Das Huhn, das Ei und der liebe Gott

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gareth

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Der fünfte Tag neigte sich seinem Ende zu.
Die Arbeit war getan und der liebe Gott legte sich im Gras zurück. Ein letzter Blick auf alle seine Geschöpfe des Wassers und der Luft erfüllte ihn mit Zufriedenheit.

Bisher war alles planmäßig verlaufen. Es hatte kaum Probleme gegeben, wenn man von ein paar Kleinigkeiten absah, wie der Sache mit dem Licht. Aber auch das war eigentlich kein Problem, sondern eher ein Beispiel für die Wirksamkeit seiner Methode, grundsätzlich Alles mit Allem zu verknüpfen.
Am ersten Tag war er sich noch ziemlich sicher gewesen, dass sein Licht für das Gras, die Bäume und die Kräuter des dritten Tages nach Art und Menge ausreichend sein würde.
Am vierten Tag aber war zu sehen, dass den meisten Pflanzen etwas fehlte. Sie kümmerten.
"Lichtmangel", musste er einräumen und er vermerkte:
"Zu diffus, für Schattenbildung sorgen und die Wellenlängen überprüfen".

Als Ergebnis dieser Überlegungen setzte er an diesem vierten Tag noch ein eigenes, großes Licht für den Tag an die Feste des Himmels und anschließend noch ein zweites, kleines für die Nacht.

"Jetzt könnt ihr euch aber wirklich nicht mehr beklagen", hatte er gutmütig zu der zahlreichen Schar des Grases gesagt und ihnen etwas Wind geschickt, um den Halmen Stimme zu verleihen. Und gleich war ein Wispern zu hören gewesen und ein Raunen, "das kleine Licht sei ja sehr schön und hilfreich, aber was denn aus ihnen allen werden solle, wenn sich einmal nachts ein Wölkchen davor schöbe?" Das kam nun doch überraschend für den lieben Gott.
"Da reicht man Euch den kleinen Finger...", war ihm auf den Lippen gelegen, dann aber hatte er plötzlich den Einfall, einfach noch viele, ganz kleine Lichter überall ans Firmament zu setzen.
Diese Arbeit hatte ihm dann so viel Freude bereitet, dass es ihm richtig schwer wurde, wieder damit aufzuhören. Wenn er jetzt den nächtlichen Himmel betrachtete, dachte er mit Zuneigung und Anerkennung, ja sogar mit Dankbarkeit an das Gras, das nun still und zufrieden im sanften Wind wogte.

Der ursprüngliche Wechsel von Tag und Nacht hatte einerseits den Vorteil gehabt, gleichzeitig auf der ganzen Erdkugel wirksam zu sein, musste aber andererseits täglich von ihm persönlich angeordnet werden. Jetzt war es einfacher. Das neue System arbeitete selbsttätig.
Beiden Lichtern befahl er, in beispielhaft einfachen Bahnen die Erde zu umkreisen. Das große in angemessen großer Entfernung und das kleine in ihrer Nähe. Auf diese Weise schieden sie nun Tag und Nacht und gaben darüber hinaus Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre.
Er seufzte zufrieden, legte sich zurück, schloss seine Augen und schlummerte ein wenig.

Viele tausend Grashalme waren ihm in Dankbarkeit ein weiches und duftendes Lager.

