Das ist der Frühling

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das ist der Frühling

In diesem Jahr fiel der erste Frühlingstag, der diesen Namen wirklich verdiente, auf einen Sonntag. Die meisten Bewohner des Alten- und Pflegeheimes mit dem wohlklingenden Namen „Seniorenresidenz Lebensglück“ hatten daher bereits den Vormittag genutzt, um im Freigelände auszuschwärmen oder wenigstens vom Balkon aus ihre Nasen schnuppernd in die weich warme Luft zu recken und die blassen Gesichter der mild strahlenden Sonne auszusetzen.
Jetzt, eine knappe Stunde nach dem Mittagessen, flogen die Besucher ein, in der Mehrzahl Familienangehörige, die ihre längst fälligen Stippvisiten bei ihren Oldies zu absolvieren trachteten. Angesichts des herrlichen Wetters lag es nahe, die winzige Parkanlage aufzusuchen, die das Heim umgab. Bald herrschte auf den schmalen Kieswegen ein reger Fußgänger-, Rollator- und Rollstuhlverkehr, der an den Wegkreuzungen fast schon einer Ampelregelung bedurft hätte.

Harald Handschke erwartete keinen Besuch, denn sein einziger Sohn und dessen Frau befanden sich zurzeit auf einer Urlaubsreise.
Ein Taschenbuch unter den Arm geklemmt, blieb er einen Moment blinzelnd stehen, bis sich seine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten. Ein zufriedenes Lächeln wischte über sein Gesicht, und sein Oberkörper straffte sich.
Vor ihm lag eine etwa vierzig mal zwanzig Meter messende und mit Verbundpflaster befestigte Fläche, die durch eine Vielzahl von Pergolen in kleine Rechtecke unterteilt wurde. Dort luden bequeme Holzbänke zum Verweilen ein.
Er steuerte die Sitzecke an, die von den meisten Heiminsassen gemieden wurde, weil sich dort die wenigen Raucher zu versammeln pflegten. Im Moment saß dort niemand. Er nahm Platz und lehnte sich behutsam nach hinten. Der erwartete Schmerz im Rücken blieb aus. Er schlug er das Buch auf.
Alles hätte perfekt sein können, wenn nicht in diesem Moment eine Karawane von ratternden Rollatoren auf der Bildfläche erschienen wäre. Harald riskierte einen entsetzten Blick auf die Rollator-Ladys, denn Frontfrau Johanna steuerte geradewegs in seine Richtung
„Nein! Bitte nicht!“, stöhnte er auf.
Eilig ergriff er eine Abwehrmaßnahme, die er für einzig Erfolg versprechend hielt. Hastig förderte eine Zigarettenschachtel aus dem Jackett, schob sich ein Stäbchen zwischen die Lippen zündete es an. Er nahm einen kräftigen Zug und ließ eine dicke Wolke über seinem Kopf aufsteigen. Eine Verzweiflungstat, die aber die erhoffte Wirkung zeigte. Die Karawane drehte abrupt ab, und schon fiel die Schar in das Rechteck neben ihm ein.
„Dass der junge Mann immer so viel rauchen muss“, hörte er eine der Frauen sagen.
Sie bekam keine Antwort, weil die Freundinnen all ihre Puste brauchte, um die Gehhilfen korrekt einzuparken.
Der „junge Mann“, der die Absicht hatte, im übernächsten Jahr seinen achtzigsten Geburtstag zu feiern, gönnte sich ein Lächeln und versuchte sich endlich seiner Lektüre zu widmen. Da brach nebenan der erwartete Redeschwall aus sechs Mündern gleichzeitig hervor, die jetzt – das wusste er aus Erfahrung – keine Sekunde mehr stillstehen würden.
Harald klappte das Buch zu, schloss die Augen und schickte einen Stoßseufzer in den azurblauen Himmel.
„Ich halte den Krach nicht aus. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“
‚Was für eine klangvolle Stimme‘, dachte er, während er die Lider hob.
Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade, hielt die mageren Arme ein wenig vom Körper ab und drehte die Handflächen leicht nach außen. Es war, als wolle sie damit ausdrücken: „Hier bin ich.“
Er kannte sie nur flüchtig vom Sehen, denn sie wohnte erst knapp drei Wochen in der Abteilung für Senioren mit beginnender Demenz. Außer dem Umstand, dass sie meist einen Rollator benutzte, waren ihm an ihr keine sichtbaren Gebrechen aufgefallen
Ihre Erscheinung wirkte auffallend. Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant zwischen lauter Glasscherben.
Wie alt mochte sie sein? Trotz ihres jung anmutenden Lächelns, bei dem sie makellose Zahnreihen blitzen ließ, schätze er sie auf wenigstens achtzig. Ihr schmales Gesicht faltig zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen. Dieses Antlitz schien vielmehr aus unzähligen Falten geformt, die in ihrer vollendeten Symmetrie diesem Gesicht jedoch ein eigenartiges Flair verliehen. Umrahmt wurde das Ganze von schlohweißen Haaren, deren enorme Fülle sofort ins Auge stach. Präsentiert wurde diese Pracht mittels einer Art Schüttelfrisur, wie sie in den siebziger Jahren häufig getragen wurde.
„Darf ich?“
„Ach so –ja. Gewiss. Wenn es Sie nicht stört, dass ich rauche.“
„Nein, das stört mich nicht“, hörte er sie sagen, und schon nahm sie dicht neben ihm Platz. „Wissen Sie. Ich habe früher auch geraucht. Das ist lange her. Damals war ich… ach was… geben Sie mir auch eine.“
Harald beschloss, sich nicht mehr über diese Frau zu wundern und hielt ihr die Schachtel hin. Mit spitzen Fingern entnahm sie die Zigarette und schob sie zwischen die schmalen Lippen. Harald gab artig Feuer. Nach dem ersten Zug hüstelte sie ein wenig, doch das legte sich rasch, und er gewann den Eindruck, als würde sie sogar mit Genuss den Rauch inhalieren. Sie rutschte auf der Bank ein Stück vor, lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte er sie zwischen zwei Zügen sagen: „Jetzt fehlt nur noch eine schöne Tasse Kaffee.“
„Das stimmt. Aber die Kaffeezeit beginnt erst in zweieinhalb Stunden. Und die Brühe aus dem Automaten ist ungenießbar.“
„Schade“, sagte sie und schlug die Augen auf. „Wirklich schade.“
Ihr Bedürfnis nach dem braunen Getränk begann sich, auf Harald zu übertragen.
„Ich weiß in der Nähe ein Restaurant“, verriet er. „Bei dem herrlichen Wetter ist garantiert schon der Kaffeegarten geöffnet.“
„Oh ja – lassen Sie uns dorthin gehen! Bestimmt gibt es dort auch Torte. Ich bin verrückt nach Torte – richtige Sahnetorte.“
Sie glitt von der Bank, drückte die Zigarette aus und baute sich auffordernd vor ihm auf.
Harald zögerte. Er bereute bereits, von der Gaststätte erzählt zu haben. Mit einer Dementen hatte er noch nie ein Lokal besucht.
„Kommen Sie!“
Ihm wurde klar, aus der Nummer kam er nicht mehr raus, ohne die Frau vor den Kopf zu stoßen. Vorsichtig stemmte er sich hoch. Zufrieden stellte er fest, dass ihn sein Rücken auch diesmal in Ruhe ließ.
„Gehen wir?“ In ihrer Stimme lag aufkommende Ungeduld.
„Ja – ja natürlich“, sagte er zögernd, und bedeutete ihr, dass er hier auf sie warten würde, während sie ihren Rollator holte.
„Ist es denn weit?“
„Nö – Allenfalls dreihundert Meter.“
„Da brauche ich keinen Rollator. Das schaffen wir auch so.“
Mit diesen Worten hakte sie sich burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort. Es brauchte ein paar Meter, bis er sich ihren Trippelschritten angepasst hatte und die Führung übernehmen konnte.
Im Park stellte er fest, dass etliche Gaffer ihnen hinterher glotzten. Auch die hübsche Praktikantin, die sich mit einem opabestückten Rollstuhl durch den Kies quälte, guckte ein wenig verdutzt.
„Gut, dass ich Sie treffe“, sprach Harald sie an. „Ich gehe für ein bis zwei Stunden mit Frau… Frau… Wie heißen Sie eigentlich?“
„Das ist Frau Rathmann“, kam die Praktikantin zuvor.
„Ja. Frau Rathmann und ich – wir wollen ins Café ‚Waldkater‘.“
Die junge Frau nickte und versprach im Wohnbereich Bescheid zu geben. Ehe sie sich wieder hinter den Rollstuhl klemmte, überzog ein Grinsen ihr Gesicht.
„Aber dass mir keine Klagen kommen, Herr Handschke!“
Harald griente zurück. „Und wenn, dann hoffe ich auf ihr Verständnis. Sie waren ja schließlich auch mal jung.“

