fest, ganz ehrlich.

Überhaupt, die Liebe! Was die alles leisten sollte bei uns zuhause. Da wäre der fleißigste Sklave überfordert gewesen. Dabei war ja immer genug da! Im Keller hat, seit ich klein war, ein Tresor gestanden, der war randvoll mit Liebe. Bloß, das Schloss hat geklemmt, und keiner kam ran. Wir haben gerüttelt und gezerrt, und schließlich haben wir uns aufs Schreien verlegt. Aufs Anschreien, aufs Rausschreien, aufs Fordern. Jeder hat gehofft, wenn er am lautesten brüllt, dann bekommt er ein Stück von der Liebe. Ich wusste immer, sie war da, aber ich kam nicht dran, ich fühlte sie nicht. Ich hatte keine Schuld, und meine Schuld war unermesslich.

Es wurde Nachmittag. Auf der Intensivstation konnte man nichts mehr für sie tun, und andere Patienten brauchten den Platz dringender. Hier, im zarten Olivgrün eines gewöhnlichen Stationszimmers, würde sie sterben. Für jeden Menschen gibt es einen Ort zum Sterben, dieser war ihrer. Sie lag im medikamentösen Tiefschlaf, ohne Angst, ohne Schmerzen, wie ich hoffte und betete zu ich-weiß-nicht-wem. Wo liegt mein Ort zum Sterben, dachte ich, wie sieht er aus? Gibt es ihn schon, ist das Haus, ist das Zimmer gebaut?

Ihr Hörgerät, ihre Brille, ihr Buch. Ein paar Dinge auf dem Nachttisch, die ich heute Morgen eilig zusammengesucht hatte. Wann war das gewesen, vor drei Stunden, vor hundert Jahren? Genährt von welcher Hoffnung? Sie war nie ohne Buch gewesen, niemals.

Das Bücherregal, das Herz des Wohnzimmers, seit ich denken konnte. Franz Kafkas betrübte Miene auf der Werkausgabe blickte aus dem Bücherregal auf meine Kinderspiele herab. Kafka hatte, das wussten wir früh, an seinem Vater gelitten, hatte an sich und der Welt gelitten. Wir Kinder, heimlich auch unser Vater, machten uns über seine abstehenden Ohren lustig. Sie mochte es, wenn Menschen … Nein, der Satz war ja ganz verkehrt, das durfte man doch nicht einmal denken! Noch einmal: Sie mochte Menschen, die litten. Kurt Tucholsky, schwerkrank und irre geworden am Unrecht seiner Zeit, vergiftete sich. Heinrich Heine, Jahre dahinsiechend in seiner Matratzengruft! Oder die Juden … Ja, die Juden. Sie liebte diese Menschen, liebte sie auf Friedhöfen, an Gedenkstätten, in Dichterhäusern. Sie schenkte ihnen, den Opfern, ihre wohlverdiente Achtung, ihre Liebe und Bewunderung. Die Welt, ein Stück gerechter. Sie selbst, getröstet für den Augenblick. Und wenn ihre Kinder unglücklich gewesen wären? Nur ein bisschen, ein kleines bisschen unglücklicher? Nicht einmal denken durfte man doch so etwas! Aber wenn, aber wenn … dann wäre sie nicht so mutterseelen-, so kinderseelenalleine gewesen.

Zwischen all den Büchern wohnten in unserem Bücherregal auch zwei Hunde, ein schwarzer und ein weißer Terrier, ein Mitbringsel von irgendjemandem. Sie waren kaum länger als mein kleiner Finger, in ihren Plastikleibern waren Magnete verborgen. Der Spaß bestand darin, dass, wenn man auf der Tischplatte den einen auf den anderen zuschob, dieser sich im letzten Moment blitzschnell drehte, so dass die beiden aneinander hingen, die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen. Ich aber konnte mich lange mit dem Versuch beschäftigen, ihre Schnauzen zusammenzubringen, was natürlich nie gelingen konnte, da an dieser Stelle die Magneten einander abstießen. In jeder Faust eines der beiden Hündchen haltend, sah ich zu, wie mal die eine und mal die andere Hundeschnauze nach oben oder nach unten wegrutschte. Die beiden Hunde, der schwarze und der weiße, waren nur mit Gewalt dazu zu bewegen, sich in die Augen zu schauen. Später, viel später übten sie und ich uns im gleichen Spiel. Sie rutschte mir immer wieder nach oben oder nach unten weg. War ich der Schwarze? Der Weiße? Ihre Moral oder mein Mitleid, ich hatte die Wahl. Nur mit Gewalt und nur scheinbar ließen sich unsere Blicke zusammenzwingen, im Streit, im Verletzen, im Immer-Lauter-Schreien: Sieh mich an. Sieh mich an! SIEH MICH VERDAMMT NOCH MAL NUR EINMAL, EINMAL RICHTIG AN!!! Ich wollte Schwarz und Weiß mischen zu tausend Grautönen, die dann vor Farbe explodieren würden, ich wollte ihr beweisen, wie es sein konnte zwischen uns, ich wusste, wusste, es war möglich, sie musste, musste, MUSSTE! es doch sehen.

Ihr Schwarz barg keine Hoffnung, sie wusste, es war niemals möglich. Ihr Weiß blieb strahlend.

Der Abend. Der Stationsarzt hatte sich nur mühsam überreden lassen, ihre Patientenverfügung zu lesen, sein Tonfall war der eines genervten Oberkellners gewesen, der keine Lust hat, meine Bestellung aufzunehmen. „Gut, Schmerz- und Beruhigungsmittel ja, künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe nein.“ Ich heulte. „Aber dann bestätigen Sie mir bitte schriftlich, dass Sie es in Kauf nehmen, wenn Ihre Mutter verhungert und verdurstet.“ Ich saß wieder am Bett meiner Mutter und nahm in Kauf, dass sie verhungerte und verdurstete. Das Verhungern und Verdursten sah friedlich aus. Ich sah ihr beim Verhungern und Verdursten zu, beim Einatmen und Ausatmen und dachte daran, wie sie mir alles Glück, das in ihr war, in den ersten Jahren ins Fläschchen gefüllt, in den Brei gerührt, mit der Marmelade aufs Graubrot geschmiert, die Scheiben halbiert und geviertelt und alles an mich verfüttert hatte. Ich hatte, wie Kinder es tun, mit hungrigem Schnabel verputzt, soviel eben da war.

Einatmen, Ausatmen. Ein. Aus. Noch. Nicht -

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Auf dem Stern des Streites befindet sich ein großer Gerichtssaal, in dessen Mitte auf einem Podest eine Maschine thront. Ihre Zahnräder bewegen sich in unbegreiflichem Rhythmus, manche mit trägem Schwung, manche hektisch flimmernd. Die Maschine produziert verwirrende Sätze, die mir um die Ohren fliegen. Ich soll antworten, es geht aber viel zu schnell, meine Antworten sind hilflos, abwehrend. Eine Serie von Hammerschlägen wie auf Metall begleitet jeden Satz, der Lärm ist kaum zu ertragen und bohrt sich in mein Hirn. Du sollst wollen. Ich will nicht. Aber du sollst wollen können. Ich kann nicht. Aber wir wollen, dass du wollen dürfen kannst! Was für ein Strafgericht. Mitten in meiner Verwirrung nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen, ich weiß, hohes Gericht, es ist der falsche Zeitpunkt, ich bin für eine ehrliche Antwort gar nicht gewappnet. Aber wenn ich schon dürfen soll, Hohes Gericht, dann möchte ich nur eines erfahren. Und dann steht die Frage im Raum. Als sie noch in mir war, erschien sie mir wie etwas Großes. Aber nun, da sie entblößt und zitternd im Raum steht, wirkt sie dürftig und bedürftig. Erbärmlich. Ich halte den Atem an, mein Herz pocht angstvoll, und doch auch voller Hoffnung: Das Zauberwort und endlich die Erlösung, kann es, darf es sein? Die Räder der Maschine verkanten, etwas rastet lärmend ein, mit einem gewaltsamen Ruck kommt alles zum Stillstand, die Maschine, der Stern, das ganze All. Konsterniertes Schweigen, das All schaut strafend und schweigend auf mich herab, und ich begreife, ich habe einen furchtbaren, einen nie wieder gut zu machenden Fehler begangen. Auf meinem Fall ins Bodenlose schreit man mir einen letzten Satz nach, etwas von wollen und müssen und dürfen. Behäbig setzt die Maschinerie sich wieder in Bewegung, das Reden geht weiter, in unbegreiflichem Rhythmus. Und ich? Ich kann nicht mehr wollen, und ich will nicht mehr sollen, und ich kann jetzt nicht mehr. Ich kann gar nichts mehr.

