Das Honigkuchenpferd

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Die großen, starken Jungen in der Klasse, du warst keiner von ihnen, sie wetzten ihre Lästerzungen an Lehrern, die sie hassten. Dieses Lehrpersonal mit verächtlichen Kraftausdrücken zu belegen, hämisch herausgestoßen, wenn man unter sich war, das war die einzige Rache, die sie nahmen für schulische Misserfolge, Niederlagen, Kränkungen. So nannten sie die junge Biologielehrerin gern Gesichtseintopf und grinsten dabei gehässig. In deinem Wortschatz fehlte bislang dieser Begriff, seine Bedeutung ließ sich anhand von Mimik und Gestik der Sprecher erschließen. Im Übrigen waren dir das Fach wie die Lehrerin recht gleichgültig.

Anders verhielt es sich mit Geschichte und der Studienrätin, die diese Vierzehn-, Fünfzehnjährigen darin unterrichtete. Sie wurde bald das Honigkuchenpferd genannt. Auch das war keineswegs Schmeichelei, wie man deutlich zu verstehen gab. Die neue Lehrerin war ihnen schon zu verblüht mit ihren etwa vierzig Jahren, gerade nicht zum Anbeißen, und die Assoziation beruhte auf etwas anderem: einem eng anliegenden braunen Strickkleid, das sie gewöhnlich trug. Selbstgestrickt oder nicht, das wurde immer wieder erörtert. Sie besaß davon eine kleine Kollektion in Rehbraun oder Waldhonigfarbe und anderen Nuancen. So gewandet tänzelte sie vor der Klasse und erörterte lang und breit den Investiturstreit und dergleichen, damit nur Unverständnis und Langeweile erntend. Dass sie es mit befremdlich wirkendem bayerischen Akzent tat, machte die Sache nicht besser.

Es war nicht zu übersehen, das Honigkuchenpferd war pädagogisch unbedarft. Die Lehrerin schien die Altersstufe ihrer Schüler nicht in Rechnung zu stellen und präsentierte den Stoff ganz wie in einem historischen Proseminar. So entwarf sie an der Tafel detaillierte Schaubilder zum Geschehen um 1200, drehte sich auf dem Absatz um, tänzelte wieder vor der Klasse und redete dabei immer schnell weiter, so eindringlich wie vergeblich. Bald breitete sich Unruhe aus, Nebendinge wurden getrieben. Auch dir blieb der Investiturstreit nebelhaft fern und dennoch hörtest du ihr gern zu, zunehmend fasziniert, wenn sie die Klasse mit Fremdwörtern und Fachbegriffen überschüttete. Da war etwas zu spüren, das du an deinen Lehrern gewöhnlich vermisstest: Begeisterung für den Stoff.

Sie schien in den Stunden immer gut gelaunt, machte Scherze, deren Witz und tiefere Bedeutung den meisten verborgen blieben, und wirkte dann leicht irritiert wie ein Humorist, dem die Pointe misslungen. Zur Halbjahreszeit ergab die schriftliche Prüfung von Wissensstand und Lernerfolg mehr Lücken als Kenntnisse und sie suchte nun Hilfe bei der Klassenlehrerin. Als die allen ins Gewissen redete, mehr Lernen forderte, brach ein Sturm los. Die großen, starken Jungen waren die Wortführer und die anderen applaudierten – nur du nicht. Sie führten alles gegen sie an, was dir gerade an ihr gefiel, ihre Sprache vor allem, ihr Tempo. Und als sie zu leises Vortragen bemäkelten, stelltest du richtig: Stimmt nicht – sie muss oft sogar schreien, bei dem Lärm, den ihr immer wieder macht.

Es kamen schwierige Wochen für dich … Das widersprach allem Herkommen: Schüler verteidigt die verhasste Lehrerin vor der Klasse. Es war so regel- und normwidrig, dass deine Sympathie für sie dich langsam selbst genierte. Im Jahr darauf kam ein neuer Fachlehrer für Geschichte und das Honigkuchenpferd geriet aus deinem Blickfeld. Es scheint, dass es im Lauf der Zeit auf andere Triften wechselte, hoffentlich hin zu mehr Glück und Erfolg.
 
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Hallo Arno,

finde ich ja interessant, was Du über die Lehrerin schreibst. Das man mal so jung war, dass man Vierzigjährige für alt gehalten hat, finde ich schon merkwürdig. Aber das kenne ich auch. Lehrer ist schon ein komischer Beruf. Von dutzenden Augenpaaren wird man misstrauisch beobachtet, und auf seine Schwachstellen abgetastet.

Ich habe mir eben gerade überlegt, was man eigentlich, von dem, was man in der Schule lernt, im Leben braucht, es sei denn, man studiert. Was haben früher sie in der Schule die armen Kinder mit Russisch gequält, und nicht einmal habe ich das gebraucht. Eigentlich geht die Schule ja davon aus, dass alle Kinder gleich begabt sind, was natürlich überhaupt nicht stimmt. Vielleicht müsste man das mehr berücksichtigen, was ja vielleicht in den Montessorischulen versucht wird. Viele bekannte Leute, dabei leider auch Adolf Hitler, waren ja totale Schulversager. Herrmann Hesse und Thomas Mann haben ja auch kein Abi geschafft.