Als sie die Straße erreicht hatten, blieb Frau Rathmann stehen.
„Wo wollen wir eigentlich hin?“
„Na Kaffee trinken und Torte essen.“
„Ja natürlich! Wie konnte ich das vergessen.“

Sie setzten ihren Weg fort. Doch schon nach wenigen Metern blieb sie erneut stehen, hob den Kopf und atmete mehrmals tief durch.
„Ist Ihnen nicht gut?“
„Aber nicht doch. Ich genieße nur die herrliche Luft. Ich kann ihn riechen, den Frühling.“
„Aha“, machte er nur.
„Riechen Sie das auch?“
„Weiß nicht.“
„Wenn ich da an die strengen Gerüche auf unseren Fluren denke … Stört sie dieser Mief auch?“
„Och. Daran habe ich mich gewöhnt. Es gibt Schlimmeres. Außerdem ist mein Geruchssinn nicht sonderlich ausgeprägt. Berufskrankheit.“
„Wieso? Was waren Sie denn von Beruf?“
„Ich war technischer Leiter unserer städtischen Kläranlage.“
„Nein!!!“ Ihre Pupillen weiteten sich und vermittelten einen konsternierten Ausdruck.
„Doch!“
„Kläranlage, tss, tss“, hörte er sie murmelnd. Das Wort „Kinderschänder“ hätte sie nicht weniger entsetzt aussprechen können. Gleichzeitig ging sie körperlich auf Distanz. Ihre Hand rutschte aus seiner Armbeuge. Doch kaum waren die nächsten Schritte getan, da kam Frau Rathmann ins Straucheln, und schon wurde der alte Zustand wieder hergestellt.
‚Bis wir den Kaffee vor uns stehen haben, hat sie meinen Beruf eh vergessen‘, dachte er und schmunzelte so lange in sich hinein, bis er sich dieses Gedankens zu schämen begann. Durfte er sich über ihre beginnende Krankheit lustig machen?

Sie betraten den mit noch unbelaubten Baumriesen bestückten Kaffeegarten. Trotz der Vielzahl an Gästen, die sich hier niedergelassen hatten, fand er auf Anhieb einen freien Tisch, zu dem er die Frau an seiner Seite hin dirigierte.
Erst als sie bereits saßen, bemerkte er die zahlreichen Blicke, die sich auf ihn und seine Begleiterin richteten. Kein Wunder – es wimmelte vor Heiminsassen – teils mit, teils ohne Angehörige. An manchen Tischen wurde jetzt heftig getuschelt.
„Schau an – der einzige noch brauchbare Mann aus dem Wohnbereich römisch zwo hat sich ausgerechnet von dieser feinen Tussi aus der Demenzabteilung abschleppen lassen. Worauf lässt sich der stattliche Handschke da ein? Wer weiß, ob er in absehbarer Zeit überhaupt noch von ihr erkannt wird.“
Harald beobachtete die aufgeregten Hühner nur aus den Augenwinkeln, denn es gab jetzt Wichtigeres– die Bestellung.
Beide orderten je einen Pott Kaffee, und Frau Rathmann nahm dazu ein überdimensionales Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Er begnügte sich mit einem mageren Stück Streuselkuchen, schließlich musste er wegen seiner Rückenbeschwerden auf sein Gewicht achten.
Frau Rathmann schnupperte an der Torte und machte genüsslich „Hmm“, ehe sie Milch in den Kaffee schüttete. Vorsichtig führte sie dann den Pott an die Lippen und nippte an dem heißen Gesöff.
„Wunderbar“, hauchte sie. „Der Kaffee ist wirklich gut.“
Dann fiel sie über die Torte her. Obwohl sie munter drauflos schaufelte, kam ihr Mundwerk kaum zum Stehen. Auf diese Weise lernte Harald ungewollt die individuellen Besonderheiten der kompletten Familie Rathmann kennen. Sie hielt nur inne, wenn sie einen Schluck aus der Tasse nahm und dies mit den Worten kommentierte: „Der Kaffee ist wirklich gut.“
„Ja das isser“, brummte Harald beim dritten Mal.
„Wo war ich stehen geblieben? Ach – habe ich schon erzählt, dass mein Vater ein begnadeter Uhrmacher war?
„Ja – das sagten Sie bereits.“
„Ach ja? Übrigens, was ich Sie fragen wollte: Was haben Sie eigentlich beruflich gemacht?“
‚Oh nein!‘, dachte Harald und überlegte, was er antworten sollte. Mit seiner Kläranlage hatte er ja nun nicht gerade punkten können.
„Ich… ich war Chefhydrauliker für Aqua konterminata.“
„Ach! Interessant!“, rief sie aus, hielt sich damit aber nicht weiter auf, sondern verfiel jetzt in Lobeshymnen, die sie ihrer Heimatstadt widmete.
Es fiel ihm immer schwerer, ihrem Geplapper zu folgen. Gelangweilt ließ er seine Blicke durch die Runde schweifen. An einer hübschen jungen Frau, die sich gerade über einen Kinderwagen beugte, blieben Selbige hängen. Der ohnehin weite Ausschnitt klaffte auf und gewährte dem alten Mann einen Einblick, der ihm einen tiefen Seufzer der Entsagung entlockte.
„Sie hören mir ja gar nicht zu!“
Noch ehe er reagieren konnte, gewahrte sie seine Blickrichtung, stutzte kurz und spendierte ihm ein verständnisvolles Lächeln.
„Ich weiß, da kommt Wehmut auf, nicht wahr? Aber was soll es. Trink lieber deinen Kaffee aus, bevor er gänzlich kalt wird. Der ist übrigens ganz ausgezeichnet.“
„Das sagen Sie bereits zum fünften Mal“, entfuhr es Harald ungewollt. Aber, ehe er eine Entschuldigung murmeln konnte, zwitscherte sie weiter: „Na, wenn ich das schon fünfmal erwähnt habe, muss der Kaffee doch gut sein.“
Harald lachte. Die Antwort gefiel ihm. Und es gefiel ihm, dass sie ihn plötzlich geduzt hatte. Er ging darauf ein, indem er fragte: „Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“
„Das weißt du nicht?“ Und als er den Kopf schüttelte, setzte sie hinzu: „Ich bin doch die Sophie.“
„Und ich heiße Harald.“
Während er, wie ihm geheißen, den Pott leertrank, schielte er noch einmal zu der jungen Frau. Die hatte sich wieder gesetzt, und sein Blick traf lediglich einen schönen aber nicht ganz so interessanten Rücken.
„Ich war auch mal ein toller Feger“, hörte er Sophie dicht an seinem Ohr raunen. Gleichzeitig spürte er ihre Hand auf der seinen. Er wandte ihr den Kopf zu und schaute in zwei braune Augen, die einen ganz eigenartigen, fast jugendlichen Glanz bekommen hatten.
„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte er.
„Ich hatte lange schwarze Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mein Kleiderschrank hing voller bezaubernder Petticoats. Wenn ich die trug, starrten mir die Männer scharenweise hinterher. Aber ich besaß nur Augen für meinen Klaus.“
Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich regelrecht, ehe sie fortfuhr: „Ihm gehörte eine Vespa. Stell dir vor, ich mit einem steifen Petticoat hinten auf dem Rücksitz. Wir machten Touren hinaus in die Natur, wo wir ... Kannst du dir ja denken. Oder wir fuhren zu Freunden. Mein Gott, was haben wir für Partys gefeiert. Ach – eine herrlich verrückte Zeit.“
Harald kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn sie ließ unvermittelt seine Hand los, warf den Kopf in den Nacken und starrte durch die kahlen Äste hinauf zum Himmel. Ein entrücktes Lächeln umspielte ihre Lippen. Und plötzlich begann sie zu deklamieren.