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Schon von weitem sehe ich: Ein rötliches Leuchten ist um den Stern der Liebe, auf ihm pulsiert das Leben. Ich bin noch Meilen und Meilen entfernt, aber ich spüre bis hierhin die heimelige Wärme, die er ins All abgibt. Wie gerne ich dorthin möchte, dort, wo es warm ist, und wo Trost ist und Licht. Ein paar Zeilen eines Liedes huschen durch meine Erinnerung, und während ich schwebe, wiege ich die Hüften in Vorfreude: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“ Als ich mich dem Stern der Liebe nähere, erkenne ich, was dort wirklich los ist. Und ich erkenne, dass der Stern der Liebe eine einzige Wunde ist, eine Entzündung, in der es zuckt und fiebert und arbeitet. Vor Schreck und Ekel wird mir übel, ich möchte abdrehen und vorbeifliegen, doch es ist zu spät: Zu groß ist die Anziehungskraft, und ich werde rasend schnell angesogen von der stinkenden Wunde, der weichen Fäulnis. Oh bitte nicht, bitte nicht! Doch plötzlich wird, je näher ich komme, der Stern immer kleiner, und in dem Moment, da ich aufschlagen soll, da ist der Stern mein Herz. Und mein Herz, mein rohes, mein nacktes, mein lebendiges Herz zuckt in der Hand eines Dämons, der an einem Herd steht, in einer verschmutzten Küche. Fliegen surren wie von Sinnen, taumeln, verrecken im schwülen grauen Licht. Die Lippen des Dämons kräuseln sich zwischen den Haaren eines schütteren Bartes, er grinst. „Hu“ ruft er und schüttelt sich in gespieltem Entsetzen und wendet sich um zu zwei kleinen Mädchen, die sich erschrocken an die schmierige Spüle drücken, die Hände vorm Mund, die Augen weit aufgerissen. „Schaut nur, was für ein dreckiges Herz! Kinder, jetzt kochen wir Drecksuppe!“ Und mein Herz pocht und glitscht zwischen seinen Fingern über einem brodelnden Topf, aus dem es riecht wie Blut und Übelkeit. „Du bist nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch“, sagt er, und da bin ich nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch. Er darf nicht loslassen! Bitte, er darf nicht loslassen! Da lässt er los, und jemand schreit, und das bin ich, ich bin es, die da schreit! Ich flüchte, flüchte, und in meinen Ohren klingt noch einige Zeit das Kichern zweier kleiner Mädchen und ihre hellen Stimmchen: Papa, wann spielen wir wieder Drecksuppe kochen. Rötliche Hautfetzen wabern heiß um den Stern der Liebe und leuchten entzündet ins Dunkel. Es pumpt, es zuckt, es eitert und fault, und es kann nicht heilen. Niemals. Und das ist es, was auf dem Stern der Liebe wirklich passiert, und ich habe meine Kleinen geliebt und sie mich und liebe sie noch immer, und jetzt kochen sie Drecksuppe mit ihrem Vater. „Wenn wir uns im Tanze wiegen, ist mir so, als könnt ich fliegen, auf zu den Sternen, zum Himmel empor …“ Hinter mir verwehen schief und wie ein Weinen die letzten Töne eines Liedes.

Jeder hat seinen eigenen Weg … Der letzte Stern, den ich besuche, ist eine Stube, ich kenne sie gut. Sie riecht nach Staub und Holz und Sommer. Vormittags habe ich die Mama für mich alleine, ich glaube, es geht ihr schon besser, denn wir spielen Verstecken. Die Mama zählt. Ich stehe an der Wand hinter der offenen Wohnzimmertür und halte die Luft an. Ihre Stimme aus der Küche: „… achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig!“ Ich höre sie in der Speisekammer rascheln und beiße mir auf die Fingerknöchel: Jetzt nicht kichern, da findet sie mich ja gleich! Ihre Schritte, die sich der Stube nähern, jetzt kommt sie, sie kommt! Sie ist in der Mitte der Stube stehen geblieben, bestimmt steht sie da, schaut sich nach mir um und überlegt, wo sie mich suchen könnte. Stille, nur die Wanduhr tickt. Tickt und tickt und tickt … Die Luft, die ich angehalten habe, entweicht, ich luge um die Türkante. Die Mama hat die Hände auf eine Sessellehne gestützt. Das Ticken der Uhr, ungerührt. Ihr Blick. Zwei Fotos in dunklen Rahmen auf der Anrichte. Meine Brüder, so schick und erwachsen in ihrer Uniform! Sie sucht mich überhaupt nicht mehr. Warum sucht sie mich denn nicht mehr. Ich springe heraus, ich bin fröhlich, der Kloß in meinem Hals hat da gar nichts zu suchen. Ich bin schon fast ein Schulkind, keine Heulliese. „Mama, hier bin ich! Guck mal, hier bin ich!“ Ihr Lächeln, ihr Blick, aus dem ich wieder herausfalle und verloren gehe. Das Schlagwerk der Uhr schnarrt und bereitet sich zum Schlagen vor, das zehnfache „Dong!“ zittert in der Luft, tanzt mit den Staubkörnern in einem Sonnenstrahl. Mamas Blick schwebt über meinem Kopf aus der Stube, und wenn ich ein Vöglein wär, dann folgte ich ihrem Blick aus dem Fenster den Pflasterweg entlang auf die Straße ans andere Ende des Dorfes und durch ein Eisentörchen auf den Friedhof, weiter den Kiesweg entlang zu einem Rasenstück, wo zwei Birken, zwei junge, schön gewachsene, frisch gepflanzte Birken stehen, und weiter, immer weiter bis in ein Land, das ganz weit weg ist und Russland heißt. Wenn ich ein Vöglein wär, Mama?

III

Und dann habe ich all meine Sterne passiert. Ich hatte immer gedacht, im All ist es still, aber um mich ist ein feines hohes Summen, und plötzlich erkenne ich, was es ist. Dass ich nicht eher darauf gekommen bin! Ich habe es schon früher gehört, nachts, wenn es sonst ganz still war. Es ist die Zeit selbst, die da summt, und solange wir leben, hören wir sie nur als Ahnung eines Geräusches im Augenblick zwischen Wachsein und Schlaf, und nur manche von uns hören sie überhaupt.

Und aus all diesem ist das Summen der Zeit gemacht: Herzklopfen. Das Herzklopfen so vieler Generationen von Vorfahren. Einer Schwester. Eines Geliebten. Das Ticken einer Uhr in einem lange vergangenen Zimmer. Das ferne Bellen eines Hundes an einem Winterabend, immer desselben seit Anbeginn der Zeiten. Das jähe Rascheln des Windes, der in zwei Birken fährt. Die Schreie von Lerchen. Ein Choral aus dem Radio an einem Sonntagmorgen vor über vierzig Jahren; ein Messer ruckt durch ein Brötchen, schabt über Butter, Stimmen, Streit, ein Krümel fällt, fällt, fällt eine ewige Sekunde lang zu Boden, sein Fallen hallt jahrzehntelang im Ohr. Das Rollen der Ostsee, die Wellen drängen vorwärts und fließen zurück in der Dunkelheit hinter dem Ferienhaus, wo zwei kleine Mädchen längst in ihren Betten liegen. Sie sind den ganzen Nachmittag in ihren gelben Kleidchen die Dünen hochgerannt und wieder hinuntergerollt, und noch in dieser Nacht werden sich ihre runden braunen Gliedmaßen strecken und zu denen von Frauen werden. Die Zeit selbst gibt es nicht, es gibt nur, was sie anrichtet. Und die Zeit richtet an, dass jedes Kind lernt, etwas anderes zu können als zu lieben und etwas anderes zu wollen als geliebt zu werden.

Ein sanftes Wort, ein erster Schrei.

Die Zeit arbeitet und verdichtet sich, aus dem Summen wird ein Murmeln, aus dem Murmeln wird ein Tosen, das tief und mächtig in mir rauscht. Fragen, tausend Fragen wie das Murmeln eines Baches; von allen Seiten kommen neue Fragen, aus dem Bach wird ein Fluss wird ein Strom, der mündet ins Meer, und das Meer ist die Antwort. Und ich verstehe die Antwort und habe doch keine der Fragen verstanden. Es ist Zeit. Es ist gut.

Aus dem Dröhnen wird ein Grollen, aus dem Grollen wird ein Summen, das erstirbt, alle Zeit hört jetzt auf. Es ist still, endlich still. Ganz entfernt noch ein paar Sternenschlieren, Funken, die zerstieben, der letzte Funke erlischt und jetzt der allerletzte ein schwächliches Verglühen im All jetzt kaum noch auf der Netzhaut und jetzt nur noch Erinnerung an das Verglühen und weiter vorne kommt nichts mehr ich weiß nichts mehr und bin jetzt an allem, an allem vorbei. Ich bin jetzt

Vorbei, es war vorbei. Sie war vorbei. Kein Ein, kein Aus. Sie war vorbei und fort von mir und allen Dingen. Ihr Buch, ihre Brille, ihre Hände, ihr Gesicht. Ihr Gesicht, so geschafft, endlich geschafft. Ich nahm nach einer Weile die Dinge, die nicht mehr ihre waren und packte sie in die Tasche, die nicht mehr ihre war und trug sie aus dem Zimmer, den Flur entlang und fort von ihr. Ich stand mit der Tasche, die niemandem gehörte, im Freien, ein Wind fuhr in die Birken, die den Weg zum Parkplatz säumten. Und tief in meinem überraschten Herzen, da, wo das Liebhaben und das Traurigsein am meisten wehtun, zerbarst ein Schloss, und es öffnete sich mit Gewalt und Getöse und viel zu spät der verfluchte Tresor, und sein Inhalt quoll mir entgegen: Alles für mich, für mich ganz allein.

