Das Huhn, das Ei und der Menschengott

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gareth

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Es wird hier das Verhältnis zwischen dem Lieben Gott und seinen Hühnern in unseren Tagen, die Entwicklungsgeschichte der Eierschalen, sowie die Frage der Seelen abschließend noch einmal dargelegt. Erstmals zur Kenntnis gebracht wurden diese Sachverhalte aus den Tagen der Schöpfung am 17.10.2005 in „Das Huhn, das Ei und der Liebe Gott“.


Die Hühner schliefen.

In der dunklen Halle war es still. Nur ab und zu gingen herbstliche Regenschauer auf das flache Blechdach nieder und durchbrachen die Stille. Dann wurde das große Gebäude von einem anschwellenden Rauschen erfüllt, das nach einer Weile wieder leiser wurde, bis am Ende nur noch vereinzelte Tropfen auf dünnen Blechen zu hören waren.

In langestreckten Blöcken standen die übereinander gestapelten Käfigreihen, längsseits durch schmale Wartungswege voneinander getrennt.

Zwei Hühner waren wach.

Sie saßen sich, im Abstand von etwa zwei Handspannen, an den Seitengittern ihres Käfigs gegenüber, mannshoch über dem Hallenboden.
Das größere der beiden zwängte ab und zu seinen Kopf zwischen den senkrechten Gitterstäben hindurch und lugte nach Hühnerart mit ruckartigen Bewegungen den schmalen Weg entlang. Es war ein stattliches Tier. Im schwachen, künstlichen Nachtlicht waren die Farben seines dunklen Gefieders nicht zu erkennen.

In den umliegenden Käfigen war es still. Das Huhn zog seinen Kopf nach einer Weile wieder in den Käfig zurück und wandte sich dem anderen zu.

"Es regnet" sagte es leise in der einfachen, aber sehr genauen Sprache der Hühner. Es sträubte sein Gefieder und schüttelte sich. Das andere Huhn gluckste leise und plusterte sich ebenfalls für einen Moment auf. Es war sehr klein. Sein Federkleid sah hell und fleckig aus und es hatte viele seiner Federn verloren. Immer wieder durchlief ein Zittern seinen kleinen Körper. Beide lauschten dem gerade wieder anschwellenden Geräusch des Regens auf dem Dach. Sie wussten, was Regen war, auch wenn sie ihn nie gesehen und nie auf ihren Körpern gespürt hatten.
"Mir ist kalt", sagte das kleine Huhn. Und das große ging zu ihm hinüber und wärmte es mit seinen dichten Federn und sie schwiegen. Mit der Zeit wurde der Regen leiser und bald hörte er ganz auf. Sie lauschten eine Weile gemeinsam der seltsamen Melodie der Tropfen, die irgendwo erst in rascher Folge und dann immer seltener auf verschiedenen Blechen Töne unterschiedlicher Lautstärke und Höhe erzeugten. In der nachfolgenden Stille hörten sie nur noch den sanften, gleichmäßigen Wind der Hallenbelüftung und darüber schliefen sie nach einer Weile ein.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, als das kleine Huhn plötzlich seinen Kopf hob und damit das große aufweckte. "Ich habe einen Habicht gesehen", sagte es und drängte sich noch enger an seine Freundin.

Das große Huhn rührte sich nicht. So oft schon hatten sie beide geglaubt, einen Raubvogel über sich zu sehen und sich verstecken wollen. Aber so wenig es ein schützendes Gebüsch gab, so wenig hatte es einen Angreifer gegeben. "Schlaf", sagte es leise, "es gibt keine Habichte in der Nacht". Das kleine Huhn schloss die Augen und sein Kopf sank langsam herab. Es glitt am Seitengitter hinab und blieb reglos auf dem schrägen Käfigboden liegen.

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Von einer langen Serie sehr unterschiedlicher, unregelmäßiger Summtöne begleitet, flammte die Tagesbeleuchtung an der Decke des riesigen Raumes auf. Gleichzeitig erloschen die Nachtlichter. In den Käfigen erwachten die Hühner. Die weißen und die braunen, jede Art in ihren Reihen.

Vom Dorf her hörte man die Glocken der kleinen Kirche die volle Stunde schlagen. Es war Zwei Uhr in der Nacht.

Da ging langsam und schweigend der Liebe Gott durch die Halle.

Ruhig wanderte er in Gestalt eines alten Mannes, wie es seit jeher seine Gewohnheit war, einen der Wartungswege entlang. Aus vielen Käfigen schoben neugierige, ausgeschlafene Hühner ihre Köpfe heraus und allen strich der Liebe Gott im Vorübergehen freundlich über das Gefieder oder kraulte sie am Hals. Und sie alle hielten still, ohne Angst und ließen es sich gerne gefallen.

Er kam zu einer Stelle, wo rechts von ihm, in Kopfhöhe, einer der Käfige durch ein weißes Schild ersetzt war, auf dem in großen, schwarzen Buchstaben der Name der Firma stand, die das ganze Gebäude mit allen Einrichtungen gebaut hatte: “Glücks-Huhn GmbH". Darunter stand zu lesen: "Neu: Ganzjährig optimiertes Lichtprogramm, Dämmerungs-Automatik, Tränkeanlage, stufenlose Höhenverstellung, Futterrührer, Entmistung mit PP-Kotband, Kot - Trocknungsanlage mit Airmixer, Wärmetauscher und Frischluftsystem“.