„Nur einmal bringt des Jahres Lauf
uns Lenz und Lerchenlieder.
Nur einmal blüht die Rose auf,
und dann verwelkt sie wieder;
nur einmal gönnt uns das Geschick
so jung zu sein auf Erden:
Hast du versäumt den Augenblick,
jung wirst du nie mehr werden.“

„Das ist sehr schön, aber auch ein bisschen deprimierend“, resümierte Harald, und das meinte er zutiefst ehrlich. Die Wehmut, die in diesen Zeilen leise mitschwang, hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen. Die besaß auch einen Namen: Altsein.
Doch Sophie ließ ihm keine Zeit für Melancholie. Sie schien wieder in der Gegenwart angekommen zu sein und klärte ihn darüber auf, dass sie dieses Gedicht, das von einem gewissen Richard von Wilpert sei, bereits in der Schule gelernt hatte.
„Und du siehst – ich kann es immer noch auswendig. Magst du auch eines aufsagen?“
„Nee, aus der Schulzeit nicht. Aber…“ Er zögerte einen Moment, nahm seinen Mut zusammen und sagte: „Ich hätte da eins… auch vom Frühling … ich weiß aber nicht, ob… Ach, ich versuche es mal.“
Er räusperte sich umständlich und begann:

Der Frühling braust mit Macht ins Land,
der letzte Schnee ist längst getaut.
Im Garten ich schon Blümchen fand.
Ganz neu noch und doch lang vertraut.

Die Birke zeigt schon grüne Knospen.
Manch Vogel es nun heimwärts zieht.
Schau ¬¬- auf des Zaunes morschen Pfosten
singt eine Amsel schon ihr Lied.

Ich sitz vorm Haus, genieß die laue
Frühlingsluft beim Abendrot,
und während ich zum Himmel schaue,
klatsch ich die erste Mücke tot.

Bald blühen auch die Königskerzen.
Die Frösche quaken in den Teichen.
Fast weg sind meine Rückenschmerzen.
Nur mein Rheuma will nicht weichen.

Er sah sie erwartungsvoll an, bemerkte, wie sie den Mund verzog und den Kopf schüttelte.
„Von wem sind denn diese Rumpelverse? Das holpert und poltert, als wenn …“
„Das ist von mir!“, warf er mit schwer verletztem Dichterstolz dazwischen.
„Nein!!!“
„Doch. Ich habe es erst heute Vormittag geschrieben.“
„Du dichtest?“
„Ja manchmal.“
„Toll! Schreibst du auch ein Gedicht für mich?“
Ihr Ton ließ ihn befürchten, keine andere Wahl zu haben. Ihr vernichtendes Urteil über seine „Rumpelverse“ schien aufgehoben zu sein.
„Ich kann es ja versuchen“, sagte er in aller Bescheidenheit.
„Da freu ich mich aber!“
Und ehe er es sich versah, beugte sie sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald!“, korrigierte er sie, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte.
„Natürlich – Harald – wie konnte ich das vergessen.“
Das klang fast, als wäre sie ein wenig traurig. Auch ihre Augen besaßen nicht mehr diesen Glanz. Die glänzten umso mehr bei den noch in der Nähe sitzenden Heimbewohnern. Harald glaubte, ihr Tuscheln deuten zu können.
„Habt ihr gesehen – sie hat ihn geküsst. In aller Öffentlichkeit. Nee, je oller, je doller…“
Die meisten der Senioren-Residenzler hatten sich allerdings schon auf den Rückweg ins Heim gemacht, denn dort stand jetzt im Gemeinschaftsraum das gemeinsame Absingen altvertrauter Volkslieder auf dem Plan. Darauf hatte Harald wahrlich keinen Bock. Trotzdem rief er die Kellnerin heran und bat um die Rechnung.
„Das war ein wunderbarer Nachmittag“, schwärmte Sophie beim Aufstehen. Sie hakte sich wieder bei ihm ein und raunte ein: „Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald.“
„Natürlich – wie konnte ich das vergessen.“

Als sie die Fußgängerbrücke erreichten, die über einen Bach führte, blieben sie wie verabredet stehen und traten dicht an das Geländer. Das Wasser plätscherte um die im Bachbett verstreuten Steine und schickte sein quirliges Glitzern hinauf zu dem Paar, das in stummer Betrachtung verharrte.
„Wie schön.“ Hatten sie das wirklich beide gleichzeitig gesagt?

Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, mit Dingen beschäftigt, die ungewollt von irgendwo her auf sie eingestürmt sein mochten, die aber kein Nachdenken erforderten. Es war eher ein versonnenes Treibenlassen – durch nichts Konkretes bestimmt. Eigentlich nur Empfindungen.
Empfindungen?
Harald fühlte sich unsicher werden. Er blinzelte einen Moment lang in die Sonne, ehe er Sophie den Kopf zuwandte. Fast gleichzeitig drehte auch sie ihr wallend weißes Haupt und sah ihn von unten herauf an. Ein feines Lächeln spielte über ihre Lippen, ehe es in den reich gefältelten Mundwinkeln versickerte. In ihren Augen lag jetzt wieder dieses jugendliche Leuchten. Die goldbraunen Pupillen wirkten wie kleine Sonnen, deren Strahlen in den zahllosen Falten ihres Antlitzes verewigt schienen.
Harald schaute fasziniert in dieses Gesicht, von dem auf einmal ein Leuchten auszugehen schien, das sogar sein Inneres erreichte und sich langsam darin auszubreiten begann. Was war das für ein Gefühl, das jäh über ihn hereinbrach und ihn zwang, seinen Arm um Sophies schmale Schulter zu legen? Vielleicht wäre er über so viel Kühnheit vor sich selbst erschrocken gewesen, wenn er nicht zeitgleich ihre Hand auf seiner Hüfte gefühlt hätte. Und dann fanden sich ihre noch freien Hände zu einem festen und zugleich zärtlichen Druck.
Harald löste seinen Blick, starrte erneut aufs Wasser und lauschte nach innen, wartete von dort auf eine Erklärung über das, was sich hier gerade abspielte. Er erhielt keine.
„Was ist das?“
Erst als ihre Finger über seinen Handrücken spielten, wurde ihm bewusst, dass er die Frage laut gestellt hatte.
Ihre Stimme war unglaublich weich, als sie sagte: „Das ist der Frühling! Unser Frühling, Klaus?“
 

PEEB

Mitglied
Hallo @ Ralph, bei Dir kann man es sich leisten,ein @ voran zu stellen, bist ja praktisch ne Institution in/auf diesem Forum.

Es gibt hier wohl so etwas wie Gerüchteküchen. Die Lesezahl dieser Geschichte ist für Deine Werke sehr niedrig. Das mag daran liegen, dass der Spannungsbogen, den der Titel ausstrahlt, ziemlich geradlienig verläuft. Hier wird etwas verraten, das schon den Verlauf erzählt. Was genau dahinter steckt, scheint den Leser nicht zu beeindrucken, was ich persönlich sehr schade finde.
Es ist eigentlich wie bei meinem Text, in dem der Einswerter, nach Deiner Aussage; nur den Titel gelesen hat.
Den Titel hatte ich bewusst und im Wissen gewählt, dass es kaum Jemand nachvollziehen kann. ADS ist eine Krankheit, weshalb ich die Punkte setzte. Die Neugier der Leser war da, aber, und da muss ich mir nichts vormachen, wäre ohne Deine Hilfestellung und Erklärung, wohl niemand zu einer Wertung bereit gewesen.

Hier in dieser Story, erschrecken die vorhandenen Gefühle den Leser wohl eher. Wer nicht wirklich was erlebt hat, wird Gedanken daran meiden. Ein wirklich empathischer Leser muss bereit sein, sich auf die Geschichte einzulassen und sie zu durchleben, glaube ich.
Freue mich auf Deine nächste Story :)
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Ralph,
Erzählungen über “ ältere Menschen” les ich sehr gern!
Hier ein paar Eindrücke während des Lesens.
Lieben Gruss!
Ji

Harald Handschke erwartete keinen Besuch, denn sein einziger Sohn und dessen Frau befanden sich zurzeit auf einer Urlaubsreise.
Ein Taschenbuch unter den Arm geklemmt, blieb er einen Moment blinzelnd stehen, bis sich seine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten. Ein zufriedenes Lächeln wischte über sein Gesicht, und sein Oberkörper straffte sich. ([blue]Was meinst Du? Er richtete sich auf?[/blue])
Vor ihm lag eine etwa vierzig mal zwanzig Meter messende und mit Verbundpflaster befestigte Fläche, die durch eine Vielzahl von Pergolen in kleine Rechtecke unterteilt wurde. Dort luden bequeme Holzbänke zum Verweilen ein. [blue](Ist es wichtig zu wissen, woraus die Fläche besteht, auf der sich die Holzbänke befinden? Ich glaub, das lenkt ein wenig zu sehr ab und tut nichts zur Sache)[/blue]

Der erwartete Schmerz im Rücken blieb aus. Er schlug [strike][blue]er[/blue][/strike] das Buch auf.

„Nein! Bitte nicht!“, stöhnte er auf.
Eilig ([blue]in der nächsten Zeile steht schon: Hastig[/blue]) ergriff er eine Abwehrmaßnahme, die er für einzig Erfolg versprechend hielt. Hastig förderte eine Zigarettenschachtel aus dem Jackett, schob sich ein Stäbchen zwischen die Lippen zündete es an.
[blue]Ginge es vielleicht auch so?: Als Abwehrmassnahme, die er für Erfolg versprechend hielt, förderte er eine Zigarettenscachtel aus dem Jackett, schob sich hastig ein Stäbchen zwischen die Lippen und zündete es an. [/blue]

Dass der junge Mann immer so viel rauchen muss“, (Würden die Frauen bei einem achtzigjährigen “Junger Mann” sagen?) ?)hörte er eine der Frauen sagen.

Sie bekam keine Antwort, weil die Freundinnen all ihre Puste brauchte[red]n[/red], um die Gehhilfen korrekt einzuparken.

‚Was für eine klangvolle Stimme‘, dachte er, während er die Lider hob.
Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade,[blue](wieso: aber?[/blue]) hielt die mageren Arme ein wenig vom Körper ab und drehte die Handflächen leicht nach außen. Es war, als wolle sie damit ausdrücken: „Hier bin ich.“([blue]Hier bin ich? Hört sich in diesem Kontext für mich seltsam an. Vielleicht besser: als wolle sie sich bemerkbar machen?)[/blue]

Er kannte sie nur flüchtig vom Sehen, denn sie wohnte erst knapp drei Wochen in der Abteilung für Senioren mit beginnender Demenz. Außer dem Umstand, dass sie meist einen Rollator benutzte, waren ihm an ihr keine sichtbaren Gebrechen aufgefallen
Ihre Erscheinung wirkte auffallend. Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant ([blue]warum? Den weiter unten genannte Grund dafür würde ich gleich an dieser Stelle dazu schreiben)[/blue] zwischen lauter Glasscherben.

Wie alt mochte sie sein? Trotz ihres jung anmutenden Lächelns, bei dem sie makellose Zahnreihen blitzen ließ, schätze er sie auf wenigstens achtzig ( [blue]sind ihre Zähne echt?[/blue];)). Ihr schmales Gesicht faltig zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen. Dieses Antlitz schien vielmehr aus unzähligen Falten geformt, die in ihrer vollendeten Symmetrie diesem Gesicht jedoch ein eigenartiges Flair verliehen. Umrahmt wurde das Ganze von schlohweißen Haaren, deren enorme Fülle sofort ins Auge stach. Präsentiert wurde diese Pracht mittels einer Art Schüttelfrisur, wie sie in den siebziger Jahren häufig getragen wurde.

Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant zwischen lauter Glasscherben. ([blue]Ich würd nur einmal den Vergleich mit dem Diamant schreiben[/blue]).