Ein paar Wochen später löste ich ihre Wohnung auf. Das war nicht die stille Einkehr, die Begegnung, das Zwiegespräch mit ihr, das ich mir für diese Aufgabe immer vorgestellt hatte. Es war packen, räumen, aussortieren. Es war erledigen, organisieren, telefonieren. Mit der Sparkasse. Mit den Versicherungen. Mit der Entrümplungsfirma. Und es waren ihre Augen, die mich aus einer Zimmerecke ansahen, wann immer ich etwas wegwarf. Ich warf vieles weg, sie hatte keine Schätze gehabt bis auf einen einzigen, und aus dem pickte sich der Buchhändler vom Antiquariat noch ein paar Brocken heraus und gab mir sechzig Euro dafür. An diesem Freitag war ich nach der Arbeit noch lange in der Wohnung gewesen, wenn ich mich ranhielt, würde ich am Wochenende fertig werden. Das Sofa und einige andere Dinge würden morgen die Kollegen von der Arbeitslosenhilfe abholen, doch vorerst lag ich rücklings darauf, erschöpft vom Wühlen und Schleppen, mit meiner Tasche als Kissen unter dem Kopf. Mein Blick fiel durch die geöffnete Terrassentür in den Garten. Draußen feierte der Sommer ein Fest, das ganz große Schauspiel, die ganz große Sinfonie. Da! Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter auf der Terrasse lagen. Plötzlich hielt es inne und saß mit erhobenem Köpfchen ganz still da, lauschte, witterte, huschte schließlich davon und verschwand in der Dämmerung, ein geschmeidiger brauner Schatten. Niedlicher kleiner Kerl, dachte ich und musste eingeschlafen sein, denn im nächsten Augenblick stand meine Mutter auf der Terrasse, genau da, wo das Eichhörnchen nach Kernen gesucht hatte. Sie hatte eine Hand an eine Leiter gelegt, die neben ihr stand und so hoch aufragte, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Sie schaute mich an und schaute an der Leiter hoch und lächelte. „Was willst du denn mit der Leiter?“ fragte ich sie. „Was ist denn da oben?“
„Nichts“, sagte sie. „Gar nichts.“
Wieder sah sie mich an, und wieder lächelte sie auf diese liebe und ein wenig ironische Art, als kenne sie ein schönes Geheimnis. „Weißt du noch“, fragte sie mich „als ich damals mein Hörgerät bekam?“
Ich war verdutzt. Warum fing sie jetzt mit ihrem Hörgerät an?
„Du hattest mich abgeholt an dem Nachmittag“, fuhr sie fort. „Wir waren spazieren, weißt du noch, den Feldweg entlang, den wir manchmal gegangen sind. Da habe ich zum ersten Mal seit Jahren die Lerchen wieder singen hören. Ich hatte doch gedacht, es gibt gar keine mehr. Bist du traurig, meine Kleine?“ Und ihr Blick suchte mich, und ihr Lächeln meinte mich.
Ich sah sie an. Ich sah sie an, und dann sagte ich es ihr. Dass ich das mit den Lerchen noch wusste und nur vergessen hatte. Dass ich wusste, es war nur ein Traum, aber ich, ich träumte ihn ja, und so war er doch wahr. Dass jedes Kind mit einem Herzen wie dem einer Lerche geboren wird, die mit einem Jubelschrei ins Nachmittagsblau des Sommers steigt. Dass wir alle uns schuldig machen, immer wieder, und dass es niemals Schuld ist. Und dass die Antwort Ja ist.

Dann wachte ich auf, und eine Traurigkeit und ein Glück überfielen mich mit solcher Wucht, dass sie von jeder meiner Zellen Besitz ergriffen und ich aus ihnen bestand und aus nichts sonst. Tränen liefen mir die Schläfen hinab in die Haare, ich war schwer wie ein Fels, und ich rührte mich nicht. Eine Ewigkeit später stand ich auf, ging in die Küche und trank Wasser aus meinen hohlen Händen, trank in langen, durstigen Zügen.
 

fraulange

Mitglied
Hier also nun die Erzählung in voller Länge.

Sie schildert, wie eine Tochter und eine Mutter das Sterben der Mutter erleben. Da kommen viele, auch bittere Erinnerungen hoch ... Aus ganz unterschiedlicher Perspektive spüren beide, Mutter wie Tochter, Konflikten, Erwartungen und Sehnsüchten nach.

Falls sich der eine oder andere von Euch die Mühe machen möchte, die Geschichte zu lesen, dann bin ich besonders dankbar für einen Tipp zu meinem Dilemma, ob man vielleicht auch Abschnitte weglassen kann und die Geschichte mit ihrer Botschaft trotzdem noch funktioniert. Funktioniert sie überhaupt? Entmutigt den Leser nicht schon die Länge an sich? Trotz aller Bedenken: Viel Freude beim Lesen!


Das Herz der Lerche

I

Der Feierabend. Das Telefon. Der Rufton ins Leere, immer wieder. Es wird doch nichts passiert sein? Ach was, vielleicht hat sie ihr Hörgerät nicht drin, oder der Akku vom Telefon ist mal wieder alle.

Der Feierabend. Die Müdigkeit. Wird schon nichts passiert sein.

Der Morgen. Das Telefon. Der Rufton, immer wieder. Die Fahrt. Der Schlüssel. Die Wohnung. Die Terrasse. Ihr Körper, ihr Mund, das Lallen. Die Sirenen. Das Blaulicht. Die Nachbarin: Ich dachte doch … Ich weiß. Ich dachte auch. Wird schon nichts passiert sein.

Da habe ich mich so oft gefragt, wie es wohl sein wird einmal, was für ein Tag wird es sein, ein Sonntag, ein Dienstag? Was für ein Tag wird es sein, und kann es ein Wetter für ihn geben wie für jeden anderen Tag auch? Und dann ist der Tag da, es ist irgendeiner. Vielleicht wird es an einem Abend geschehen, an dem der Sommer vorsichtig und wie zur Probe duftet, die Luft noch voller Kühle, ein paar Wolken, ihr Grau zerrissen und an den Rändern lohfarben. Eben stand ich noch vor dem Abreißkalender in der Küche und schaute mir das neue Datum an; ich mache das immer schon am Vorabend. Ich dachte noch, was für ein merkwürdiges Datum. Zweiundachtzig Mal war es an mir vorbei gestrichen, ohne dass ich etwas Besonderes gedacht oder gefühlt hatte, ich hatte gespielt oder den Abwasch gemacht, ein Buch gelesen oder einen Brief geschrieben. Und jetzt sollte es ein so wichtiges Datum sein. Merkwürdig, dass ich das dachte. Die Terrassentür stand offen, ich hörte draußen ein Geräusch, ein leises Scharren, und ging hin, um nachzuschauen. Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter unter dem Vogelhäuschen lagen. Als ich näher kam, huschte es davon und verschwand in der Dämmerung. Die Sonnenblumenkerne müssten endlich mal weggefegt werden, dachte ich, und: Ist doch schon bald Sommer. Ich spähte über den Rasen zu den Fichten, dorthin, wo die Schatten sich zur Nacht versammelten, aber das Tier war fort, und ich fröstelte auf einmal, und mir war seltsam im Kopf und schwindelig. Und im nächsten Moment ist da eine Leiter gewesen, mitten auf meiner Terrasse! Die ist hoch, so hoch gewesen, dass ich das Ende gar nicht sehen konnte, und ist verschwunden in den Wolken. Da hab ich’s gleich gewusst und bin emporgestiegen und habe gedacht, da bin ich so eine alte Frau, und es ist so leicht, diese Leiter hochzusteigen. Höher, immer höher! Und ist oben ein Wagen gekommen und hat mich und andere mitgenommen, und sind welche betrübt gewesen und haben laut geweint, und haben welche ganz still geweint und welche gar nicht. Ich aber, ich bin vergnügt gewesen: Weiter, nur immer weiter! Und hat nach einiger Zeit der Wagen angehalten, und ist jeder für sich weitergeflogen, denn jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne.

Brauchst keine Angst zu haben, Mama, sagt jemand. Nein, oh nein, ich habe keine Angst. Jetzt weiß ich es wieder: Ich bin in einem Krankenhaus, mein Kind ist da, und es war eine ganz leichte Geburt! Hinter dem Fenster wird es Nacht. Ein Wortspiel kommt mir in den Sinn: Das Leben ist eine schwere Geburt. Das Sterben aber ist leicht. Da will ich lieber weiter sterben. Weiter, immer weiter geht meine Reise hinaus aus dem Fenster und vorbei an den Sternen.

Hast du Schmerzen, Mama, fragt mich jemand. Ja, ich habe Schmerzen, aber es tut nicht mehr weh. Ich bin längst am Schmerzstern vorbei und am Angststern und am Durststern, das ging so schnell und war es wert. Per aspera ad nihil. Durch die Bitterkeit ins Nichts. Ich freu mich so auf das Nichts! Bald werde ich hinter allen Sternen gut versteckt sein, und niemand wird mich finden, und ihr, ihr könnt mich suchen, solang ihr lustig seid. Lustig, ihr wart immer lustig miteinander und lachtet, und bei euch klang es so einfach. Und ich wollte mitlachen, fand aber bald, dass es viel schwerer war als ich gedacht hatte. Rhythmus und Melodie wollten mir nicht gelingen. Ich hörte, wie falsch mein Lachen geriet und lachte und dachte, das kann doch nicht so schwierig sein, warum kann ich das nicht, ich kann nicht mal das, ich kann gar nichts! Und da schämte ich mich, und das Schämen und das Lachenwollen taten mir so weh in Hals und Herz. Ich hab mein Herz kaputtgelacht, ich hab mein Hirn kaputtgedacht. Das Lachen ist eine schwere Geburt, sterben aber, sterben kann jeder.