Der Liebe Gott, der immer alles versteht, was er liest, blieb für einen Augenblick vor dem Schild stehen. Er seufzte tief: „Nichts ist ihnen heilig. Tag und Nacht nicht, Sonne, Wind und Regen nicht und sie täuschen meine Hühner mit ihren Lichtanlagen über die Länge der Tage, um mehr Eier von ihnen zu gewinnen".

Er wandte dem Schild den Rücken zu und blickte direkt in einen Käfig, in dem ausnahmsweise nur zwei Hühner untergebracht waren. Alle anderen Käfige mussten sich jeweils fünf oder sechs Hühner teilen. Unterhalb der Vorderseite dieses Käfigs hatte jemand mit Draht ein kleines Pappschild angebracht. Darauf stand in kindlicher Handschrift geschrieben: „Henrike und Franziska". Unter dem Namen Henrike war mit Buntstiften liebevoll ein großes, braunes Huhn gezeichnet, das auf einem großen Nest mit großen, braunen Eiern saß und unter dem Wort Franziska ein kleines, weißes Huhn auf einem kleinen Nest mit kleinen, weißen Eiern. Beide Nester waren von vielen grünen Grashalmen umgeben und neben jedem Nest stand eine Blume. „Maßliebchen", sagte der Liebe Gott, was ein anderer Name für Gänseblümchen ist, und lächelte.

Er kannte auch das kleine Mädchen, das dieses Schild gemalt hatte. Ihr Vater war als Ingenieur für all die Geräte und Maschinen der Anlage verantwortlich. Und als sie in diesem Jahr sieben Jahre alt wurde, das war an einem Sonntag, durfte sie ihn einmal begleiten, als er früh morgens in die Legebatterie gerufen wurde, um die Tränkeanlage zu überprüfen.

In der linken hinteren Ecke des Käfigs saß ruhig dieses schöne braune Huhn Henrike. Im Schein der Tageslichtanlage schimmerte sein Gefieder nun in vollkommenster Abstimmung in vielen Braun- und Ockertönen. Neben der vorherrschenden, kräftigen Mahagonifarbe waren die verschiedensten Sandfarben zu sehen, die hier und da von warmen, rotbraunen Flecken unterbrochen wurden. Seine besondere, artgerechte Schönheit wurde einzig durch seinen Schnabel beeinträchtigt, der unnatürlich kurz und stumpf war.

In der gegenüberliegenden Ecke des Käfigs lag auf dem Gitterboden das kleine, weiße Huhn Franziska. Es war tot.

Vor allen Käfigen verliefen schmale Förderbänder, die im Moment stillstanden. Wenn ein Huhn ein Ei legte, rollte es auf dem schrägen Käfigboden nach vorn, aus dem Käfig hinaus und auf dieses Förderband. Das trug dann alle Eier zur Sortier- und Stapelanlage.

Auf dem Förderband vor Henrikes und Franziskas Käfig lag ein weiches, durchscheinendes Gebilde. Es war ein Ei in einer milchweißen Haut ohne Schale.

Vorsichtig nahm der Liebe Gott das tote Huhn aus dem Käfig und legte es sanft neben das schalenlose Ei. "Sie wollte unbedingt noch ein Ei legen“, sagte Henrike. „Sie kommt aus dem Bereich mit den Zehner-Käfigen. Sie hatten dort eine Fehllieferung beim Futter. Das kleine Mädchen hat Franziska und mich in diesen großen Käfig gesetzt. Da sollte sie sich erholen.“

„Leonie", sagte der Liebe Gott.

Henrike, die die Situation so sachlich beurteilte und wiedergab, stammte in direkter Linie von seinem allerersten, handgefertigten Huhn ab.

„Was machen sie nur mit euch", sagte er.

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Beim Betrachten des schalenlosen Eis erinnerte sich der Liebe Gott an zwei Geschehnisse aus dem fünften Schöpfungstag.
Die erste Erinnerung betraf die Entstehung der Eierschalen.

Sein erstes, noch handgemachtes Huhn hatte bereits das erste Ei gelegt. Es war von idealer, richtungsweisender Form und besaß eine schöne, weiße Kalkschale. Da er aber neben Calcium noch weitere Elemente zur Verfügung hatte, wollte er gerne wissen, ob nicht noch zweckmäßigere und schönere Eier für sein Lieblingstier möglich wären. In Versuchen mit einigen, extra dafür geschaffenen Versuchshühnern, hatte er rasch die meisten der Vierundneunzig natürlichen Elemente getestet, mit Ausnahme der flüssigen und der gasförmigen. Für einige der Experimente hatte er sich anschließend bei den erschütterten Hühnern ausdrücklich entschuldigt. Vor allem für diejenigen, deren Giftigkeit sich erst bei diesen Versuchen herausstellte, insbesondere aber für die Verwendung der radioaktiven Elemente. Diesen eigenwilligen Grundstoffen befahl er danach, mit dem gefährlichen Strahlen aufzuhören und alle bemühten sich seitdem, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, dem Gebot nachzukommen. Am Ende hatte er sich dafür entschieden, bei Kalk zu bleiben. Dieser Stoff führte zu schönen, weißen Eierschalen, ermöglichte aber auch jede Art von Farbgebung. Zudem hatte er sich bereits in Knochen, Zähnen, Schneckenhäusern, Muscheln, Marmor und Perlen bewährt und der Liebe Gott war davon überzeugt, dass er sich später, im Alltag der Menschheit, sicherlich auch als Bestandteil von Zahnpasta, Silberputzmitteln, in der Fresco Malerei und nicht zuletzt in den verschiedensten Zementarten bewähren würde. Nicht zu Unrecht, wie wir heute wissen.