„Darf ich?“
„Ach so –ja. Gewiss. Wenn es Sie nicht stört, dass ich rauche.“
„Nein, das stört mich nicht“, hörte er sie sagen, und schon nahm sie dicht neben ihm Platz. „Wissen Sie. Ich habe früher auch geraucht. Das ist lange her. Damals war ich… ach was… geben Sie mir auch eine.“ ([blue]Plötzlich nach so vielen Nichtraucherjahren, greift die alte Dame jetzt doch noch zu einer Fluppe? Vielleicht besser zu erwähnen, dass sie hin und wieder mal eine raucht?[/blue]).

Harald beschloss, sich nicht mehr über diese Frau zu wundern ([blue]wann hat er sich zuvor über sie “gewundert”?[/blue]) und hielt ihr die Schachtel hin.

„Da brauche ich keinen Rollator. Das schaffen wir auch so.“
Mit diesen Worten hakte sie sich burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort ([blue]Sie zog ihn fort? Mit Trippelschritten, und Rollator, an den er sich anpassen muss?[/blue]) Es brauchte ein paar Meter, bis er sich ihren Trippelschritten angepasst hatte und die Führung übernehmen konnte.

„Schau an – der einzige noch brauchbare Mann aus dem Wohnbereich römisch zwo hat sich ausgerechnet von dieser feinen Tussi aus der Demenzabteilung abschleppen lassen. Worauf lässt sich der stattliche Handschke da ein? Wer weiß, ob er in absehbarer Zeit überhaupt noch von ihr erkannt wird.“ ([blue]Wo kommt dieser ganze Satz her? Hört Harald ihn?[/blue])
Harald beobachtete die aufgeregten Hühner nur aus den Augenwinkeln, denn es gab jetzt Wichtigeres– die Bestellung.
 

ThomasQu

Mitglied
Sehr schön und anrührend, Ralph!
Ich weiß nur nicht, ob das Bittere oder das Süße überwiegt.
Gruß Th.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein Hallo an diejenigen,

die mir eine Rückmeldung zu dieser Geschichte haben zukommen lassen. Nichts erfreut einen Autor mehr als derartige Reaktionen. Umso mehr muss es euch verwundert haben, dass ich so ewig lange (mehr als einen Monat) gebraucht habe, um endlich eine Antwort zu verfassen. Ich weiß, das grenzt nicht nur an Unhöflichkeit; es ist eine.
Ausreden möchte ich mir sparen und einfach nur um Entschuldigung bitten.


Hallo PEEP,

herzlichen Dank für deine Reaktion. Die Fehler, auf die du in deinem ersten Beitrag hingewiesen hast, sind berichtigt. Danke dafür. Da liest man sich so einen Text mindestens zehnmal durch und dann…
Die Lesezahl dieser Geschichte ist für Deine Werke sehr niedrig. Das mag daran liegen, dass der Spannungsbogen, den der Titel ausstrahlt, ziemlich geradlinig verläuft. Hier wird etwas verraten, das schon den Verlauf erzählt. Was genau dahinter steckt, scheint den Leser nicht zu beeindrucken, was ich persönlich sehr schade finde.
Ehrlich gesagt: Große Hoffnungen, möglichst viele Leser bei dieser Geschichte zu finden, habe ich mir ohnehin nicht gemacht. Bei uns in der Region gibt es einen kleinen Autoren-Zirkel. Dort stellt man sich hin und wieder mal ganz bestimmte Themen, zu denen dann jeder etwas aus seiner Sicht schreibt. Diesmal lautete das Stichwort „Frühling“. Da ich mich mit Frühlingsblumen-Gebimmel ziemlich schwer tue, kam ich auf die Idee mit dem Seniorenheim. So ein Thema – vor allem, wenn nicht die häufig katastrophalen Zustände in einem solchen Heim angeprangert und die Leiden der Bewohner ins Visier genommen werden, ist das wenig spektakulär.
Ich habe auch nur deshalb die Geschichte geschrieben, weil es diese Sophie tatsächlich gibt. Ich habe sie in dem Seniorenheim kennengelernt, in dem auch meine demenzkranke Mutter ihre letzten Jahre verlebt hat. Ich war von der Ausstrahlung dieser Frau auf eine mir schwer zu erklärende Weise fasziniert. In der Erzählung bin ich, ohne es vorher beabsichtigt zu haben, komplett in die Rolle dieses Harald geschlüpft. Ich habe mich einfach ein paar Tage älter gemacht und bin zum Harald geworden. Ein Gefühl, das für mich völlig neu und auf seine Weise sehr spannend war.
Hier in dieser Story, erschrecken die vorhandenen Gefühle den Leser wohl eher. Wer nicht wirklich was erlebt hat, wird Gedanken daran meiden. Ein wirklich empathischer Leser muss bereit sein, sich auf die Geschichte einzulassen und sie zu durchleben, glaube ich.
Es lag nicht in meiner Absicht, die Leser zu erschrecken. Im Gegenteil. Ich bin der Ansicht (oder Hoffnung?), dass auch im hohen Alter und in der mitunter tristen Kulisse eines Pflegeheimes ein bisschen persönliches Glück erlebbar sein muss. Das Personal kann dabei wenig helfen – aber eine Partnerschaft (oder auch Freundschaften) schon eher. In dem Seniorenheim, wo meine Mutter untergebracht war, lebte auf dem gleichen Flur ein neunzigjähriger Mann, der vor sehr langer Zeit ein Arbeitskollege von mir war. Einmal traf ich ihn auf dem Flur, wo er mir mit seinem Rollator entgegen kam. Im Korb von dem Gefährt lagen etliche Südfrüchte und vier kleine Flaschen Piccolo-Sekt. Ich fragte ihn scherzhaft, ob er auf seinem Zimmer eine Party schmeißen wolle.
„So etwas ähnliches“, verriet er mir grinsend. „Ich hab doch jetzt ne neue Freundin. Die ist zwar ein Jahr älter als ich, aber ne richtige Kirsche.“
So etwas macht Mut auf das, was noch auf uns zukommen wird. Es wäre für mich unmöglich gewesen, mich in einen dieser Heiminsassen hinein zu versetzen, die dort wirklich für den Rest ihres Lebens nur noch dahinzudämmern scheinen. Vielleicht liegt das an meiner Einstellung zum Leben und an der Tatsache, dass dieses Leben bis jetzt relativ nett mit mir umgegangen ist. Pardon – ich schweife ab.


Hallo Thomas,

Sehr schön und anrührend, Ralph!
Wer hört ein solches Lob nicht gern? Als ich diese Geschichte im April während einer Lesung vortrug, gab es zwar mittendrin hin und wieder ein Auflachen, aber am Ende hielt sich der Beifall in Grenzen. Nur zwei ältere Damen (wahrscheinlich schon über die Siebzig) kamen anschließend zu mir und fanden fast die gleichen Worte wie du. Das war Lohn genug.
Ich weiß nur nicht, ob das Bittere oder das Süße überwiegt.
Du hast Recht. Und zugegeben – ich weiß es auch nicht. Aber da gibt es ja noch das Adjektiv „bittersüß“. Vielleicht trifft es das?