II

Ich hätte nie gedacht, dass es auf einer Intensivstation so laut ist. Nicht dass ich jemals groß darüber nachgedacht hatte. Kein zurückhaltendes Piepsen einzelner Geräte, kein stilles Hin- und Herhuschen der Schwestern und Pfleger, hier wurde nicht geflüstert. Hier wurde gerufen und gerannt und geräumt, hier schepperte und rumste es. Ist ja auch logisch, dachte ich, die machen hier ihre Arbeit, die machen hier einen richtig schweren Job.

„Brauchst keine Angst zu haben, Mama“, sagte ich. „ Ich bin da.“ Und: „Hast du Schmerzen, Mama?“

Meiner Mutter war bewusst, dass sie im Krankenhaus lag. „Gut, dass die Elisabeth Krankenschwester ist, die wusste gleich, was zu tun war, als es losging mit den Wehen“, sagte sie. Die Elisabeth, ihre Schwägerin, seit fünfzehn Jahren tot. Ganz hinten in meiner Kehle kitzelten ein Lachen und ein Weinen um die Wette. Ich lachte. „Mit den Wehen?“ „Ja“ sagte sie, und ich versuchte, sie in den Arm zu nehmen, aber das ließ sich schwierig an, weil das Bett so hoch war, ich konnte mich nicht zu ihr setzen, also nahm ich ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Und dann erzählte sie mir, wie die Geburt verlaufen und wer schon zu Besuch gewesen war: Alle, alle waren da gewesen, der Piet und die Suse und die Elke, Verwandte und Freunde, Lebende und Verstorbene, und sogar eine Katze war gekommen! – ja, auch frühere Haustiere reihten sich in diese Besucherscharen ein. Schließlich sagte sie, ich solle ihre Eltern grüßen und ihnen ausrichten, alles sei gut gegangen. Das versprach ich ihr, und das war das letzte, was wir zueinander sagten.

Bis zum Mittag hatte ich alle angerufen. Siebenhundert Kilometer weiter südlich machte sich meine Schwester auf den Weg. Die Frau meines Vaters hatte sofort angefangen zu weinen und meinen Vater ans Telefon geholt. Der Einweg-Schutzkittel aus grünem Vlies, vor der Tür zur Intensivstation hastig gegriffen, war vorne offen. „Ich hab das hier verkehrt rum an, oder“, fragte ich die Schwester. Sie lachte und nickte, ich lachte auch. Und brach in Tränen aus. Am Nachbarbett keuchte ein Atemgerät.

„Das eigentlich Schlimme ist die Hirnschwellung. Wir könnten die Schädeldecke öffnen und eine Operation versuchen, aber bei den Schäden …“ der Satz des jungen Arztes blieb in der Luft hängen. Ich schaute die Stelle in der Luft an, wo er ungefähr hängen musste, der Satz, dann schaute ich den Arzt wieder an.
„Was würden Sie tun, wenn es Ihre Mutter wäre, mit so einer Patientenverfügung?“ fragte ich ihn.
„Ganz ehrlich?“ sagte er. Und dann gab es nichts mehr zu tun als weiter bei ihr zu sitzen.

Ganz ehrlich. Dass es mir jedes Mal unangenehm war, wenn sie mich nach einem Besuch bei ihr nach draußen begleitete, um mir mit einem verrutschten Lächeln hinterherzuwinken. Dass ich erleichtert war, wenn ich ihre Gestalt im Rückspiegel kleiner werden sah. Dass der letzte Satz eine Lüge war und ich nie in den Rückspiegel schaute. Dass ich mich ausgelaugt und leergesogen fühlte, wenn ich von ihr kam. Und trotzdem immer wieder zu ihr kam, wie hätte ich nicht kommen sollen? Ich kam immer wieder, zu ihren Brotscheiben vom Vorvortag, zu ihrer Halbfettmargarine, zu ihrem Käse, der an den Rändern hart und glasig war, zu den Abendbrotbrettchen mit dem Siebzigerjahremuster. Zum Ticken der Wanduhr, von ihrem Vater geerbt, einem langsamen, schwermütigen und zuletzt völlig verkalkten Mann. Zu jeder halben Stunde schnarrten die Eingeweide der Uhr und bereiteten sich zum Schlagen vor. Die Uhr schlug halb sechs, schlug um sechs, schlug halb, schlug um, halb um die Zeit, Tagesschau, halb neun, dann will ich mal so langsam. Ach, schon? Wie schade. Ja, wie schade. Ganz ehrlich. Dass ich sie anschrie, an einem Weihnachtsabend: Für das, was sie immer so poetisch „das schwere Erbe meines Vaters“ nannte, gab es einen klinischen Begriff, und es war behandelbar, schon mal davon gehört! Mein Gott, sie war doch nicht die einzige Frau auf der Welt, die von ihrem Mann betrogen und verlassen worden war, oder die den Krieg erlebt hatte! Wollte sie nicht oder konnte sie nicht, und gab es einen Unterschied zwischen Nichtkönnenwollen und Nichtwollenkönnen? Dann geht doch zu eurem lustigen Vater. Und dann, mitten im Streit, stellte sie mir mit dem feinen Instinkt des Opfers für den falschen Zeitpunkt ihre Frage. Mein Gott, sie hätte mich besser kennen sollen, ich konnte nicht lügen, das wusste sie genau, ich fühlte kein Ja und ich fühlte kein Nein. Mein Zögern war ihr Antwort genug. Nach zwanzig endlosen Sekunden sagte ich: Ich will dich nicht lieben müssen, ich will dich lieben dürfen. Verflucht und frohes Fest, ganz ehrlich.

Überhaupt, die Liebe! Was die alles leisten sollte bei uns zuhause. Da wäre der fleißigste Sklave überfordert gewesen. Dabei war ja immer genug da! Im Keller hat, seit ich klein war, ein Tresor gestanden, der war randvoll mit Liebe. Bloß, das Schloss hat geklemmt, und keiner kam ran. Wir haben gerüttelt und gezerrt, und schließlich haben wir uns aufs Schreien verlegt. Aufs Anschreien, aufs Rausschreien, aufs Fordern. Jeder hat gehofft, wenn er am lautesten brüllt, dann bekommt er ein Stück von der Liebe. Ich wusste immer, sie war da, aber ich kam nicht dran, ich fühlte sie nicht. Ich hatte keine Schuld, und meine Schuld war unermesslich.

Es wurde Nachmittag. Auf der Intensivstation konnte man nichts mehr für sie tun, und andere Patienten brauchten den Platz dringender. Hier, im zarten Olivgrün eines gewöhnlichen Stationszimmers, würde sie sterben. Für jeden Menschen gibt es einen Ort zum Sterben, dieser war ihrer. Sie lag im medikamentösen Tiefschlaf, ohne Angst, ohne Schmerzen, wie ich hoffte und betete zu ich-weiß-nicht-wem. Wo liegt mein Ort zum Sterben, dachte ich, wie sieht er aus? Gibt es ihn schon, ist das Haus, ist das Zimmer gebaut?

Ihr Hörgerät, ihre Brille, ihr Buch. Ein paar Dinge auf dem Nachttisch, die ich heute Morgen eilig zusammengesucht hatte. Wann war das gewesen, vor drei Stunden, vor hundert Jahren? Genährt von welcher Hoffnung? Sie war nie ohne Buch gewesen, niemals.

Das Bücherregal, das Herz des Wohnzimmers, seit ich denken konnte. Franz Kafkas betrübte Miene auf der Werkausgabe blickte aus dem Bücherregal auf meine Kinderspiele herab. Kafka hatte, das wussten wir früh, an seinem Vater gelitten, hatte an sich und der Welt gelitten. Wir Kinder, heimlich auch unser Vater, machten uns über seine abstehenden Ohren lustig. Sie mochte es, wenn Menschen … Nein, der Satz war ja ganz verkehrt, das durfte man doch nicht einmal denken! Noch einmal: Sie mochte Menschen, die litten. Kurt Tucholsky, schwerkrank und irre geworden am Unrecht seiner Zeit, vergiftete sich. Heinrich Heine, Jahre dahinsiechend in seiner Matratzengruft! Oder die Juden … Ja, die Juden. Sie liebte diese Menschen, liebte sie auf Friedhöfen, an Gedenkstätten, in Dichterhäusern. Sie schenkte ihnen, den Opfern, ihre wohlverdiente Achtung, ihre Liebe und Bewunderung. Die Welt, ein Stück gerechter. Sie selbst, getröstet für den Augenblick. Und wenn ihre Kinder unglücklich gewesen wären? Nur ein bisschen, ein kleines bisschen unglücklicher? Nicht einmal denken durfte man doch so etwas! Aber wenn, aber wenn … dann wäre sie nicht so mutterseelen-, so kinderseelenalleine gewesen.