Aus den verschiedenen Versuchshühnern entwickelten sich im Lauf der Jahrtausende die vielen unterschiedlichen Hühnerrassen, die heute auf der Erde leben. Von den sehr seltenen, sehr schwer zu findenden, direkten Nachkommen des allerersten Huhns unterscheiden sich diese Hühner eigentlich nur dadurch, dass sie recht schlichte Gemüter sind und sich fast nur für Hackordnung, Picken, Scharren und Eierlegen interessieren. Auf die Ausgestaltung ihrer Denkfähigkeit hatte der Liebe Gott bei ihrer raschen Schöpfung als Versuchstiere weitestgehend verzichtet, weil das bekanntlich der schwierigste und langwierigste Teil des Schöpfungsaktes ist. Auch hat er sich dadurch viele Diskussionen über seine Vorgehensweise während der Versuche erspart.


Die zweite Erinnerung betraf die Tochter seines ersten Huhns.

Dieses Hühnerkind war genauso intelligent und sensibel wie seine Mutter und interessierte sich von Anfang an sehr für seine Umgebung. Bald führten diese beiden lange und intensive Gespräche, wie man es auch heute zuweilen noch bei den Menschenmüttern und ihren Töchtern antreffen kann. Alles Wesentliche kam dabei zur Sprache: vom richtigen Picken, über Sicherheitsfragen zum Gebaren des Hahns und das Eierlegen, bis zum eigenen Sterben und die Frage der Seelen. Der Liebe Gott hörte ihnen gerne zu.

Er war deshalb nicht wirklich überrascht, als es auch ihn bald ansprach. Er hatte sich wieder einmal im gastfreundlichen Gras niedergelassen und rollte zwischen seinen Fingern aus Erde die ersten Wirbellosen. Das Tochterhuhn war an seine Seite getreten und ohne Umschweife auf die Frage der Seelen zu sprechen gekommen.
"Was die Seelen angeht...", begann es.
"Ja?" antwortete der liebe Gott, der längst Bescheid wusste.
Das Hühnchen sprach entschlossen weiter: "Meine Mutter hat mir gesagt, dass sie meine weggeschickt hätte als sie zu mir in mein Ei wollte.“
„Na ja", antwortete der Liebe Gott, „so ungefähr".
„Dann habe ich ja gar keine“, fuhr das Tochterhuhn fort, „Im Gegensatz zu ihr glaube ich aber, dass wir alle eine haben sollten. Alle Tiere". Es wurde kurz von einem gerade in der Erde verschwindenden Wurmzipfel abgelenkt und sah dann wieder auf: "Also, was sagst Du?"
Mit einer blitzschnellen Bewegung pickte es nach dem Zipfel, der gerade in der weichen, dunklen Erde verschwinden wollte, zog den Wurm heraus und schluckte ihn. "Entschuldigung", sagte es.
"Schon gut", sagte der Liebe Gott und begann, aus Erde ein neues Röllchen zu drehen. "Ich bin völlig Deiner Meinung. Und ich darf Dir sagen, dass Du sehr wohl eine Seele hast, mein Kleines. Und der da“, der Liebe Gott deutete auf den Hals des Tochterhuhns, „hatte übrigens auch schon eine.".
"Ach", sagte das Huhn und musste noch einmal schlucken: "das hätte ich nicht gedacht".

„Da siehst Du mal", sagte der Liebe Gott.

Er hauchte das fertige Erdröllchen kurz an und setzte den nun lebendigen, neuen Wurm auf die Erde. Sie sahen zu, wie er sich geschickt in die weiche, dunkle Erde eingrub.

"Die Körpergröße, Huhn, kann nicht entscheidend sein“, fuhr er fort: „Auch die Würmchen haben Vorstellungen von ihrem Dasein und sie haben ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse. Im Vergleich zu uns beiden, also verglichen mit Dir und mir, meine ich, sind sie natürlich sehr einfache Wesen. Und deshalb leiden sie auch nicht so sehr, wenn jemand Hunger hat und sie fressen muss.“

Er sah das junge Huhn einen Augenblick lang stumm an und sagte dann: „Das wollen wir jedenfalls hoffen.“

Und dann zog er es ins Vertrauen: "Hör zu. Es ist alles gut. Deine Mutter hat mir einmal mehr die Augen geöffnet.“ Das Tochterhuhn sah ihn erwartungsvoll an. „Sie hatte, zu Recht wie ich jetzt weiß, Bedenken, den freien, einheitlichen Siedlerseelen gegenüber, die ich am Anfang gemacht habe. Die boten sich jedem neugeborenen Lebewesen an, gehörten lebenslang zu ihm und verließen es wieder nach seinem Tod. Danach suchten sie sich wieder ein Neugeborenes.“
„Das klingt doch ganz vernünftig", sagte das Tochterhuhn.
„Das dachte ich auch, am Anfang", der Liebe Gott lächelte. Dann wurde er wieder ernst. „So geht es aber nicht und ich habe es in Ordnung gebracht. Ich weiß gar nicht, ob ich das Deiner Mutter schon…“. „Hast Du nicht", sagte das Tochterhuhn.
„Vielleicht könntest Du das dann…, bei Gelegenheit?“ sagte der Liebe Gott und das Hühnchen nickte und antwortete: „Bei Gelegenheit“.