Er erwachte, als ein Schatten auf sein Gesicht fiel.
Er öffnete die Augen und blinzelte in den hellen Schein des großen Lichts, das sich langsam dem Horizont zu neigte.
Es war sein Huhn.
Es stand bei seiner Schulter, hielt den Kopf schräg und sah ihn mit einem Auge scharf an.
„Ach, du bist es“, sagte der liebe Gott.
„Ja, ich“, antwortete das Huhn, „störe ich?“
Schon nach ihrem ersten Gespräch hatte Gott den Eindruck gehabt, dass mit diesem Geschöpf nicht leicht auszukommen sein würde. Diese Vorahnung schien sich nun zu bestätigen.
Seine Erschaffung war die erste Arbeit im Anschluss an die großen Walfische. Eine anspruchsvolle handwerkliche und intellektuelle Übung. Ein Ausgleich für die glatten, teilweise riesigen Formen der Wasserbewohner. Die größte Herausforderung dabei waren die Federn. Flaumfedern, Schwungfedern, Konturfedern, Schwanzfedern, jede einzelne handgeformt und getestet.
Nicht unlösbar, aber anspruchsvoll. Das würde ihm so leicht keiner nachmachen.
Als er dann das Huhn zum ersten Mal auf dem Boden gehen sah, war er allerdings etwas enttäuscht. Es wirkte unbeholfen in seiner Gehweise, schwerfällig, übervorsichtig, und es bewegte seinen Kopf nicht so, wie er es eigentlich vorgesehen hatte.
Er schuf ein zweites, bei dem er diese Dinge zu korrigieren gedachte. Dieses nannte er Hahn.
Als er es gehen sah musste er sich eingestehen, keine substantielle Verbesserung erreicht zu haben.
Er war danach zwar bei seinem Plan geblieben, alle lauffähigen Vogelarten wie vorgesehen zu schaffen, sah sich allerdings immer wieder genötigt, sein Haupt über ihre Gehweise skeptisch hin und her zu wiegen.
Letztlich war er zu Arten übergegangen, die praktisch nur in der Luft leben sollten und keine Füße benötigten. So gedachte er das Problem zu lösen. Brauchten denn seine Walfische Füße?
Dem beherzten Fischadler ist es übrigens in diesem Zusammenhang zu verdanken, dass nicht die ganze Gattung der Greife am Ende der Lächerlichkeit anheim fiel.
"Kannst Du mir jetzt vielleicht noch sagen, lieber Gott", fragte er, als dieser gerade im Begriff war, ihn in die Lüfte zu entlassen, "mit was ich als Greifvogel nun eigentlich greifen soll?"
Da hatte der liebe Gott herzlich lachen müssen über diesen mutigen Vogel und ein wenig auch über sich selbst. War er doch bisher bei den Füßen fast nur von ihrer Bedeutung als Gehwerkzeug ausgegangen. Und er gab dem Adler eindrucksvolle, starke Klauen mit wehrhaften Krallen. Der Adler aber dankte seinem Schöpfer und rief:
"Jetzt kann ich mir große Fische fangen aus dem Meer", breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte.
"Und nicht nur Fische", hätte ihm der liebe Gott fast noch hinterher gerufen. Spontan war ihm eine natürliche Korrekturmöglichkeit für seine Schöpfung in den Sinn gekommen. Da er aber die beiden Hühnervögel ganz in der Nähe scharren sah, schwieg er.