Zwischen all den Büchern wohnten in unserem Bücherregal auch zwei Hunde, ein schwarzer und ein weißer Terrier, ein Mitbringsel von irgendjemandem. Sie waren kaum länger als mein kleiner Finger, in ihren Plastikleibern waren Magnete verborgen. Der Spaß bestand darin, dass, wenn man auf der Tischplatte den einen auf den anderen zuschob, dieser sich im letzten Moment blitzschnell drehte, so dass die beiden aneinander hingen, die Schnauze des einen am Hinterteil des anderen. Ich aber konnte mich lange mit dem Versuch beschäftigen, ihre Schnauzen zusammenzubringen, was natürlich nie gelingen konnte, da an dieser Stelle die Magneten einander abstießen. In jeder Faust eines der beiden Hündchen haltend, sah ich zu, wie mal die eine und mal die andere Hundeschnauze nach oben oder nach unten wegrutschte. Die beiden Hunde, der schwarze und der weiße, waren nur mit Gewalt dazu zu bewegen, sich in die Augen zu schauen. Später, viel später übten sie und ich uns im gleichen Spiel. Sie rutschte mir immer wieder nach oben oder nach unten weg. War ich der Schwarze? Der Weiße? Ihre Moral oder mein Mitleid, ich hatte die Wahl. Nur mit Gewalt und nur scheinbar ließen sich unsere Blicke zusammenzwingen, im Streit, im Verletzen, im Immer-Lauter-Schreien: Sieh mich an. Sieh mich an! SIEH MICH VERDAMMT NOCH MAL NUR EINMAL, EINMAL RICHTIG AN!!! Ich wollte Schwarz und Weiß mischen zu tausend Grautönen, die dann vor Farbe explodieren würden, ich wollte ihr beweisen, wie es sein konnte zwischen uns, ich wusste, wusste, es war möglich, sie musste, musste, MUSSTE! es doch sehen.

Ihr Schwarz barg keine Hoffnung, sie wusste, es war niemals möglich. Ihr Weiß blieb strahlend.

Der Abend. Der Stationsarzt hatte sich nur mühsam überreden lassen, ihre Patientenverfügung zu lesen, sein Tonfall war der eines genervten Oberkellners gewesen, der keine Lust hat, meine Bestellung aufzunehmen. „Gut, Schmerz- und Beruhigungsmittel ja, künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe nein.“ Ich heulte. „Aber dann bestätigen Sie mir bitte schriftlich, dass Sie es in Kauf nehmen, wenn Ihre Mutter verhungert und verdurstet.“ Ich saß wieder am Bett meiner Mutter und nahm in Kauf, dass sie verhungerte und verdurstete. Das Verhungern und Verdursten sah friedlich aus. Ich sah ihr beim Verhungern und Verdursten zu, beim Einatmen und Ausatmen und dachte daran, wie sie mir alles Glück, das in ihr war, in den ersten Jahren ins Fläschchen gefüllt, in den Brei gerührt, mit der Marmelade aufs Graubrot geschmiert, die Scheiben halbiert und geviertelt und alles an mich verfüttert hatte. Ich hatte, wie Kinder es tun, mit hungrigem Schnabel verputzt, soviel eben da war.

Einatmen, Ausatmen. Ein. Aus. Noch. Nicht -

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Auf dem Stern des Streites befindet sich ein großer Gerichtssaal, in dessen Mitte auf einem Podest eine Maschine thront. Ihre Zahnräder bewegen sich in unbegreiflichem Rhythmus, manche mit trägem Schwung, manche hektisch flimmernd. Die Maschine produziert verwirrende Sätze, die mir um die Ohren fliegen. Ich soll antworten, es geht aber viel zu schnell, meine Antworten sind hilflos, abwehrend. Eine Serie von Hammerschlägen wie auf Metall begleitet jeden Satz, der Lärm ist kaum zu ertragen und bohrt sich in mein Hirn. Du sollst wollen. Ich will nicht. Aber du sollst wollen können. Ich kann nicht. Aber wir wollen, dass du wollen dürfen kannst! Was für ein Strafgericht. Mitten in meiner Verwirrung nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen, ich weiß, hohes Gericht, es ist der falsche Zeitpunkt, ich bin für eine ehrliche Antwort gar nicht gewappnet. Aber wenn ich schon dürfen soll, Hohes Gericht, dann möchte ich nur eines erfahren. Und dann steht die Frage im Raum. Als sie noch in mir war, erschien sie mir wie etwas Großes. Aber nun, da sie entblößt und zitternd im Raum steht, wirkt sie dürftig und bedürftig. Erbärmlich. Ich halte den Atem an, mein Herz pocht angstvoll, und doch auch voller Hoffnung: Das Zauberwort und endlich die Erlösung, kann es, darf es sein? Die Räder der Maschine verkanten, etwas rastet lärmend ein, mit einem gewaltsamen Ruck kommt alles zum Stillstand, die Maschine, der Stern, das ganze All. Konsterniertes Schweigen, das All schaut strafend und schweigend auf mich herab, und ich begreife, ich habe einen furchtbaren, einen nie wieder gut zu machenden Fehler begangen. Auf meinem Fall ins Bodenlose schreit man mir einen letzten Satz nach, etwas von wollen und müssen und dürfen. Behäbig setzt die Maschinerie sich wieder in Bewegung, das Reden geht weiter, in unbegreiflichem Rhythmus. Und ich? Ich kann nicht mehr wollen, und ich will nicht mehr sollen, und ich kann jetzt nicht mehr. Ich kann gar nichts mehr.

Jeder hat seinen eigenen Weg und seine eigenen Sterne. Schon von weitem sehe ich: Ein rötliches Leuchten ist um den Stern der Liebe, auf ihm pulsiert das Leben. Ich bin noch Meilen und Meilen entfernt, aber ich spüre bis hierhin die heimelige Wärme, die er ins All abgibt. Wie gerne ich dorthin möchte, dort, wo es warm ist, und wo Trost ist und Licht. Ein paar Zeilen eines Liedes huschen durch meine Erinnerung, und während ich schwebe, wiege ich die Hüften in Vorfreude: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“ Als ich mich dem Stern der Liebe nähere, erkenne ich, was dort wirklich los ist. Und ich erkenne, dass der Stern der Liebe eine einzige Wunde ist, eine Entzündung, in der es zuckt und fiebert und arbeitet. Vor Schreck und Ekel wird mir übel, ich möchte abdrehen und vorbeifliegen, doch es ist zu spät: Zu groß ist die Anziehungskraft, und ich werde rasend schnell angesogen von der stinkenden Wunde, der weichen Fäulnis. Oh bitte nicht, bitte nicht! Doch plötzlich wird, je näher ich komme, der Stern immer kleiner, und in dem Moment, da ich aufschlagen soll, da ist der Stern mein Herz. Und mein Herz, mein rohes, mein nacktes, mein lebendiges Herz zuckt in der Hand eines Dämons, der an einem Herd steht, in einer verschmutzten Küche. Fliegen surren wie von Sinnen, taumeln, verrecken im schwülen grauen Licht. Die Lippen des Dämons kräuseln sich zwischen den Haaren eines schütteren Bartes, er grinst. „Hu“ ruft er und schüttelt sich in gespieltem Entsetzen und wendet sich um zu zwei kleinen Mädchen, die sich erschrocken an die schmierige Spüle drücken, die Hände vorm Mund, die Augen weit aufgerissen. „Schaut nur, was für ein dreckiges Herz! Kinder, jetzt kochen wir Drecksuppe!“ Und mein Herz pocht und glitscht zwischen seinen Fingern über einem brodelnden Topf, aus dem es riecht wie Blut und Übelkeit. „Du bist nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch“, sagt er, und da bin ich nichts als ein widerlicher Klumpen Fleisch. Er darf nicht loslassen! Bitte, er darf nicht loslassen! Da lässt er los, und jemand schreit, und das bin ich, ich bin es, die da schreit! Ich flüchte, flüchte, und in meinen Ohren klingt noch einige Zeit das Kichern zweier kleiner Mädchen und ihre hellen Stimmchen: Papa, wann spielen wir wieder Drecksuppe kochen. Rötliche Hautfetzen wabern heiß um den Stern der Liebe und leuchten entzündet ins Dunkel. Es pumpt, es zuckt, es eitert und fault, und es kann nicht heilen. Niemals. Und das ist es, was auf dem Stern der Liebe wirklich passiert, und ich habe meine Kleinen geliebt und sie mich und liebe sie noch immer, und jetzt kochen sie Drecksuppe mit ihrem Vater. „Wenn wir uns im Tanze wiegen, ist mir so, als könnt ich fliegen, auf zu den Sternen, zum Himmel empor …“ Hinter mir verwehen schief und wie ein Weinen die letzten Töne eines Liedes.

Jeder hat seinen eigenen Weg … Der letzte Stern, den ich besuche, ist eine Stube, ich kenne sie gut. Sie riecht nach Staub und Holz und Sommer. Vormittags habe ich die Mama für mich alleine, ich glaube, es geht ihr schon besser, denn wir spielen Verstecken. Die Mama zählt. Ich stehe an der Wand hinter der offenen Wohnzimmertür und halte die Luft an. Ihre Stimme aus der Küche: „… achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig!“ Ich höre sie in der Speisekammer rascheln und beiße mir auf die Fingerknöchel: Jetzt nicht kichern, da findet sie mich ja gleich! Ihre Schritte, die sich der Stube nähern, jetzt kommt sie, sie kommt! Sie ist in der Mitte der Stube stehen geblieben, bestimmt steht sie da, schaut sich nach mir um und überlegt, wo sie mich suchen könnte. Stille, nur die Wanduhr tickt. Tickt und tickt und tickt … Die Luft, die ich angehalten habe, entweicht, ich luge um die Türkante. Die Mama hat die Hände auf eine Sessellehne gestützt. Das Ticken der Uhr, ungerührt. Ihr Blick. Zwei Fotos in dunklen Rahmen auf der Anrichte. Meine Brüder, so schick und erwachsen in ihrer Uniform! Sie sucht mich überhaupt nicht mehr. Warum sucht sie mich denn nicht mehr. Ich springe heraus, ich bin fröhlich, der Kloß in meinem Hals hat da gar nichts zu suchen. Ich bin schon fast ein Schulkind, keine Heulliese. „Mama, hier bin ich! Guck mal, hier bin ich!“ Ihr Lächeln, ihr Blick, aus dem ich wieder herausfalle und verloren gehe. Das Schlagwerk der Uhr schnarrt und bereitet sich zum Schlagen vor, das zehnfache „Dong!“ zittert in der Luft, tanzt mit den Staubkörnern in einem Sonnenstrahl. Mamas Blick schwebt über meinem Kopf aus der Stube, und wenn ich ein Vöglein wär, dann folgte ich ihrem Blick aus dem Fenster den Pflasterweg entlang auf die Straße ans andere Ende des Dorfes und durch ein Eisentörchen auf den Friedhof, weiter den Kiesweg entlang zu einem Rasenstück, wo zwei Birken, zwei junge, schön gewachsene, frisch gepflanzte Birken stehen, und weiter, immer weiter bis in ein Land, das ganz weit weg ist und Russland heißt. Wenn ich ein Vöglein wär, Mama?