Hallo Ji Rina,

ich mag es, wenn Kritiker/ Kommentatoren sich die Mühe machen, direkt in den Text „reinzugehen“, um konkret auf Fehler, Schwachstellen oder auch Ungereimtheiten hinzuweisen. Nichts hilft meines Erachtens dem Autor mehr. Dafür hab vielen Dank. Nachfolgend möchte ich auf deine Anmerkungen eingehen.
Ein zufriedenes Lächeln wischte über sein Gesicht, und sein Oberkörper straffte sich.
[blue]Was meinst Du? Er richtete sich auf?[/blue]
Ja, er richtet sich auf. Warum schreibe ich das nicht? Klingt doch verständlicher.
Das „straffen“ des Körpers (hier des Oberkörpers) hat neben dem sich Aufrichten noch eine andere Bedeutung. Es soll Entschlossenheit signalisieren. Und wenn es lediglich die Entschlossenheit ist, den sonnigen Tag mit (für ihn) angenehmer Lektüre verbringen zu wollen. Vielleicht ist diese zusätzliche Bedeutung aus unserem Sprachgebrauch verschwunden? Entspricht mein Stil nicht mehr der heutigen Zeit? Da muss ich echt mal drüber nachdenken.
[/blue](Ist es wichtig zu wissen, woraus die Fläche besteht, auf der sich die Holzbänke befinden? Ich glaub, das lenkt ein wenig zu sehr ab und tut nichts zur Sache)[/blue]
Natürlich hast du Recht, obwohl die Ablenkung nur von einem Wort, nämlich „Verbundpflaster“ verursacht wird. Ich habe damit auch Bauchschmerzen gehabt, denn es tut ¬– zumindest an dieser Stelle – wirklich nichts zur Sache. Ich wollte nur das weiter unten erwähnte Geratter der Rollatoren mit dem Pflaster erklären. Ich werde es hier herausstreichen und klammheimlich dort hinein mogeln, wo es hingehört.

Eilig [blue](in der nächsten Zeile steht schon: Hastig)[/blue] ergriff er eine Abwehrmaßnahme, die er für einzig Erfolg versprechend hielt. Hastig förderte eine Zigarettenschachtel aus dem Jackett, schob sich ein Stäbchen zwischen die Lippen zündete es an.
[blue]Ginge es vielleicht auch so?: Als Abwehrmassnahme, die er für Erfolg versprechend hielt, förderte er eine Zigarettenscachtel aus dem Jackett, schob sich hastig ein Stäbchen zwischen die Lippen und zündete es an.
Klar geht das! Dein Vorschlag gefällt mir und wird übernommen. Damit hat sich auch die Doppelung von „hastig“ und „eilig“ elegant erledigt. Danke.
Dass der junge Mann immer so viel rauchen muss“, [blue](Würden die Frauen bei einem achtzigjährigen “Junger Mann” sagen?[/blue]
Ich habe es nicht selten erlebt, wo man einen Sechzigjährigen mit „Junger Mann“ betitelt hat. (zum Beispiel machte das unsere Bäckersfrau.) Das ist natürlich nicht ernst gemeint. Vielleicht ist das auch etwas Regionales? Ich weiß es nicht. Ich wollte das mit dem fast achtzigjährigen Harald ein wenig auf die Spitze treiben. Als Auflockerung und als Übergang zum wahren Alter. War wohl nix.
Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade,[blue](wieso: aber?)[/blue]
Das „Aber“ resultiert daraus, dass es unter pflegebedürftigen Seniorinnen (und Senioren) nicht allzu häufig vorkommt, dass sie kerzengerade stehen. Diese Körperhaltung soll etwas sein, das Haralds Interesse mit zu wecken hilft. Ist das wirklich so daneben?

Es war, als wolle sie damit ausdrücken: „Hier bin ich.“[blue](Hier bin ich? Hört sich in diesem Kontext für mich seltsam an. Vielleicht besser: als wolle sie sich bemerkbar machen?)[/blue]
Da gebe ich dir Recht, aber es sollte seltsam wirken. Um sich „nur“ bemerkbar zu machen, hätte sie die Hände nicht nach außen drehen müssen, da hätte unter Umständen ein lautes Räuspern gereicht. Aber Sophie ist eben anders.

Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant [blue](warum? Den weiter unten genannte Grund dafür würde ich gleich an dieser Stelle dazu schreiben)[/blue] zwischen lauter Glasscherben.
Ich gebe zu, der Diamant ist ein wenig übertrieben. Harald neigt etwas zur Übertreibung, aber der Grund, warum er so empfindet folgt doch auf dem Fuße. Da klemmt nur ein Satz zwischen seinem Eindruck von ihr und der Begründung dafür. Nämlich: Wie alt mochte sie sein? Danach kommt schon das, was sie in seinen Augen zu einem Diamanten unter den Glasscherben macht.
Trotz ihres jung anmutenden Lächelns, bei dem sie makellose Zahnreihen blitzen ließ, schätze er sie auf wenigstens achtzig [blue]( sind ihre Zähne echt? )[/blue]
.
Das sind sie mit Sicherheit nicht. Aber warum sollen die „Dritten“ nicht auch makellos blitzen können. Uff! Vielleicht bin ich in meiner Sophie-Euphorie doch über das Ziel hinaus geschossen?
[blue](Ich würd nur einmal den Vergleich mit dem Diamant schreiben)[/blue]
Den Vergleich gibt es doch nur einmal. Ehrlich!.
[blue](Plötzlich nach so vielen Nichtraucherjahren, greift die alte Dame jetzt doch noch zu einer Fluppe? Vielleicht besser zu erwähnen, dass sie hin und wieder mal eine raucht?)[/blue]
Ja, dein Vorschlag wäre eine Variante. Ich wollte damit eigentlich nur Sophis Spontanität unterstreichen. Mir fiel diese Passage ein, als ich an meine Großmutter dachte. Sie hatte nach eigenen Angaben ihre letzte Zigarette als sehr junge Frau in den dreißiger Jahren geraucht. Und plötzlich sehe ich sie bei meiner Hochzeit in einer Ecke sitzen und paffen. Da war sie 78! Danach hat sie nie wieder einen Glimmstängel angerührt. Aber dieses Bild hat sich bei mir eingefressen.
Zum anderen wollte ich damit den Übergang zum plötzlichen Verlangen nach Kaffee gestalten. Raucher fühlen sich am wohlsten, wenn sie ihre Nikotinsuch bei Bier oder Kaffee frönen dürfen.
Harald beschloss, sich nicht mehr über diese Frau zu wundern [blue](wann hat er sich zuvor über sie “gewundert”?)[/blue]und hielt ihr die Schachtel hin.
Erwischt! Da muss ich entweder dem Harald noch Stoff zum Wundern geben oder das Gewundere rauslassen. Letzteres wäre wohl bequemer. Danke für den Hinweis.
[blue](Sie zog ihn fort? Mit Trippelschritten, und Rollator, an den er sich anpassen muss?)[/blue]
O.k. – da hat der Autor übertrieben. Ich werde sie ihn am Ärmel zupfen lassen oder so. Übrigens passt er sich nur ihren Schritten an. Einen Rollator hat sie nicht dabei. Aber das ist meine Schuld. Die Geschichte ist eigentlich noch länger. (Unter anderem wird im Vorfeld ein Streit mit ihrem Sohn geschildert, wo es ums Erbe geht) Da habe ich beim Kürzen wohl nicht richtig aufgepasst.