“Also“, sagte der Liebe Gott, „Das Problem war folgendes: die Seelen vermehren sich selbst nicht. Die Lebewesen aber schon. Am Anfang der Schöpfung braucht man also nur wenige freie Seelen. Aber dann, mit der Zeit, wenn alle Tiere Kinder kriegen und die auch wieder Kinder und die einen weniger und seltener und die anderen…“.
„Mehr und häufiger“, sagte das Tochterhuhn ein wenig gelangweilt und fuhr dann fort: „Ja, das ist klar, da wärst Du die ganze Zeit damit beschäftigt, Die Anzahl der Seelen in Deinem Seelenvorratslager zu korrigieren und zu ergänzen.“

„Nicht dass ich das nicht könnte“, antwortete der Liebe Gott, „aber es ist schon aufwendig. Im Übrigen“, jetzt lächelte er, „Seelenvorratslager ist ein hübscher Begriff. Ich hatte es Himmel genannt. Der wird jetzt aber nicht mehr gebraucht. Du wirst gleich sehen warum.

Es ist nämlich nicht nur die Vorratshaltung, die problematisch ist bei den freien Seelen. Es kommt auch noch hinzu, dass sie sich im Laufe des Lebens an die Lebensgewohnheiten ihres Trägers anpassen. Nehmen wir, nur als Beispiel, jetzt einmal an, ein Adler stirbt und seine Seele will sofort wieder in einem neuen Tier weiterleben. Nehmen wir weiter an, dass es bei den Greifvögeln gerade kein neu gelegtes Ei gibt und sie schlüpft deshalb in ein neugeborenes Hühnerküken. Also, in diesem Fall in Dich. Die Folge wäre ein mutiges, stolzes Einzelgängerhuhn mit vielen Eigenschaften einer starken Persönlichkeit, angemessen für einen Adler, aber nicht gut für ein Huhn.“

„Ach“, sagte das Hühnchen, „und wieso soll das nicht gut sein für ein Huhn?“.

„Weil", antwortete der Liebe Gott, dem die Frage gut gefiel, „das unter anderem dazu führen würde, dass dieses Huhn sich nicht vor Füchsen und Greifvögeln versteckte, dem Hahn Angst machte und für seine Eier immer ein eigenes Nest auf freiem Fels bauen würde. Denke nur mal an die vielen Fressfeinde der Hühner, die ich geschaffen habe“. Er ignorierte den erschrockenen Blick des Hühnchens und fuhr fort: „Und das ist ja nur ein einziges Beispiel. Also, ich musste jedenfalls schnell reagieren, seelenmäßig, schon grundsätzlich im Hinblick auf die Ordnung der Natur aber auch mit Blick auf die Zukunft der Menschheit.“

Das Hühnchen sah ihn an und sagte: „Gut. Aber soo schlimm fand ich das mit dem Mut jetzt nicht, muss ich sagen“. Es machte eine Pause, dann sagte es nachdenklich: „Und was ist Menschheit? Und was hast Du dann gemacht?“

„Die Menschheit“, sagte der Liebe Gott, „gibt es noch nicht. Die muss ich erst noch erfinden. Trotzdem musste ich sie schon von Anfang an einplanen. An den Menschen wird das Problem ziemlich deutlich. Mir jedenfalls.“

Er überlegte kurz und fuhr dann fort: „Ich stellte mir vor, eine altgediente Rattenseele oder z.B. die von einem Stinktier oder einem Geier, wandert in das Embryo eines zukünftigen Rechtsanwalts oder Richters“. Er hob eine Augenbraue und fuhr dann fort: „Oder eine Schmetterlingsseele wandert zusammen mit einer Kaninchenseele in einen zukünftigen italienischen Adligen. Ich habe ja Mehrfachbelegungen nicht ausgeschlossen. Das wäre nicht gut. Gar nicht gut.“ Er schüttelte den Kopf.

Das Hühnchen wirkte nun verwirrt. „Das kannst Du alles noch nicht verstehen“, sagte der Liebe Gott freundlich, „Ratten, Stinktiere, Mistkäfer, Geier, Schmetterlinge und Kaninchen sind meine Erfindungen, Rechtsanwälte, Richter und Adlige werden die Menschen später selber erfinden", er seufzte tief, „ich kann Dir sagen…“.

Das Hühnchen wirkte immer noch verwirrt. „Und jetzt sagst Du mir, wie Du das Problem gelöst hast?“ fragte es leise.

Der Liebe Gott schüttelte die trüben Gedanken ab. „Ja“, antwortete er, „entschuldige. Also, was die Lösung angeht…, es war eigentlich ganz einfach. Man musste nur erst mal darauf kommen. Ich habe es so gemacht, dass ich die Seelenwanderung wieder abgeschafft habe. Ein für alle Mal. Dann habe ich den Bedenken Deiner Mutter Rechnung getragen und dafür gesorgt, dass sich in jedem Lebewesen von Anfang an seine eigene, artgerechte, individuelle Seele bildet und sich weiterentwickelt so lange es lebt. Wenn man dafür im Wesentlichen das ohnehin vorhandene Gehirn mit allen seinen Teilen heranzieht, nachdem es einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat und zusätzlich das Rückenmark…“, er unterbrach sich, „aber das ist jetzt rein technisch und wird Dich wohl nicht so sehr interessieren.“ Das Tochterhuhn sah ihn an.

„Höchstens", fügte er noch hinzu, „dass auf diese Weise die Seele erlischt, wenn das Lebewesen stirbt. Dass Dich das vielleicht interessiert.“

„Ja", sagte das Tochterhuhn langsam und nachdenklich: „Das interessiert mich. Und es klingt vernünftig“.