Er stützte sich auf die Ellenbogen und richtete sich etwas auf. Das Huhn stand immer noch ruhig da und sah ihn weiter an. Es sah jetzt sehr imposant aus im Gegenlicht, mit seinen wunderbar braunen Federn und dem blutroten Kamm auf seinem Kopf.
„Nein, nein“, antwortete er freundlich, „du störst mich überhaupt nicht. Was hast Du denn auf dem Herzen?“
Das Huhn fixierte ihn lange.
„Also, was ist?“, fragte der liebe Gott noch einmal geduldig. Das Huhn pickte rasch nach einem Wurm, schluckte ihn und da fiel ihm wieder ein, warum es gekommen war.
„Hast Du dir eigentlich schon einmal überlegt, Herr, wie es weitergehen soll?“
„Wie? Weitergehen?“, fragte Gott, „was meinst Du damit?“. Er hatte etwas Erde genommen und rollte zwischen Daumen und Zeigefinger einen neuen Wurm.
„Ich meine damit“, antwortete das Huhn, „ob wir alle eigentlich ewig leben, oder wie das ist. Ich komme darauf, weil... also, ich habe schon einige Würmer gefressen und die sind nicht mehr aufgetaucht.“
"Ich weiß", sagte Gott, hauchte das Erdröllchen an und legte den neuen Wurm vorsichtig auf die Erde. Er tat dies auf der dem Huhn abgewandten Seite. Er sah zu, wie das kleine Geschöpf sich nach und nach in den duftenden, dunklen Boden grub und begann damit, einen neuen Wurm zu rollen.
"Eigentlich", sagte er zu dem Huhn, "hatte ich an Körner und Beeren gedacht, zu deiner Ernährung. Diese Würmer da", fuhr er fort und deutete auf das kleine Zipfelchen, das gerade im Boden verschwand, "die gibt es eigentlich noch gar nicht. Die sind erst morgen dran, schöpfungsmäßig, und du machst mir ziemlich Arbeit, wenn du sie jetzt schon dauernd frisst".
Er hauchte und entließ auch diesen neuen Wurm ins Leben, wieder auf der sicheren Seite.
"Und glaub nur ja nicht“, sagte das Huhn jetzt etwas lauter und reckte den Hals, um einen letzten Blick auf das Würmchen zu erhaschen, „dass ich die seltsamen Füße nicht gesehen hätte, die du den letzten Vögeln da gemacht hast".
„Also, jetzt hör mal“, sagte Gott, aber das Huhn hörte nicht. Es begann, auf seine unbeholfene, wiegende Art im Grase hin und her zu gehen und fuhr fort:
„Ich kann mir nicht denken, dass ich selbst von jemandem gefressen werden könnte. Andererseits, wenn es doch so käme, dass unsereins möglicherweise einmal nicht mehr sein wird, hast du dann vor, immer wieder neue Hühner zu machen? Mit deinen Händen? Feder für Feder? Oder willst du Dir etwas einfallen lassen?"
Das Huhn redete sich in Eifer.
"Ich hab Dir zugesehen bei dem nicht ganz geglückten Abbild von mir, das du Hahn nennst. Es erschien mir doch recht zeitraubend. Zudem ist es irgendwie anders als ich. Das könnte auf ein Problem mit der Wiederholbarkeit hindeuten." Es hielt kurz inne in seinem steten Auf- und Abgehen.
"Oder", fragte es jetzt und machte eine Pause, "ist es dir vielleicht egal, wenn es uns nicht mehr gibt? Uns Hühner, meine ich?“. Es schluckte trocken und wollte weiter gehen. Gott aber nahm es sanft auf und setzte es auf seine Brust.
„Mein Hühnchen“, sagte er leise, "das mit den Greifvögeln, das hat sich so ergeben. Es tut mir fast Leid, aber es war irgendwie nicht zu vermeiden. Ich habe allerdings von Anfang an daran gedacht, für deine Vermehrung Sorge zu tragen."
"Ach", sagte das Huhn, "jetzt auf einmal", und sein Kopf zuckte ein wenig, so dass der schöne rote Kamm erbebte.
"Ja", fuhr Gott unbeirrt fort, "und ich weiß auch schon wie“. Er zupfte sanft an einer Schwanzfeder des Huhns.
„Höre, Huhn", sagte er feierlich, "ihr beide, der Hahn und du, ihr sollt die ersten Lebewesen sein, die sich selbst vermehren. Wir drei, du, er und ich, wir probieren es zusammen aus und dann will ich es auf all die anderen Tiere der Erde übertragen. Prinzipiell jedenfalls!“

Es war ein erhabener Moment.
Einen Atemzug lang hielt die Schöpfung inne und schwieg.

„Sag mir“, sagte das Huhn in diese Stille hinein, und es legte seinen Kopf an Gottes Herz, „sag mir, wie!“

Da winkte Gott das andere Huhn herbei, das er Hahn genannt hatte, und mit einer göttlichen Eingebung ließ er es wissen, was zu tun sei. Als es heran gekommen war, setzte er das Huhn vor ihm in das weiche Gras und wandte sich ab.

Kurze Zeit danach saß das Huhn wieder in Gottes Hand. Es wirkte gereift.
"Das war nun doch" sagte es leise, "sagen wir ...“, - es suchte nach einem passenden Begriff - „überraschend, zu sehen, zu was dieses Tier fähig ist".