„Schau an – der einzige noch brauchbare Mann aus dem Wohnbereich römisch zwo hat sich ausgerechnet von dieser feinen Tussi aus der Demenzabteilung abschleppen lassen. Worauf lässt sich der stattliche Handschke da ein? Wer weiß, ob er in absehbarer Zeit überhaupt noch von ihr erkannt wird.“ [blue](Wo kommt dieser ganze Satz her? Hört Harald ihn?)[/blue]
Nein. Harald hört gar nichts. Er glaubt nur zu hören, denn er kann sich sehr gut vorstellen, was da gehechelt wird, und er legt diese Worte den Frauen zumindest gedanklich in den Mund. Ist das zu unverständlich rüber gekommen? Vielleicht ist das Ganze um einen Halbsatz zu ergänzen. Muss ich mir was einfallen lassen.


Oh je, meine Antwort ist ja fast genauso lang wie die Geschichte. Macht nichts. Ich brauche immer lange, bis ich mich zum „Antwort-Schreiben“ durchringe, und dann wird es immer viel zu viel des Guten.
Also Schluss jetzt. Ich möchte mich nochmals bei euch für die Kommentare bedanken.

Es grüßt
Ralph
 

PEEB

Mitglied
Es lag nicht in meiner Absicht, die Leser zu erschrecken. Im Gegenteil.
[blue]Das erschrocken Sein beziehe ich auf mehr oberflächliche Menschen. Ich lag drei Jahre in verschiedensten Kliniken und habe ebenso verschiedene Charaktere kennengelernt. Wenn einen der eigene Bruder bei seinen Kumpanen als Krüppel darstellt und mit spastischen Bewegungen lächerlich macht, kann man Menschen besser einschätzen. Wenn man versteht, dass andere Menschen weder Möglichkeit noch Interesse haben, sich in so etwas reinzudenken.Ich hab im ersten Jahr einen Tennisspieler im KH getroffen, der hatte nen Kreuzbandriss und durfte min. zwei Monate pausieren. Der war down und seine Frau iverließ ihn, weil der im Selbstmitleid zergangen war.[/blue]

Ich bin der Ansicht (oder Hoffnung?), dass auch im hohen Alter und in der mitunter tristen Kulisse eines Pflegeheimes ein bisschen persönliches Glück erlebbar sein muss. Das Personal kann dabei wenig helfen – aber eine Partnerschaft (oder auch Freundschaften) schon eher.[blue]Es kommt immer drauf an, in welchem Kontext ein Aufenthalt in einer Unterkunft für Senioren steht. Ehrlich gesagt, kann ich Dir da keine Hoffnung machen. Das Glück, das man selbst empfindet, ist immer von der eigenen Einstellung abhängig. Der Großteil der Menschheit ist dumm. Wir wünschen uns eine schöne Frau als Partnerin und vergessen oft, dass wir uns doch eigentlich besser verkaufen könnten, als wir es real tun.[/blue]

In dem Seniorenheim, wo meine Mutter untergebracht war, lebte auf dem gleichen Flur ein neunzigjähriger Mann, der vor sehr langer Zeit ein Arbeitskollege von mir war. Einmal traf ich ihn auf dem Flur, wo er mir mit seinem Rollator entgegen kam. Im Korb von dem Gefährt lagen etliche Südfrüchte und vier kleine Flaschen Piccolo-Sekt. Ich fragte ihn scherzhaft, ob er auf seinem Zimmer eine Party schmeißen wolle.
„So etwas ähnliches“, verriet er mir grinsend. „Ich hab doch jetzt ne neue Freundin. Die ist zwar ein Jahr älter als ich, aber ne richtige Kirsche.“
So etwas macht Mut auf das, was noch auf uns zukommen wird. Es wäre für mich unmöglich gewesen, mich in einen dieser Heiminsassen hinein zu versetzen, die dort wirklich für den Rest ihres Lebens nur noch dahinzudämmern scheinen. Vielleicht liegt das an meiner Einstellung zum Leben und an der Tatsache, dass dieses Leben bis jetzt relativ nett mit mir umgegangen ist. Pardon – ich schweife ab[blue]
Dieser Absatz schildert, was ich eigentlich ausdrücken will. Du assoziierst keinen besonders großen Wunsch mit einem Aufenthalt in solch einer Klinik, wenn Du sagst, dass es Dir Mut macht, auf das, was vielleicht auf uns zukommt.
Die meisten Menschen empfinden es aber eher als Graus, was für ältere Menschen eine Freude sein kann.
Als ich letztes Jahr, eine Woche in Kurzzeitpflege verbrachte, hab ich Dinger gesehen, die sind wirklich hart.
Großartig Fehler im Text zu suchen, ist nicht meine Art sondern ich benenne die Fehler, die mir beim Lesen ins Auge stechen.[/blue]
 

Vagant

Mitglied
Hallo Ralph,
ich möchte eins vorweg sagen: Die Erzählung hat mir wirklich gut gefallen und zu deinem Scheiben sollte ich mir eigentlich jede Art von Kritik verkneifen; und trotzdem möchte ich ein paar kleine Anmerkungen loswerden.

Im ersten Absatz fällt einem der pendelnde Erzählton auf. Der Erzähler weiß hier wohl noch nicht so recht, wo es hingehen soll. Da haben wir zum Beispiel diese Nase, die schnuppernd in die weich-warme Luft gereckt wird (stilistisch etwas altbackend), und unmittelbar darauf, die Besucher, die nach und nach einfliegen (hier also eher salopp, umgangsprachlich, ein bisschen juvenil halt). Da ist immer so ein bisschen Wankelmut im Ton, und es hat den Anschein, als stochere der Erzähler da noch ein bisschen im Dunkeln.
Im weiteren Verlauf pendelt sich der Ton dann ein, wobei er eher salopp daherkommt und seine Figuren mit ein wenig ironischer Distanz begleitet.
Die leichte Ironie tut der Erzählung gut, mit den vielen umgangsprachlichen Anleihen tu ich mich hier und da ein bisschen schwer. Aber dazu später vielleicht noch mehr.

Zitat: In diesem Jahr fiel der erste Frühlingstag[strike], der [/strike][strike]diesen Namen wirklich verdiente,[/strike] auf einen Sonntag. Die meisten Bewohner des Alten- und Pflegeheimes [strike]mit [/strike][strike]dem wohlklingenden Namen[/strike] „Seniorenresidenz Lebensglück“ hatten daher bereits den Vormittag genutzt, um im Freigelände auszuschwärmen oder wenigstens vom Balkon aus ihre Nasen schnuppernd in die weich warme Luft zu recken und die blassen Gesichter der mild strahlenden Sonne auszusetzen.
Jetzt, eine knappe Stunde nach dem Mittagessen, flogen die Besucher ein, in der Mehrzahl Familienangehörige, die ihre längst fälligen Stippvisiten bei ihren Oldies zu absolvieren trachteten. Angesichts des herrlichen Wetters lag es nahe, die winzige Parkanlage aufzusuchen, die das Heim umgab. Bald herrschte auf den schmalen Kieswegen ein reger Fußgänger-, Rollator- und Rollstuhlverkehr, der an den Wegkreuzungen fast schon einer Ampelregelung bedurft hätte.
Hier habe ich mal 2 Streichungen vorgenommen. Meiner Meinung nach wird es so prägnanter, das Erzählen wirkt dadurch– gerade hier, am Beginn des Textes – etwas aufgeräumter.