Dann fragte es unvermittelt: „Haben denn die alten, freien Siedlerseelen noch einen Ort, an dem sie außerhalb der Lebewesen wohnen können, wenn sie wollen?“
„Was Du alles wissen willst“, antwortete der Liebe Gott und schüttelte gutmütig den Kopf. „Es sind ja nur sehr wenige und sie sind ja praktisch alle dauernd in jemandem drin. Ich kann Dir aber sagen, dass sie alle immer noch jederzeit in den Himmel hineinkönnen, wenn sie das wollen“. Das junge Huhn war beruhigt. „So ist es richtig“, sagte es, „So hätte ich es auch gemacht. Damit bin ich einverstanden.“

Und der Liebe Gott antwortete und sprach: „Dann lassen wir das so.“

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Die Erinnerungen verblassten, aber für einen Augenblick musste der Liebe Gott noch einmal über die Folgen seiner Seelenpolitik nachdenken. Er hatte tatsächlich schnell reagiert seinerzeit, aber die ursprünglichen, freien Seelen waren noch unterwegs. Für immer. Ihrer Herkunft nach alles reine Tierseelen, die aber ausgesprochen gerne in Menschen wanderten, wie sich gezeigt hatte. Und immer wieder, wenn auch selten, gab es diese hochproblematischen Kombinationen aus zwei oder mehreren, die dann noch mit der individuellen Menschenseele konkurrierten. Manche armen Menschen mussten mit einer ganzen Anzahl eigenwilliger Wanderseelen leben, die manchmal noch anfingen, sich zu streiten.

Er sagte leise, an Henrike gewandt: „Du musst das nicht weitererzählen, aber ich wollte, ich hätte ein bisschen länger nachgedacht bei den ganzen Sachen und sie gleich richtig gemacht. Ich habe mir sogar tatsächlich schon öfter gewünscht, ich hätte nach den Pflanzen aufgehört.“
„Na, na", antwortete Henrike verwundert, „dann gäbe es uns ja nicht.“

„Ach so, ja. Entschuldige“, antwortete der Liebe Gott, „das stimmt. Also nach den Hühnern, oder gerechterweise… sagen wir… nach den Tieren.“

Er schwieg und drehte sich langsam dem Kotabzugsband zu, auf dem Franziska und ihr schalenloses Ei lagen. Er hielt seine Hand über beide, um sie zu segnen.

Henrike sah ihn fragend an. Er blickte ihr in die Augen und hob dann langsam beide Schultern, die Arme angewinkelt, die offenen Handflächen nach oben gekehrt.

„Was?“, fragte er.

Dann richtete er sich auf und sah auf die vielen zusammengedrängten Hühner in ihren trostlosen kleinen Drahtkäfigen.

Dies war nicht, was er seinem ersten Huhn einst versprochen hatte.

Hier gab es nichts von dem. Kein weiches, kühlendes Gras, auf dem man gehen konnte, keine Büsche, in deren Schatten man sich verstecken konnte, keine wärmende Sonne, die einen fröhlich machte und die Insekten zu den Blüten führte, keine Sandbäder. Es war ein Leben ohne Wind, ohne Regen, ohne Bäche. Kein Boden zum Scharren, kein Wurm, keine Blumen, kein Summen.

„Zehntausend seid ihr hier", sagte er. „Aber ich kenne Anlagen, in denen fünfzigmal so viele gefangen sind und noch mehr".

Henrike sah ihn an: „Uns geht's also noch Gold", sagte sie.

„Ich wollte es nur erwähnt haben“, sagte der Liebe Gott. Aber er wusste auch genau, was nun kommen musste.

"Warum lässt Du das eigentlich zu?", fragte Henrike.

Sie saß nun, ganz ruhig, in der Mitte ihres Käfigs, in Augenhöhe mit ihrem Schöpfer.
Es entstand eine kleine Pause.

"Das ist nicht ganz einfach zu beantworten", antwortete er dann.

"Nur Mut", sagte sie.

Der Liebe Gott räusperte sich: " Es ist so, Huhn", sagte er, „dass ich die Herrschaft über die Erde und alle Tiere und Pflanzen vor langer Zeit ganz und gar den Menschen übertragen habe". Henrike plusterte sich auf und schüttelte sich. Es dauerte eine gute Weile, bis sich ihre Federn wieder angelegt hatten. Dann fragte sie: "Wie kann man nur dermaßen…“. Sie schluckte und fuhr dann fort: „Und Du hältst das immer noch für richtig? Auch nachdem Du Dich hier jetzt endlich einmal umgesehen hast?"

„Ganz… und… gar übertragen hatte ich gesagt“, antwortete der Liebe Gott, „das bedeutet: vollständig, absolut, abschließend, unwiderruflich. Das bedeutet auch: keine Briefe, keine Ansprachen, keine öffentliche Kritik, keine versteckten Hinweise“.

Dann sprach er weiter und sagte: "Huhn, Du hast allen Grund, mit deinem Dasein zu hadern und mit mir unzufrieden zu sein. Die Menschen tun euch bitteres Unrecht und ihr erfahrt großes Leid. Aber sie tun sich das alles auch gegenseitig an. Du hast keine Vorstellung davon, wie viele Menschen so wie ihr in Käfigen eingesperrt sind, sehr viele aus meiner Sicht ohne jeden Grund. Ich weiß", kam er einem Einwurf Henrikes zuvor, „dass Dir das nichts nützt. Aber sie müssen selbst zu ihren Einsichten kommen, um zu handeln".

"Aber warum", fragte Henrike, "sagst Du es ihnen nicht einfach doch, wenn sie alles falsch machen?"

"Ach Huhn", antwortete der Liebe Gott mit lauter Stimme, „ich habe es Dir doch gerade erklärt“. Dann sprach er rasch und sehr leise weiter: „Hör zu, in Wirklichkeit habe ich es ja doch schon öfter mal getan und mich unauffällig, über Umwege geäußert. Da haben sie meine Zeichen so ausgelegt, wie es ihnen gerade passte. Man hat praktisch keine Chance!“

„Wie, Zeichen?", fragte Henrike.