Sein Federkleid sträubte sich und es schüttelte sich.
"Aber was hat das mit der Vermehrung zu tun?", fragte es und sah sich kurz nach dem Hahn um, der friedlich und unbeteiligt wie zuvor auf einem Stückchen Erde scharrte.
"Lausche in dich hinein", sprach da sanft der liebe Gott. Im gleichen Augenblick spürte das Huhn etwas heranwachsen in seinem Inneren und fühlte, wie es größer und größer wurde und gleich darauf nach außen drängte und es hatte große Furcht.
"Wie kannst du dich fürchten, Huhn, wenn ich bei dir bin?", fragte da Gott und dann musste das Huhn plötzlich gackern und als es sich umschaute, sah es auf Gottes Hand ein leuchtend weißes, rundes Gebilde liegen.
"Aua", sagte das Huhn und betrachtete es.
"Was ist das?"
"Das ist das erste Ei", antwortete Gott, "und Du hast es gelegt".
"Es ist schön", sagte das Huhn, "aber es ist auch ziemlich groß". Dabei betonte es das letzte Wort.
"Es ist genau richtig für deine Größe", antwortete Gott, der immer weiß, warum etwas gesagt wird.
"Und da drin ist jetzt ein neues Huhn?"
"Ja".
"Zeig´s mir. Mach es auf".
"Dann stirbt es".
"Mach es auf".
"Es wird sterben, wenn ich die Schale so früh öffne. Es muss sich erst noch weiter entwickeln im Schutz der Schale, bevor es heraus kommen kann".
"So empfindlich ist das?“ fragte das Huhn, „das glaub ich nicht. Das sagst Du nur. Es ist leer".
Da wäre der liebe Gott fast ein wenig böse geworden.
"Oh, du dummes Huhn", sagte er leise und sprach so zum ersten Mal jene göttlichen Worte, die von den Männern bis heute in Ehren gehalten werden, indem sie sie mit inniger Empfindung von Zeit zu Zeit zu ihren Ehefrauen sagen. Dabei kühlte die Luft um ihn her merklich ab.
Er setzte Ei und Huhn vorsichtig ins Gras. Und nun erhielt auch das Huhn seine göttliche Eingebung und es verstand und schwieg und setzte sich vorsichtig auf das Ei. Gott ließ sich neben ihm im Gras nieder.
"Halte es nur schön warm, dein Kleines", sagte er.

Es war Nacht geworden. Das große goldene Licht war lange schon hinter dem Horizont untergegangen und die Landschaft lag im silbernen Schein des kleinen Lichtes. Das Huhn saß still auf seinem Ei. Es konnte nicht schlafen. Immer noch gab es so viele unbeantwortete Fragen. Manchmal gluckste es leise.
Da geschah etwas Seltsames.
Ein kleines, schwach schimmerndes Licht kam von weit her aus der Dunkelheit herbei geschwebt und näherte sich dem Huhn.
"Fürchte dich nicht", sagte Gott leise. Er ruhte immer noch neben seinem Huhn im weichen Gras.
"Was ist es?" fragte das Huhn.
"Es ist eine Seele", antwortete er.
"Was will sie?"
"Sie kommt zu deinem Kleinen. Ich habe sie gerufen".
"Aber was will sie?"
"Sie wird der Geist des neuen Huhnes sein. Sie bringt alles mit, was ich an dir schätzen gelernt habe: Intelligenz, Kreativität, Humor und Gläubigkeit".
"Will sie etwa in mein Kind hinein?"
"Ja, natürlich", sagte der liebe Gott, "aber sie wird damit warten, bis es aus dem Ei geschlüpft ist."
"Und warum will sie nicht jetzt schon hinein?"
"Das, mein liebes Huhn", sagte der liebe Gott, "ist eine gute Frage".
Die Seele war inzwischen herangekommen und schwebte bewegungslos zwischen den beiden in der Luft.
"Es ist so", fuhr der liebe Gott fort, "dass es ein paar Dinge gibt, für die man keine besondere Intelligenz, keine Kreativität und keinen Humor benötigt. Zu diesen Dingen wird zum Beispiel später einmal das Führen politischer Parteien gehören", er seufzte leise und fuhr dann fort: "Es gehört aber auch, um bei uns beiden zu bleiben, das Aufpicken einer Eierschale von innen dazu. Dinge eben, zu denen es klarer, eindeutiger Entscheidungen bedarf. Ich möchte gerne vermeiden ..."
"Ich verstehe", unterbrach ihn das Huhn, "man könnte als Huhn sonst vielleicht auf den Gedanken kommen, vor dem Schlüpfen das Für und Wider abzuwägen. Ja, ich verstehe. Und bei mir und deinen anderen Geschöpfen hat sich dieses Problem nicht gestellt".
"Richtig", antwortete der liebe Gott zufrieden, "du hast deinen Geist aus erster Hand empfangen und dein Glaube ist meine Wirklichkeit".