Kennst Du den Film „Den Wald vor lauter Bäumen“, ein realistischer Film über eine junge Lehrerin? Mit diesem Beruf bin ich sehr verbunden, nicht weil ich ihn selber in der Volksbildung mein Brot verdiene, sondern meine Mutter hat ihn ausgeübt. Sie hat extreme Disziplinschwierigkeiten gehabt, und konnte sich überhaupt nicht durchsetzen. Jedes Mal wenn ich außen an der Hauswand an einem Klassenzimmer vorbeigekommen bin, in dem sie gerade unterrichtet hat, habe ich ein ohrenbetäubendes Gebrüll vernommen, und sie hat mir leidgetan. Ihren Frust hat sie dafür an mir ausgelassen, und mich jahrelang, bis ich mich gewehrt habe, verprügelt.

Auf der anderen Seite war sie aber auch keine besondere Lehrerin. Sie wusste als Deutschlehrerin nichts davon, dass es eine Krankheit namens Legasthenie gab, was wohl die Ursache dafür war, dass einige mit Lesen und Schreiben Probleme hatten. Auch von diesem unsäglichen System der Jugendwerkhöfe und den Zuständen in den Heimen für Schwererziehbare wollte sie nichts gewusst haben, und auch nicht davon, dass Klauen und Lügen bei Kindern auf sexuellen Missbrauch hindeuten kann.

Aber schlechter als die anderen war sie auch nicht. Über sowas haben sich ihre Kollegen auch nicht den Kopf zerbrochen. Sie mochte auch nur die Kinder, die aus angesehenen Elternhäusern stammten, und bei denen alles in Ordnung war. Für die aus komplizierten Verhältnissen, die ja vielleicht eher ihrer Anteilnahme bedurft hätten, hat sie wenig übriggehabt. Sie war so der Typ Lehrer, wie der in dem Film „Leolo“, übrigens mein Lieblingsfilm, zu dem der Dompteur der Worte kommt, und ihn fragt, ob er dem hochbegabten Jungen helfen kann, und der darauf sinngemäß antwortet: „Der eine Teil der Schüler geht später in die Fabrik, die schlaueren schreiben Strafzettel bei der Polizei, was geht mich ausgerechnet dieser Junge an.“

Ich hatte als Kind das zweifelhafte Vergnügen, auf dieselbe Dorfschule zu gehen, an der auch meine Mutter unterrichtet hat. Auf dem Schulhof und auf den langen Schulfluren war ich natürlich Mode, und wurde von Schülern, die gar nicht kannte mit Schimpfworten bedacht und angerempelt. Wie sehnsüchtig habe ich mir gewünscht, dass mein Vater, den ich nie gesehen hatte, Traktorist wäre, wie die Väter der anderen, und meine Mutter im Dorfkonsum Verkäuferin. Dann hätte ich mich nahtlos einfügen können, und wäre bestimmt schon lange mit den Nachbarsjungen verheiratet. Aber leider sind diese Wünsche nicht in Erfüllung gegangen. Das Kesseltreiben nahm solche Ausmaße an, dass ich schon an Selbstmord dachte. Diese Zeit, als stark suizidgefährdeter Teenie, habe ich aus meinem Gedächtnis gestrichen. Auch in meinen schwärzesten Zeiten hier in Berlin habe ich niemals Sehnsucht nach meinem Dorf verspürt.

Weißt Du was merkwürdig ist: Mein Freundeskreis hier besteht fast nur aus ehemaligen Lehrerkindern, und sie sind auch alles Norddeutsche, die es nach Berlin verschlagen hat. Wir müssen eine unbewusste Anziehungskraft aufeinander ausüben. Wahrscheinlich ahnt man, dass man eine ähnliche Kindheit gehabt hat.

Hoffentlich ist Dir mein Kommentar nicht zu off Topic, aber der Text über die Schule hat Assoziationsketten in mir hervorgerufen.

Gruß Friedrichshainerin
 
Danke. Friedrichshainerin, für die günstige Bewertung und das reiche Assoziationsmaterial. Ist ja erfreulich für mich, auf diese Weise bestätigt zu bekommen, dass mein Thema nicht ganz unerheblich ist. Ja, die individuelle Lehrerpersönlichkeit und die Gesetzmäßigkeiten eines Schulbetriebs passen oft nicht in idealer Weise zusammen. Manchmal weiß man nicht, ob man das eher dem persönlichen Profil des Lehrers oder der Anstalt als solcher anlasten soll. Die Berufswahl wird wohl nicht immer genügend überdacht - vorher.

Das Thema Lehrerkinder ist auch sehr interessant. Das Material von dir jetzt dazu kann einen sehr nachdenklich werden lassen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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