„Zeichen eben. Herrgott“, antwortete der Liebe Gott jetzt etwas ungeduldig,

„Hochwasser, kleine Erdbeben, Vulkanausbrüche, Sturmböen, Hagelschauer, Regenbögen, Sonnenfinsternis, solche Sachen halt“.

„Und früher?“, fragte Henrike, „hast Du früher was an sie geschrieben?“

„Nein", sagte der Liebe Gott, „niemals“.

Henrike starrte ihn ungläubig an.
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„Kein Wort habe ich je geschrieben. Kein einziges Wort. Auch was in ihren Büchern steht, die sie heilig nennen. Ich kenne alle ihre Texte. Aber kein Wort davon stammt von mir“.

„Aber“, warf Henrike ein, „Juden, Christen, Katholizismus, Protestantismus, Muslime, Zehn Gebo…?“

Es ist an dieser Stelle vielleicht angebracht darauf hinzuweisen, dass Henrike nicht wirklich imstande war, kompliziertere Worte, die zudem aus unterschiedlichen Sprachen abgeleitet waren, in unserem Sinne korrekt auszusprechen. Der Liebe Gott aber weiß immer, was gemeint ist.

Und so unterbrach er sie denn: „Kein… einziges… Wort“, sprach er, „Ich weiß nicht, wo sie das alles herhaben“. Und dann übermannte ihn endlich doch der Zorn und seine Stimme erhob sich wie Donnerhall und erschütterte das Gebäude: „Ich sage Dir, manchmal hätte ich gute Lust…“.

Alle Hühner drückten sich ängstlich in ihren nachbebenden Käfigen aneinander. Und jetzt wurde es schlagartig sehr kalt in der Halle. Die Käfiggitter überzogen sich mit Raureif. Warnlampen an den Temperatur-Regeleinheiten begannen zu blinken.

Mit einem fernen, metallischen Klacken ging daraufhin die gewaltige Klimaanlage in Betrieb und kurz danach begann warme Luft, die Käfigreihen zu umwehen.

Da lachte der liebe Gott ein kurzes, unfrohes Lachen, so dass die Halle noch einmal erzitterte. Soweit war es gekommen, dass sein gerechter Zorn nur mehr einen Apparat dazu brachte, warmen Wind zu machen.

Henrike griff das Thema wieder auf und fuhr fort: "Hast Du schon einmal daran gedacht, dass es auch an Dir liegen könnte?“

Der Liebe Gott sah sie an.

„Ja", fuhr sie mutig fort, „ich meine… an Deinen … Zeichen?“. Sie verstummte unter seinem Blick, unternahm aber sofort einen weiteren Vorstoß: „Warum gibst Du den Menschen nicht einfach gute Gedanken ein? Das wären ja keine Zeichen und es wäre auch nicht geredet oder geschrieben. Oder wenigstens die richtigen Gefühle? Mitleid, Mitgefühl, Nächstenliebe… Sie müssen ja gar nicht wissen, dass es nicht ihre eigenen sind. Denk an Deine Allmacht.“

Da wunderte sich der Liebe Gott einmal mehr über dieses Tier und er dachte tatsächlich an seine Allmacht und während Henrike noch sprach gab er den Vorsitzenden aller politischen Parteien das Gefühl ein, es könnte ggf. hilfreich sein, z.B. im Zusammenhang mit den nächsten Wahlen, an den geltenden Regeln für die Käfighaltung von Hühnern in einigen Landesteilen gewisse Änderungen vorzunehmen, sofern sie mit den berechtigten wirtschaftlichen Interessen der jeweiligen Unternehmer in Einklang zu bringen waren.

Und im gleichen Augenblick erhob sich eine klare Hühnerstimme aus einem weit entfernten Käfig und rief laut: „Kann ich noch schnell was sagen, bevor er geht, Henrike?“ und ohne zu warten fuhr sie fort: „Wegen der Allmacht“.

Der Liebe Gott kannte das schon. Henrike auch. Aber sie rief:“ Ja, mach'!“, und sie hörten zu.

„Allmacht", rief die Stimme, „wäre, einen Stein machen zu können der so schwer ist, dass man ihn selber nicht mehr hochheben kann.“ Die Stimme schwieg einen Moment und fragte dann: „Hast Du verstanden?“

„Ja", sagte der Liebe Gott.

„Also, dann weißt Du ja, was von Allmacht zu halten ist. Und ich kann Dir auch noch was zum Thema Allwissenheit sagen…“, erhob sich die Stimme erneut. Der Liebe Gott aber schaute sich um und hob seine Hand, „Es ist gut!" sagte er und ließ dann die Hand langsam sinken. Henrike sagte leise zu ihm: „Das ist Johanna, meine Schwester".

Der Liebe Gott antwortete und sprach: "Ich weiß. Und was sie sagt ist Hühnerlogik. Ich kann nicht bestreiten, dass sie für irdische Maßstäbe gilt. Mein Wirkungskreis umfasst aber größere Wirklichkeiten, in die ihr mir nicht folgen könnt".

„Es ist dann wohl eine Erdenlogik, keine Hühnerlogik", Henrike sprach langsam und deutlich, „eine allgemein gültige, die bekannte Welt einbeziehende Logik. Und sie wurde hier vorgetragen von einem Huhn.“ Sie erhob die Stimme und rief: „Danke, Schwester".