Lange Zeit herrschte nun Schweigen. Nur manchmal trug der Wind ihnen vereinzelt Teile von leisen Gesprächen zwischen den nachtaktiven Tieren zu.

"Schick sie weg", sagte das Huhn in die Stille hinein.
"Wie bitte?", fragte Gott.
"Sag ihr, sie soll gehen. Sie wird etwas anderes finden. Sag ihr, sie soll sich ein anderes Tier suchen. Eines, das mit ihren Gaben etwas anfangen kann. Ein Tier, das etwas formen und gestalten kann und nicht nur über einen Schnabel verfügt. Ein Tier, das nicht den ganzen Tag nur an Körner und Würmer denkt und mit dem sich auch andere Tiere gerne unterhalten und nicht nur der liebe Gott selbst".
Das Huhn hielt inne und wartete. Gott aber, der alle Gedanken kennt, winkte die Seele zu sich. Und für eine Weile schwebte sie auf und ab und bewegte sich im unhörbaren Dialog mit dem Herrn. Dann entfernte sie sich langsam und schwebte zurück in die Dunkelheit.
"Danke, dass du sie weggeschickt hast", sagte das Huhn.
"Ich habe sie gebeten", antwortete Gott. "Sie sind frei, aber sie hören auf meinen Rat und sie wollen auch willkommen sein".
Er beugte sich zu dem Huhn hinab und sprach zu ihm:
"Wahrlich, du bist ein weises Geschöpf und dein Wunsch ist weise, und ich sage dir, ich will deiner Rasse dennoch alles Wissen geben, das ihr nützt und alle Fähigkeiten, die sie braucht".
Er richtete sich auf und sprach feierlich:
"Ihr sollt euch vermehren, wie ich es euch gelehrt habe und ihr sollt mit euren Nachkommen gut leben auf dieser Erde. Die Greifvögel aber sollt ihr erkennen schon hoch in den Lüften und Schutz suchen in den Büschen und Höhlen, dass sie euch nicht sehen.
Und nach Deinem Vorbild und Maße werden die Seelen ewiglich prüfen, in welche meiner Geschöpfe sie eingehen wollen. So will ich dich ehren für alle Zeit".

Langsam wich die Nacht einem sanften rötlichen Schimmer am Horizont. Die Singvögel stimmten ihr Morgenlied an und Gott erhob sich, um mit der Arbeit des sechsten Schöpfungstages zu beginnen.
Er warf einen letzten Blick auf das Huhn, das für einen Moment von seinem Ei gestiegen war, um ein paar Schritte zu gehen und Körner zu picken.
"Diese Schwerkraft", ächzte es leise.
Als er dies vernahm fiel es Gott wie Schuppen von den Augen. Und noch einmal lachte er, dass seine Stimme gehört ward im ganzen Erdkreis. Er wusste plötzlich, was es auf sich hatte mit dem seltsamen Gang des Huhns und des Hahns und der anderen Vögel.
"Oh, ich...", er verschluckte das letzte Wort und sah sich rasch um.
Dann hob er beide Hände hoch empor und stand gewaltig vor seiner Schöpfung und gebot Gehorsam dem gesamten Universum.
In das Schweigen aller Dinge hinein befahl er dem großen Licht, in seiner Bewegung um die Erde herum inne zu halten.
Dann trug er der Erde auf, sich auf eine Bahn um das große Licht herum zu begeben.
"Und jetzt pass auf", sagte er daraufhin leise zu dem Huhn, das bewegungslos stand und zu ihm aufsah.
Und er gebot mit mächtiger Stimme der Erde, unverzüglich damit zu beginnen, sich um sich selbst zu drehen.
Und sie gehorchte.
Langsam und knirschend setzte sie sich in Bewegung.
"Besser?" fragte Gott nach einer Weile und sah das Huhn aufmerksam an.
"Wunderbar", antwortete das Huhn und ging leichtfüßig hin und her.
"Ich könnte sie auch noch ein bisschen schneller ...",
"Nein, lass es so. Genau so".
Immer noch vorsichtig, aber stolz und mit Grazie bewegte es sich nun durch das Gras.
"Zentrifugalkraft", sagte der liebe Gott leise, "sehr wirkungsvoll".
Er schmunzelte.
"Ein Huhn nimmt Einfluss auf den Lauf der Welt! Ich weiß nicht, wie ich dir noch danken kann."
"Ach lass nur", antwortete das Huhn. Gott aber, der immer gerecht ist, wollte sich erkenntlich zeigen.
Und weil ihm in der Eile nichts anderes einfiel, verlieh er den Hühnern auf alle Zeit die Fähigkeit, neben den weißen, auch braune Eier zu legen.
"Und noch etwas", sprach er, als er sich nun endgültig zum Gehen wandte: "Morgen will ich die letzten Lebewesen schaffen. Menschen will ich sie nennen. Ein Weib und einen Mann.
Auch sie werden sich nun vermehren können.
Und einer ihrer Nachkommen in ferner Zukunft soll einmal, dir zu Ehren, deinen Namen tragen".
Damit wandte der liebe Gott sich ab.
"Wir wollen sehen", sagte er leise, "was die Seelen dazu sagen", dann schritt er zum Werk des sechsten Schöpfungstages, um als letztes das Vieh, das Gewürm, die Tiere des Feldes und seine beiden Ebenbilder zu schaffen. Ein jegliches nach seiner Art.