III

Und dann habe ich all meine Sterne passiert. Ich hatte immer gedacht, im All ist es still, aber um mich ist ein feines hohes Summen, und plötzlich erkenne ich, was es ist. Dass ich nicht eher darauf gekommen bin! Ich habe es schon früher gehört, nachts, wenn es sonst ganz still war. Es ist die Zeit selbst, die da summt, und solange wir leben, hören wir sie nur als Ahnung eines Geräusches im Augenblick zwischen Wachsein und Schlaf, und nur manche von uns hören sie überhaupt.

Und aus all diesem ist das Summen der Zeit gemacht: Herzklopfen. Das Herzklopfen so vieler Generationen von Vorfahren. Einer Schwester. Eines Geliebten. Das Ticken einer Uhr in einem lange vergangenen Zimmer. Das ferne Bellen eines Hundes an einem Winterabend, immer desselben seit Anbeginn der Zeiten. Das jähe Rascheln des Windes, der in zwei Birken fährt. Die Schreie von Lerchen. Ein Choral aus dem Radio an einem Sonntagmorgen vor über vierzig Jahren; ein Messer ruckt durch ein Brötchen, schabt über Butter, Stimmen, Streit, ein Krümel fällt, fällt, fällt eine ewige Sekunde lang zu Boden, sein Fallen hallt jahrzehntelang im Ohr. Das Rollen der Ostsee, die Wellen drängen vorwärts und fließen zurück in der Dunkelheit hinter dem Ferienhaus, wo zwei kleine Mädchen längst in ihren Betten liegen. Sie sind den ganzen Nachmittag in ihren gelben Kleidchen die Dünen hochgerannt und wieder hinuntergerollt, und noch in dieser Nacht werden sich ihre runden braunen Gliedmaßen strecken und zu denen von Frauen werden. Die Zeit selbst gibt es nicht, es gibt nur, was sie anrichtet. Und die Zeit richtet an, dass jedes Kind lernt, etwas anderes zu können als zu lieben und etwas anderes zu wollen als geliebt zu werden.

Ein sanftes Wort, ein erster Schrei.

Die Zeit arbeitet und verdichtet sich, aus dem Summen wird ein Murmeln, aus dem Murmeln wird ein Tosen, das tief und mächtig in mir rauscht. Fragen, tausend Fragen wie das Murmeln eines Baches; von allen Seiten kommen neue Fragen, aus dem Bach wird ein Fluss wird ein Strom, der mündet ins Meer, und das Meer ist die Antwort. Und ich verstehe die Antwort und habe doch keine der Fragen verstanden. Es ist Zeit. Es ist gut.

Aus dem Dröhnen wird ein Grollen, aus dem Grollen wird ein Summen, das erstirbt, alle Zeit hört jetzt auf. Es ist still, endlich still. Ganz entfernt noch ein paar Sternenschlieren, Funken, die zerstieben, der letzte Funke erlischt und jetzt der allerletzte ein schwächliches Verglühen im All jetzt kaum noch auf der Netzhaut und jetzt nur noch Erinnerung an das Verglühen und weiter vorne kommt nichts mehr ich weiß nichts mehr und bin jetzt an allem, an allem vorbei. Ich bin jetzt

Vorbei, es war vorbei. Sie war vorbei. Kein Ein, kein Aus. Sie war vorbei und fort von mir und allen Dingen. Ihr Buch, ihre Brille, ihre Hände, ihr Gesicht. Ihr Gesicht, so geschafft, endlich geschafft. Ich nahm nach einer Weile die Dinge, die nicht mehr ihre waren und packte sie in die Tasche, die nicht mehr ihre war und trug sie aus dem Zimmer, den Flur entlang und fort von ihr. Ich stand mit der Tasche, die niemandem gehörte, im Freien, ein Wind fuhr in die Birken, die den Weg zum Parkplatz säumten. Und tief in meinem überraschten Herzen, da, wo das Liebhaben und das Traurigsein am meisten wehtun, zerbarst ein Schloss, und es öffnete sich mit Gewalt und Getöse und viel zu spät der verfluchte Tresor, und sein Inhalt quoll mir entgegen: Alles für mich, für mich ganz allein.

Ein paar Wochen später löste ich ihre Wohnung auf. Das war nicht die stille Einkehr, die Begegnung, das Zwiegespräch mit ihr, das ich mir für diese Aufgabe immer vorgestellt hatte. Es war packen, räumen, aussortieren. Es war erledigen, organisieren, telefonieren. Mit der Sparkasse. Mit den Versicherungen. Mit der Entrümplungsfirma. Und es waren ihre Augen, die mich aus einer Zimmerecke ansahen, wann immer ich etwas wegwarf. Ich warf vieles weg, sie hatte keine Schätze gehabt bis auf einen einzigen, und aus dem pickte sich der Buchhändler vom Antiquariat noch ein paar Brocken heraus und gab mir sechzig Euro dafür. An diesem Freitag war ich nach der Arbeit noch lange in der Wohnung gewesen, wenn ich mich ranhielt, würde ich am Wochenende fertig werden. Das Sofa und einige andere Dinge würden morgen die Kollegen von der Arbeitslosenhilfe abholen, doch vorerst lag ich rücklings darauf, erschöpft vom Wühlen und Schleppen, mit meiner Tasche als Kissen unter dem Kopf. Mein Blick fiel durch die geöffnete Terrassentür in den Garten. Draußen feierte der Sommer ein Fest, das ganz große Schauspiel, die ganz große Sinfonie. Da! Ein Eichhörnchen machte sich an den Sonnenblumenkernen zu schaffen, die noch vom vergangenen Winter auf der Terrasse lagen. Plötzlich hielt es inne und saß mit erhobenem Köpfchen ganz still da, lauschte, witterte, huschte schließlich davon und verschwand in der Dämmerung, ein geschmeidiger brauner Schatten. Niedlicher kleiner Kerl, dachte ich und musste eingeschlafen sein, denn im nächsten Augenblick stand meine Mutter auf der Terrasse, genau da, wo das Eichhörnchen nach Kernen gesucht hatte. Sie hatte eine Hand an eine Leiter gelegt, die neben ihr stand und so hoch aufragte, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Sie schaute mich an und schaute an der Leiter hoch und lächelte. „Was willst du denn mit der Leiter?“ fragte ich sie. „Was ist denn da oben?“
„Nichts“, sagte sie. „Gar nichts.“
Wieder sah sie mich an, und wieder lächelte sie auf diese liebe und ein wenig ironische Art, als kenne sie ein schönes Geheimnis. „Weißt du noch“, fragte sie mich „als ich damals mein Hörgerät bekam?“
Ich war verdutzt. Warum fing sie jetzt mit ihrem Hörgerät an?
„Du hattest mich abgeholt an dem Nachmittag“, fuhr sie fort. „Wir waren spazieren, weißt du noch, den Feldweg entlang, den wir manchmal gegangen sind. Da habe ich zum ersten Mal seit Jahren die Lerchen wieder singen hören. Ich hatte doch gedacht, es gibt gar keine mehr. Bist du traurig, meine Kleine?“ Und ihr Blick suchte mich, und ihr Lächeln meinte mich.
Ich sah sie an. Ich sah sie an, und dann sagte ich es ihr. Dass ich das mit den Lerchen noch wusste und nur vergessen hatte. Dass ich wusste, es war nur ein Traum, aber ich, ich träumte ihn ja, und so war er doch wahr. Dass jedes Kind mit einem Herzen wie dem der Lerche geboren wird, die mit einem Jubelschrei ins Nachmittagsblau des Sommers steigt. Dass wir alle uns schuldig machen, immer wieder, und dass es niemals Schuld ist. Und dass die Antwort Ja ist.

Dann wachte ich auf, und eine Traurigkeit und ein Glück überfielen mich mit solcher Wucht, dass sie von jeder meiner Zellen Besitz ergriffen und ich aus ihnen bestand und aus nichts sonst. Tränen liefen mir die Schläfen hinab in die Haare, ich war schwer wie ein Fels, und ich rührte mich nicht. Eine Ewigkeit später stand ich auf, ging in die Küche und trank Wasser aus meinen hohlen Händen, trank in langen, durstigen Zügen.
 
D

Dominik Klama

Gast
Ich mache mir mal wieder gar keine Freunde. Aber egal. Man kann immer Recht haben und dennoch ein Idiot sein...