„Nicht dafür", rief Johanna zurück. Das hatte sie von den Männern der Wartungstrupps gehört und es hatte ihr gefallen. „Und wir brauchen auch keine größeren Wirklichkeiten“, rief sie, an den Lieben Gott gewandt, „wir haben hier mit unserer irdischen Hühnerwirklichkeit genug zu tun".

„Gut", sagte der Liebe Gott und atmete einmal tief durch.

„Dann will ich mal langsam wieder".

Aber Johanna war noch nicht fertig: „Und wir wollen nicht noch rasch über den Irrsinn reden, der auf der ganzen Welt von den Religionen in Deinem Namen angerichtet wird, nein?“, rief sie, „dass sich bis heute Menschen auf der ganzen Welt gegenseitig abschlachten, weil man ihnen ihr ganzes Leben lang eingeredet hat, dass immer die anderen die Ungläubigen sind? Nein?“ Alles das hatte sie sich aus den Gesprächen der Monteure gemerkt, „Oder darüber, dass die Menschen uns Tiere als Sachen ansehen? Ja, bin ich denn weniger wert als eine, eine…“, sie suchte nach einem angemessenen Vergleich: „… eine Käfigtür? Wollen wir nicht drüber reden? Nein?!“ Sie schwieg einen Moment und rief dann: „Na dann, vielen Dank. Danke sehr.“

Die Halle verharrte in atemlosem Schweigen.

„Angeblich", ergänzte Henrike und ihre Federn sträubten sich, „sollen Menschen Tiere sogar essen.“ Sie musste sich unterbrechen, so wurde sie von der Vorstellung überwältigt. „Wir wissen nichts genaues", fuhr sie dann fort, „aber einer hat neulich beim Vorbeigehen ‚Hühnersuppe‘ gesagt. Das habe ich genau gehört".

„Damit", sagte der Liebe Gott, „habe ich nichts zu tun.“

Noch einmal wandte er sich leise an Henrike: "Soll ich Dich hier herausholen?"

"Nein, danke", antwortete Henrike ohne Zögern.

"Es wäre absolut vertretbar, den anderen Hühnern gegenüber", flüsterte der Liebe Gott.

Aber er kannte Henrikes Gedanken und pflichtete ihr im Stillen bei. In diesen Tagen war ein Leben in der freien Natur für ein Huhn zu gefährlich, ja praktisch kaum noch möglich. Und natürlich war es unfair den anderen Hühnern gegenüber.

"Es gibt da eine Demeter Hühnerfarm in der Nähe“, versuchte er es trotzdem noch einmal, „da kann man den ganzen Tag im Freien...", Henrike schüttelte den Kopf: "Nein, nein", sagte sie, "Lass mal."

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Der Liebe Gott durchschritt die Hallenwand, als die Sonne aufging. Gerade als er an der Kot - Trocknungsanlage vorbeikam, wurde sie von der automatischen Intervallsteuerung eingeschaltet. Er blieb stehen und sah zu, wie sich unter dem Abzugsband des Trockners ein kleiner, rasch anwachsender Kegel zu bilden begann.

Er wusste, dass Johanna recht hatte. Er konnte die Handlungen der Menschen schon lange nicht mehr wirkungsvoll beeinflussen. Er musste zusehen bei tausenden von Kriegen, die in seinem Namen geführt wurden. Millionen Tote und Verletzte. Lebenslang verstörte Männer, Frauen und Kinder. Alle hatten sich ihm anvertraut und sich auf ihn verlassen. An die Naturkatastrophen und Verkehrsunfälle wollte er gar nicht erst denken.

Dazu kam, dass er in letzter Zeit zunehmend den Verdacht hatte, seine gesamte Existenz könnte neuerdings direkt mit der Zahl der wirklich Gläubigen verknüpft sein. Möglicherweise war das eine weitere, nicht vorhergesehene Folge seiner Machtübergabe an die Menschheit. Im Verlauf großer Naturkatastrophen und kriegerischer Auseinandersetzungen hatte er jedenfalls schon mehrmals regelrecht geflackert.

Als er sich eben zum Gehen wandte sah er, wie der kleine, ausgedörrte Körper Franziskas zusammen mit ihrem weichen, jetzt geschrumpften Ei, auf dem schmalen Förderband aus dem Trockner herauskam und sich langsam auf die Abwurfstelle über dem Kotkegel zu bewegte.

Er traf zwei Entscheidungen.

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Über den Wiesen und Hügeln lag ein frühmorgendlicher Nebel. Langsam ging der Liebe Gott den schmalen Pfad entlang, der zum Dorf führte. Er war jetzt barfuß und genoss, wie seine Begleiterin, die Kühle des Grases an den Füßen, das noch feucht war vom nächtlichen Regen.

Er blickte nach unten und sagte freundlich: „Dein Ei hab‘ ich übrigens“.

Sie hörten aus dem Tal herauf die Glocke der kleinen Dorfkirche die volle Stunde schlagen. „Hast Du mitgezählt?“, fragte der Liebe Gott.

Franziska, die gerade einen wunderbaren Regenwurm aus der taufeuchten Wiese neben dem Pfad herausgezogen hatte, sah zu ihm hoch. Er lächelte. „Na, lass mal", sagte er. „Ich mach‘ nur Spaß. Guten Appetit".

Er hatte versucht, ihr die Geschehnisse zu erklären, sie konnte aber mit den Begriffen Tod und gestorben sein nichts anfangen. So betrachtete er einfach dieses glückliche Geschöpf, das nicht wusste, wohin mit seiner Freude.

Er strich ihr über das volle, reinweiße Federgewand. „Hübsch siehst Du aus", sagte er und lächelte ihr zu.