Viel Zeit ist seitdem vergangen.
Viele Eier sind gelegt worden, und um ihre Größen und Farben hat man viele Diskussionen geführt.
Das von Gott erwähnte Menschenkind wurde einige tausend mal tausend Jahre später wirklich geboren, hat in seinem Leben ungewollt einiges Unheil angerichtet und ist hoch geehrt und reumütig gestorben.
Durch ein Versehen hat man es Hahn genannt.

Aber in jenen Tagen ist ohnehin ein ziemliches Durcheinander entstanden auf der Erde und das bewährte Mittel der göttlichen Eingebung in Vergessenheit geraten.

Darüber zu berichten wäre aber eine andere, sehr lange und weniger unterhaltsame Geschichte.

Es ist allerdings an der Zeit, finde ich, dass der liebe Gott wieder einmal nach seinen Hühnern sieht.
 

Tinka

Mitglied
Lieber Gareth,
ich als LL-"Kücken" habe deinen Text mit sehr viel Vergnügen gelesen! Dir ist es gut gelungen, die Akteure durch die Art ihrer verbalen Äußerungen voneinander abzugrenzen und gleichzeitig treffend und anschaulich zu charakterisieren.
Der "Hahn" am Ende ließ mich kurz stutzen, aber dann fiel auch schon der Groschen (oder das 10 Cent-Stück).
Der letzte Satz trifft die aktuelle Situation in den Hühnerställen auf fast beklemmende Art.
Gruß Tinka
 

gareth

Mitglied
Hallo Tinka,

vielen Dank für Deinen zustimmenden Kommentar zu der Huhngeschichte :eek:)
Es freut mich sehr, dass Sie Dir gefallen hat und es könnte mir ein Ansporn sein, einen seit längerem geplanten zweiten Teil ernsthaft anzugehen, der sich abschließend mit der heutigen Situation der Hühnerhaltung beschäftigt.

Liebe Grüße
gareth
 

Mo

Mitglied
Hallo Gareth,

vielen Dank für diesen unterhaltsamen Text. Ich mußte oft schmunzeln, und wie du die letzten Tage der Schaffensgeschichte in einen modernen und humorvollen Text gepackt hast, Kompliment. Wie bist du diesbezüglich bloß auf die Hühner gekommen?

Eine Fortsetzung ist auf jedenfall erwünscht. :)

LG
Mo
 

gareth

Mitglied
Auch Dir einen herzlichen Dank, Mo,

für die freundliche Aufnahme :eek:)

Ja, das ist so eine Sache, wie ich auf die Hühner gekommen bin.

Es hat mich da einerseits gereizt, Schluss zu machen mit den ewigen philosophisch - naturwissenschaftlichen Diskussionen und ein für alle Mal zu klären, wer zu erst da war, das Huhn oder das Ei :eek:)
Das alleine hat schon die Wahl des Huhns erforderlich gemacht.

Andererseits ist die Geschichte ein Plädoyer für Toleranz. Dafür habe ich bewusst ein Tier gewählt, das allgemein als ausgesprochen dämlich gilt, mit dem der liebe Gott aber auf Augenhöhe spricht.

liebe Grüße
gareth
 



 
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