Erst mal: As good as it gets!
Mit das Beste, was man in solchen Internetforen zu lesen bekommt. Besser werden die Schreiber hier nie. Wenn sie besser sind, waren sie von Anfang an nie hier, sondern auf irgendwelchen anderen Sternen, haha.

Es geht daher etwas an der Natur der Angelegenheit vorbei zu fragen, wie findet ihr denn das, ich bin mir nicht so sicher, habt ihr Vorschläge, was man verbessern könnte. Erstens schreiben die in der Runde Gefragten, selber alle deutlich schwächer, zweitens offeriert der Text ja keine "einfachen" Ansatzpunkte für Kritik und Rat mehr: dass noch Rechtschreibeverseher, Kommafehler, falsche Zeitenfolge, unkorrekte Konjunktive drin wären. Auch nicht dieses: "Tu da mal den einen Satz noch raus, dort das unnötige Adjektiv" und so weiter. Drittens kann man das nur noch auf der Ebene des "Geschmacks" kritisieren. Mal ein Beispiel von ganz wo anders: Manche Leute mögen grundsätzlich Filme, nicht, wo man sehen kann, wie Messer oder Nägel in die Augen schreiender Menschen stechen. Die können sonst noch so perfekt gemacht sein, diese Leute wollen sich so was einfach nicht ansehen, die blocken ab und fertig.

In etwa dieser Weise muss man deine Geschichte diskutieren: Ist es zärtlich, weise, wunderschön? Oder ist es süßliches Kunsthandwerkgetue? Die einen sagen das, die anderen sagen das. Und beide haben Recht. Jeweils eben für sich und den Schlag Menschen, die sie repräsentieren.

Du bist hier auf einem Niveau, wo du, wenn deine persönlichen Beziehungen und die günstigen Momente des Schicksals vielleicht etwas zugeneigter gewesen wären, genausogut auch solche Texte in fester Buchform vorzeigen könntest. Eine Frau-für-Frauen-Autorin, die durch Buchhandlungen reist von Lesung zu Lesung. Irgendein Nagel & Kimche-, Herder-Verlag hätte anbeißen können, keiner von den ganz großen, jedem bekannten, aber immerhin, deine Schreiberexistenz wäre es.

Zweimal wird in der Geschichte drauf insistiert, dass "deine ehrliche Meinung" gefragt ist, der Assistenzarzt in Krankenhaus, die Tochter auf Besuch bei ihrer alten Mutter, die fragt, liebst du mich denn nicht. Gut, diese Sorte brutal ehrlicher Antwort kannst du von mir haben.

Natürlich ist der Text viel zu lang. Da muss man aber nicht einzelne Sätze oder Absätze entfernen, man muss komplett alles rauswerfen, was kursiv gedruckt ist. (Guck, ich hab euch vorgewarnt, die Mehrheit meint wieder, der spinnt nur.)

Es sind, wie ich gerade sagte, solche Geschichten durchaus gebräuchlich. (Ich sagte: Ich könnte sie mir gut im Buch verlegt vorstellen. Nur: Nicht jeder muss jedes Buch lesen, das jemand verlegt hat.) Im Kino, wenn es um die Beziehung erwachsener Kinder zu ihren alt gewordenen Eltern oder um das Sterben älterer Leute geht, wird inzwischen nahezu jedes Mal "so was gezeigt" wie hier. Das Kino ist ein Populärmedium. Daher kann es es nicht sein Bewenden damit haben lassen, wenn Unheil beschrieben wird. Das Kino verlangt immer nach Happy Ending. Nach zumindest Sinn. ("Wenn ich schon sterben muss, dann als Opfer für diese Kinder hier.") Da der Tod so etwas nicht ist, kann Kino dem Tod nicht einfach nur zusehen, es muss ihn als "irgendwie doch gut" erklären. Der Mann ist tot, aber jetzt kommt er zurück - im Geist - umarmt die Frau und wird von nun an immer bei ihr sein an jedem Tag ihres Lebens. Die Oma ist tot, jetzt winkt sie von der Wolke runter, wir seh'n uns ja wieder, ich mach schon mal Kaffee.

Kunst kann das. Kunst kann so tricksen. Noch nie war einer drüben. Aber Kunst erzählt uns andauernd, wie es sich anfühlt, zu sterben und wo wir dann hingehen und uns alle wiedersehen irgendwann.

Die Frage ist: Wo ist es Beschreibung der Not und des Wunsches derer, die was verloren haben? Wo ist es Scheinlösung, Märchen, Kitsch?

Gerade literarisch engagierte und interessierte (also viel lesende!) Frauen sind oft mit ihrer schwachen Seite für Kitsch ausgestattet. Schreib über Natur, über erste Liebe, über Behinderung, über Tierfreundschaften, über Kinder, über Reisen, über Kochen, über Krieg, über Tanzen... aber schreib es ein wenig kitschig, nicht so logisch, ein wenig süß, die Frauen werden es lieben! (Julia-Roberts-Filme) ("Man kann immer Recht haben und dennoch ein Idiot sein.")

Du hast hier viel zu viel reingelegt. So viel Aufwand hättest du nie treiben müssen. Magerer, sparsamer, schlichter - und es wäre richtiger gewesen. Das Eichhörnchen am Balkon. Anfang und Ende begegnen sich, die tote Mutter ist gegenwärtig. Die Leiter, eines der ausgelutschtesten pseudobiblischen Schreiber-Symbole.

Woher wissen wir überhaupt, dass die Leute mitkriegen, dass sie sterben? Beim Tod meiner Mutter war ich verhindert, meine Geschwister hingegen berichteten, die Mutter habe sie irgendwann nicht mehr erkannt. (Sie wurde auch nach dieser Patientenverfügung nicht mehr künstlich am Leben erhalten. Also verhungert und verdurstet gelassen. DAS ist gut. Etwas so hart schreiben, wie es tatsächlich ist.) Sie lag nur da, niemand konnte wissen, ob und was sie dachte, was sie mitkriegte, wo sie war. Dann schien der Körper zu begreifen, dass er sterben musste. Sie wütete, raste, schrie, musste ans Bett gefesselt werden. Aber ob SIE es überhaupt wusste, dass sie brüllte, wer kann das sagen?

Du natürlich. Du kannst es sagen.

Du als Erzählerin bist in den Gedanken und Erinnerungen der sterbenden Mutter. Du kannst sie begreifen lassen, dass es immer nur um die Fähigkeit des Liebens ging und dass sie das doch auch immer tat und auch von der Tochter immer bekommen hat.

Es ist natürlich gelogen. Du weißt das nicht. Du denkst dir das aus. Damit die Leute eine "schöne Geschichte" lesen. Damit die Ratlosigkeit ihre Antwort erhält. Ich nenne es Kitsch. Andere nennen es anders.

Diese Sternenreise - wobei längere Absätze erscheinen, die man kaum versteht, was soll das mit dem dürfen, müssen, können, sollen? - ich würde sie unbedingt kippen! Das erinnert schnell an Antoine de Saint-Exupéry und "Der kleine Prinz". Erstens ist "Der kleine Prinz" ein absolut fürchterliches, mehr oder weniger wertloses Buch. Und zweitens darfst du als kommende Autorin dir nicht selbst einbrocken, dass die Leute dich in nächster Zeit als "die, die immer Saint-Exupéry nachmacht", in den Köpfen haben.

Und: roter Stern der Liebe, aber er ist krank, er ist faul, Würmer im Herz. Oder was weiß ich. Es erreicht einen Punkt, wo die Leserin es gar nicht mehr mag. Es war so schön über Kinder und Eltern, die sterben müssen und dass man dann nie weiß, ob man nicht hätte mehr... und jetzt diese Horrorfilm-Stelle! Irgendwie ist die ja schon eklig.

Das Buchregal und diese Kafkaerscheinung würde ich komplett streichen. Die Hundemageneten gehen ohne jeden Verweis auf die Art Bücher, die die Mutter las. Der hier beschriebene Kafka ist auch wieder so eine Art Kitsch-Held, eine bildungsbürgerliche Heiligenfigur. Man hätte ihn doch so gerne gehabt, wenn man ihn hätte persönlich treffen dürfen. "Sie hatte die Juden gern, sie mochte seine Segelohren." Kafka ist so abgefahren an vielen Stellen, dass die meisten Leute, die ihn lesen, ganz zu Recht keinen Zugang dazu bekommen, er ist verrückt, man bekommt nicht so leicht Zugang zu Verrückten. Aber diese Sorte Bildungsbürger tut so, als wäre sie mit ihm gemeinsam im Bus auf der Seniorenreise in die Goldene Stadt gesessen und hätte Magenbitter getrunken.

Außerdem kommt die Frage gleich auf, wenn der einzige Schatz der Mutter ihre Bücher waren und die Tochter sich mit dieser Art Buch auskennt und es offenbar kein Schund war, der Name Kafka zeigt es an, warum verkloppt die Tochter den Schatz nun für sechzig Euro und hebt ihn nicht wenigstens im Keller bei sich daheim weiter auf? Warum verschenkt sie die Bücher nicht an kleine Sextanerinnen, wie die das in der Verfilmung dann machen würde?

Alles, was in dieser Geschichte "Ich stelle mir vor" ist, würde ich erbarmungslos streichen. Wenn sich hier jemand was vorstellt, dann soll es dein Leser sein. Du, die Autorin schreibst nur, was ist, was war, was die Erzählerin gefühlt hat, woran sie sich erinnert. Und dann stellt der Leser sich über diese Grundmelodie hinaus noch was vor.

Du kannst das, du bist wirklich gut.