Langsam gingen sie weiter. Immer wieder verweilte Franziska an besonders interessanten Stellen, um zu picken und in der Erde zu scharren. Dann blieb auch der Liebe Gott stehen und fand die Stellen auch interessant und freute sich mit ihr.

„Wir kommen bald zu einem sehr schönen Bio Hühnerhof“, sagte er. „Wir müssen nur noch über den kleinen Hügel da vorn, dann kannst Du ihn sehen. Die Leute dort sind sehr nett. Und sie haben erstklassiges Futter.“ Sie gingen langsam weiter. Franziska staunte über die vielen kleinen fliegenden Tiere, die sie umschwirrten und zupfte an Halmen und bunten Blüten.

„Und", sagte der Liebe Gott, „Sie haben Hähne dort. Du wirst es mögen.“

Als sie den höchsten Punkt des Hügels erreicht hatten, sahen sie die kleine Hühnerfarm am Rande eines Waldstückes liegen und kurz darauf standen sie vor der niedrigen Natursteinmauer, die sie umschloss.

„So", sagte der Liebe Gott und nahm Franziska auf den Arm. „Da sind wir. Sieh Dir das an“. Er seufzte: „Erklär‘ mir, warum die nicht alle so aussehen können.“ Es war eine rhetorische Frage.

Er setzte sie auf der anderen Seite der Mauer im Gras ab. „Dann mach's mal gut“. Er zeigte ihr das perfekte, große, weiße Ei auf der offenen Hand. „Das lege ich für Dich an einer hübschen Stelle ab. Du wirst es finden. Und sie werden Dir einen schönen lila 0-DE Stempel drauf machen. Du wirst sehen. Ach, ich freu‘ mich für Dich".

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In ihrem Käfig pickte und zupfte Henrike mit ihrem perfekten Schnabel an den Gitterstäben herum und freute sich an den vielen unterschiedlichen Tönen, die sie auf diese Weise hervorbringen konnte. Wie jeden Morgen rief sie in die Halle: „Wie geht es Dir heute?“ Und von weit her antwortete Johanna: „Wie immer. Ei ist gelegt.“

Dann gackerte sie plötzlich laut auf und rief: „Ja, was ist denn das? Henrike! Mein Schnabel!“

Und da merkten es auch die anderen Hühner. Alle hatten sie ihre schönen, natürlichen Hühnerschnäbel wieder, die man ihnen vorsorglich kupiert hatte, damit sie sich gegenseitig nicht verletzen konnten. Ein großes Gackern erhob sich in der riesigen Legeanlage. Jedes Huhn wollte von den anderen im Käfig wissen, wie es aussähe und erzählte es dann gleich weiter. Dann trat, nach und nach, wieder Ruhe ein. Natürlich wurden in einigen Käfigen, gleich in den ersten Minuten, auch noch ein paar alte Rechnungen beglichen.

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Der kleine Reparaturtrupp, der gegen Mittag in der Legebatterie-Anlage eintraf, fand völlig normale Verhältnisse vor. Lediglich der Antrieb des Kotbandes war zum ersten Mal durchgebrannt und die Tages- und Nachtlichtanlage hatte sich ohne erkennbare Ursache auf die natürlichen Zeitverhältnisse umgestellt. Diese Probleme wurden von den Fachleuten innerhalb einer halben Stunde in Ordnung gebracht. Von den neuen Schnäbeln und dem Fehlen Franziskas bemerkte man nichts.

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Ruhig ging der Liebe Gott seines Weges durch die grünen Hügel und Täler. Es gab hier noch weitere großer Betriebe. Und es gab noch einige Henrikes und Johannas. Ein Hühnchen war gerettet, zusammen mit seinem Ei und zehntausend Hühnerschnäbel waren wiederhergestellt. Er hatte sein Möglichstes getan und war jetzt recht zufrieden.

Auch stellte er fest, dass sein Gedankenappell an die Politiker tatsächlich Wirkung zeigte. Wir können von daher annehmen, dass sein Besuch nach unserer Zeitrechnung wahrscheinlich vor dem Jahre 2010 stattgefunden hat.

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Henrike steckte den Kopf durch die Gitterstäbe und beobachtete die Männer, die sich an kleinen und großen Kästen zu schaffen machten. Sie lauschte den interessanten Geräuschen, die vom Ein- und Ausschalten elektrischer Schalter herrührte. Einer der Monteure deutete auf einen kleinen Bildschirm und rief seine Kollegen zu sich. Henrike hörte, wie sie über einen aufgezeichneten, kurzfristigen Temperaturabfall unter die Null-Grad Grenze diskutierten. „Ja, genau“, sagte einer von ihnen dann, „ein plötzlicher Wintereinbruch im Hühnerstall. Kennen wir ja. Gleich fängt es an zu schneien. Gut, dass wir genügend Hühnerpullover vorrätig haben. Jetzt tauscht dieses bescheuerte Messteil aus und ab nachhause.“ Alle lachten und die elektronische Einheit mit den Temperatursensoren wurde ersetzt.

Henrike hatte das unbestimmte Gefühl, sie hätte ein Ereignis aus der jüngsten Vergangenheit vergessen. Es fiel ihr aber im Verlauf des ganzen Tages nichts mehr dazu ein. Auch später nicht, als die Dämmerungsautomatik einsetzte und alles wieder still wurde. Keinem der vielen anderen Hühner war noch irgendetwas Ungewöhnliches anzumerken. Auch Johanna nicht.

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So mag es also sein, dass wir als Leser nun die einzigen Wesen sind, die von diesem unerhörten Vorgang Kenntnis erlangt haben und von ihm berichten können.
 



 
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