Ich kam immer wieder, zu ihren Brotscheiben vom Vorvortag, zu ihrer Halbfettmargarine, zu ihrem Käse, der an den Rändern hart und glasig war, zu den Abendbrotbrettchen mit dem Siebzigerjahremuster. Zum Ticken der Wanduhr, von ihrem Vater geerbt, einem langsamen, schwermütigen und zuletzt völlig verkalkten Mann. Zu jeder halben Stunde schnarrten die Eingeweide der Uhr und bereiteten sich zum Schlagen vor.
Es wäre gut genug gewesen, die gesamte Geschichte aus solchen Beobachtungen aufzubauen. Im Krankenhaus, meinetwegen auf der Terrasse, die Magnethunde, wunderbar!

Das Dröhnen der Zeit... Oder wie war das? Ich kann das ja nicht mehr so leicht sehen, wenn ich hier tippe an der Antwort. Jedenfalls, dass die Zeit hörbar wäre. Richard Powers (eher allerdings der dt. Verlag), von dem ich nur ein Buch gelesen und es sowieso nicht gemocht habe, titelt: "Der Klang der Zeit". Von Ossip Mandelschtam gibt es: "Das Rauschen der Zeit". Bei dir, die das so gut vorbereitet hat mit der tickenden Küchenuhr des Vaters der Mutter und ihrem inneren Räderwerk (solche Bezüge: die einen Leute finden es höchste Kunst, die anderen aufdringlich, die letzte Wahrheit kann man nicht sagen), ist es eine Art Weltallmaschine, an der die sterbende Mutter vorbeifliegt. Eine Maschinerie.

Das aber ist wie die Leiter zum Himmel. Es ist nur eine von der Literatur schon arg ausgelutschte Metapher. Die Zeit ist, wie wir alle wissen, nicht existent für das menschliche Herz. Nicht, wenn es uns gut geht. (In der von uns gewählten Arbeit des Schreibens schlägt keine Stunde mehr für uns. Wir sind außerhalb der Zeit.) Wenn es uns nicht gut geht, wenn wir mit schmerzendem Backenzahn beim Zahnarzt sitzen und es kommen noch zwölf vor uns dran, ist die Zeit schlicht eine Folter, sonst nichts. Ansonsten aber ist sie außerhalb von uns.

Wir machen die Kühlschranktür auf. Wir greifen ein Ei aus der Tür. Wir öffnen die Finger. Das Ei liegt zerschlagen am Boden. Niemand kann bestreiten A kam vor B und B kam vor C. Diese Art Abfolge nennen wir Zeit. Zeit ist, wenn sich was im Raum bewegt. Das Ei war oben und ganz, jetzt ist es unten und kaputt. Es hat sich bewegt. Bewegungen sind reversibel. Morgens fahre ich ins Büro, abends zurück. Nicht aber Bewegungen in der Zeit. Das Ei wird nie wieder nach oben fliegen. (Außer in deiner Geschichte. Da wird es am weißen Stern des Nachdenkens vorbeifliegen.)

Zeit. Man kann nur in eine Richtung fahren. Oder fliegen. Man kann nie mehr umkehren. Das bringt den denkenden Menschen auf dieses Flussbild. Wasser fließt auch nie mehr zurück. Dieses Bild dann zum Rauschen. Der Fluss rauscht vorbei. Die Zeit rauscht vorbei. Man kann aber an dem Fluss entlang zurück zur Quelle gehen. Das ist Raum. Man kann es nicht in der Zeit.

Das ist, wo wir zu schreiben anfangen. Klein-Proust beschreibt das Ticken und den Geruch in Omas Küche, den Herd, den Vogel im Käfig, die Siebzigerjahrebrettchen. Das ist gut. Mach da weiter! In dem Moment, wo wir das tun, sind wir, die Autoren, natürlich zurück in der Zeit. Wie oben schon stand, sind wir beim Schreiben sowieso aus der Zeit heraus - und nun sind wir eben zurück in Omas Küche.

Allerdings ist der Versuch, es für andere auch zurückzubringen, vergeblich. Die Tochter, wenn sie vor ihrem eigenen Tod steht, kann ihren Enkeln zwar vom der Küche von deren Uroma erzählen, man kann solche Küchen dann oft auch mal wiedersehen in Heimat- und Freilichtmuseen, aber es sind leere Küchen. Da wohnt keiner, da wird nie wieder einer drin wohnen. Nicht so, wie es mit den Menschen wirklich mal war. Und die Enkelkinder können es anhand der Erzählung von der Uroma, die sie nie persönlich getroffen haben, nicht wirklich empfinden. Es ist nur eine Frau, die irgendwann mal gelebt hat. Lange, lange vor ihnen.

Alles zerbricht. Und das ist der Tod. Der Frühling kommt, die Bäume bekommen alle Blätter zurück. (Das zeigen so Filme dann auch gerne.)
Aber nie mehr dasselbe, eine, das eine Blatt, um das es eigentlich hier ging. Wer so tut, erzählt Märchen.
 

Wipfel

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Bewertung der Kommentare

Arno, wenn es sie gäbe - die Möglichkeit eine Kritik zu bewerten - ich würde dir eine Zehnkommanull zeigen. Ungeschminkter Respekt!

Und an das Forum: Warum gibt es diese Möglichkeit der Kritikerbewertung nicht?

Grüße von wipfel
 
Wipfel, auch wenn dich vielleicht enttäusche - Bewertung von Kritiken nach Punkten halte ich für keine gute Idee. Besser, der Nachkommentator setzt sich bei Bedarf inhaltlich mit dem Vorkommentar auseinander. Qualität lässt sich nur schlecht nach rein quantitativem Schema beurteilen. Schon bei den Texten selbst haben hier ja viele dabei Skrupel, ich manchmal auch.

Arno A.
 

fraulange

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Hallo zusammen, hallo Dominik,

Dominik, ich versuche mal, möglichst klar und zusammendfassend auf das einzugehen, was Du schreibst - in der Kürze gar nicht so einfach, denn was Du ansprichst, könnte auch eine lange Diskussion darüber aufwerfen, was Literatur kann oder soll oder darf. Ich finde Deine Meinung ehrlich, aber ich habe sie nicht als brutal ehrlich empfunden, sonder als völlig ok. Du selbst betonst ja mehrfach, dass beim Lesen von Geschichten oder beim Ansehen von Filmen so viele Reaktionen, Meinungen, Gefühle auftauchen, wie es Leser(gruppen) gibt. Und klar: Was dem einen Poesie, ist dem anderen Kitsch, und beides stimmt, weil der jeweilige ja genau so empfindet. Und wenn Du beim Lesen etwas als Kitsch empfindest, dann hat das seine Berechtigung, denn es ist ja da als Gefühl!

Die meisten Menschen sind wohl so veranlagt, dass sie auch den schwierigen und schmerzhaften Dingen des Lebens Sinn verleihen wollen. Da wird beschönigt, projiziert, umgedeutet. Vielleicht sind Illusionen ein wichtiges Mittel, um sich Depressionen vom Leibe zu halten, ein beunruhigender Gedanke.

Wer projiziert? Die Mutter ja wohl nicht mehr, die ist ja tot und hat auch in den wenigen Stunden vor ihrem körperlichen Tod im besten Falle nichts mehr gespürt und erst recht keine poetisch-literarischen Träume von Leitern oder Uhrwerken oder Flüssen mehr gehabt, da kann es kaum zwei Meinungen geben. Bleibt die Tochter, und die projiziert, was das Zeug hält, versucht, Erklärungen zu finden, versucht, mit Schuldgefühlen umzugehen, versucht weiterzuleben, und zwar gut weiterzuleben. So machen Töchter das, fiktive und reale. So machen Menschen das. Und Literatur darf das und soll das zeigen, mit welchen Mitteln auch immer. Leitern und Uhren sind abgelutscht, da hast Du recht, vielleicht sind sie aber auch archetypisch wirkende Symbole. Und ein Ei? Ist natürlich ein Körper mit bestimmter Masse und Volumen, der sich innerhalb der gegebenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten zwischen zwei Zeitpunkten x und y irgendwie verhält. Es kann aber auch das letzte Kriegsei sein, aus aus dem eine fiktive Großmutter ihrer fiktiven Familie einmal einen Kuchen backen wollte und das dann auf den Boden klatschte usw. usw. Und wir sind auf dem Fluss der Zeit ;-) neunzig Jahre zurückgepaddelt, warum denn nicht, um Zeugen dessen zu sein.
Kitsch? Kunst? Abgelutscht? Sozialromatisch? Rührend? Das beantwortet jeder für sich.

Oje, nicht, dass die anderen Leser hier zuviel kriegen, dieses Thema könnte uns wirklich ins Hundertste und Tausendste bringen, ohne dass wir je "die Wahrheit" fänden. Nur soviel: Ich danke Dir sehr für die Beschäftigung mit der Geschichte und fand Dein Feedback prima, und vieles, was Du schreibst, bringt mich auf ganz neue Ideen. Die kursiven Stellen bleiben für diesmal drin, trotz Kleiner-Prinz-Vorwurfs (autsch! - aber ich weiß, was Du meinst). Bei einer nächsten Geschichte bleibe ich vielleicht härter an der Realität, mal sehen.

Von Franz Kafkas Augen milde verfolgt - könnte ich DEN weggeben, also wirklich! Er steht nicht mehr so hoch wie früher, und sein Gesichtsausdruck hat irgendwie was Freches ;-)

- grüßt Kristin.
 



 
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