Das Wort FREIGELÄNDE habe ich hier mal als pars-pro-toto markiert.
Es kommen im Text noch mehrere solcher Wörter vor „Parkanlage“, „Heiminsassen“ usw., ich denke, ich muss sie nicht allesamt herauspicken, du verstehst sicher, worauf ich hinaus will.
Diese Art Wörter sind ja eher Überbegriffe, womit ihnen eigentlich das Konkrete fehlt. Hier würde sich wirklich „Park“ oder „Garten“ anbieten, denn dann hat man ein Wort, das sofort Bilder im Kopf entstehen lässt. „Freigelände“ ist dagegen so richtig unsexy. Wenn du einen Protagonisten etwas trinken lässt, dann ist es ja schießlich auch Tee oder Wein oder ein Bier, und nicht EIN GETRÄNK.
Ich denke, mit der Konkretisierung all der unkonkreten Begriffe in deiner Erzählung könntest du hier noch etwas mehr herauskitzeln.

Für die Parkbänke, die – wie sollte es anders sein – natürlich mal wieder zum Verweilen einladen, fällt dir sicher auch etwas Besseres ein. Ich meine, das ist ja nun eine Wendung, die der Literat sicher umschiffen sollte; die wurde ja dann wohl doch schon viel zu oft strapaziert, oder nicht?

Zitat:
Der „junge Mann“, der die Absicht hatte, im übernächsten Jahr seinen achtzigsten Geburtstag zu feiern, gönnte sich ein Lächeln und versuchte sich endlich seiner Lektüre zu widmen.

Diese Zeile habe ich nun einfach mal als Beispiel dafür kopiert, was ich eingangs als ironische Distanz bezeichnete.
Der Ton gefällt mit an vielen Stellen wirklich gut, wenn dann nicht immer wieder diese allzu umgangsprachlichen Einschübe wären – diese "Rollatorladys", die "Frontfrau", dieses "keinen Bock auf ... haben", das "heiße Gesöff" sowie das "Geplapper".

Zitat:
Dieses Antlitz schien vielmehr aus unzähligen Falten geformt, die in ihrer vollendeten Symmetrie diesem Gesicht jedoch ein eigenartiges Flair verliehen.
Ein Satz, der mir beim Lesen irgendwie aufgefallen ist. Hier ist mir zu viel drin, obwohl eigentlich nichts drin ist, jedenfalls nichts, was uns einen der Protagonisten näher bring. Ich weiß halt auch nicht so recht, aber manchmal stolpert man halt über so einen Satz und fragt sich, warum. Vielleicht ist es jeder Satzteil im einzelnen, vielleicht ist es aber auch die Summe der Teile.
ANTLITZ ??? das steht hier als Synonym für Gesicht – da du Gesicht in der verherigen Zeile halt schon hast –, aber ANTLITZ kommt halt aus einer völlig andere Spachebene als der bis dahin vorherschende Erzählton, vielleicht stolpere ich hier aber auch über das Adjektiv "unzählige“, welches hier nur die Aussage des vorhergehenden Satzes wiederholt, ohne ihm noch etwas spezielles mitgeben zu können, vielleicht ist es die „vollendete Symmetrie“, die mir hier eigentlich zu abstrakt ist, und die mir dadurch erstmal nichts interessantes erzählt, oder vielleicht ist es dieses vage „eigenartige Flair“, welches in mir die Frage aufkommen lässt: „habe ich hier gerade etwas verpasst?“, Also zurück und nochmal lesen; nein, nichts verpasst, nur ins Stolpern geraten.
Ich denke, hier ist es einfach die Summe der Satzbausteine; am Ende bleibt nur Vages.

Vielleicht so:
... ihr schmales Gesicht faltig zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen; doch wenn sich nun, in der frühen Sonne des Jahres, all diese Furchen um ihren Mund herum zu einem Lächeln versammelten, dann erinnerte sie Harald Haschke an einer der Filmdiven (oder an irgendwen), denen er ... (diesunddasundsoweiter)...

...irgendwas in dieser Art halt; ich weiß nun auch nicht, ob du verstehst, wie ich‘s meine.

So, ich will auch gar nicht weiter nerven.
Die Szene im Café find ich wunderbar. Hier war ich beim Lesen sofort in der Szene, und bis auf ein paar Erzählereinwürfe – die ich an dieser Stelle dann wohl auch streichen würde –, ganz nah bei den Protagonisten. Da stimmt einfach alles, das Timing, der Rhythmus, die Dialoge sitzen, und du hast nicht nur ein verdammt gutes Auge für die Situation, du kannst dies auch wunderbar zu Papier bringen; und die abschließende Brückenszene finde ich fast noch einen Ticken wunderbarer.

Ich hab‘s gern gelesen,Vagant.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Ralph,
Danke für Deine Antwort auf meinen Kommentar.
Mit : Ja, er richtet sich auf. Warum schreibe ich das nicht? als Beispiel, könnte es durchaus sein, dass Deine Schreibart/Ausdrücke richtig und meine Vorschläge verkehrt sind…Ich kann nur meinen persönlichen Leseindruck vermitteln und wie ich es wohl schreiben würde.

Ich habe es nicht selten erlebt, wo man einen Sechzigjährigen mit „Junger Mann“ betitelt hat. (zum Beispiel machte das unsere Bäckersfrau.) Das ist natürlich nicht ernst gemeint. Vielleicht ist das auch etwas Regionales? Ich weiß es nicht. Ich wollte das mit dem fast achtzigjährigen Harald ein wenig auf die Spitze treiben. Als Auflockerung und als Übergang zum wahren Alter. War wohl nix.

Na dann würd ich “Junger Mann” lassen!

Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade,(wieso: aber?)

Das „Aber“ resultiert daraus, dass es unter pflegebedürftigen Seniorinnen (und Senioren) nicht allzu häufig vorkommt, dass sie kerzengerade stehen. Diese Körperhaltung soll etwas sein, das Haralds Interesse mit zu wecken hilft. Ist das wirklich so daneben?

Nö. Ich konnte nur keinen Zusammenhang zwischen “schmal” sein und trotzdem gerade gehen, sehen.

( sind ihre Zähne echt? )
Das sind sie mit Sicherheit nicht. Aber warum sollen die „Dritten“ nicht auch makellos blitzen können. Uff! Vielleicht bin ich in meiner Sophie-Euphorie doch über das Ziel hinaus geschossen?
quote: (Nee, das sollte nur ein Witz sein);)
________________________________________
Wo ich den Rollator her habe, weiss ich allerdings auch nicht…:cool:

Bin auf jedenfall gespannt auf Deine nächste Story!
Mit Gruss!
Ji
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das ist der Frühling

In diesem Jahr fiel der erste warme Frühlingstag auf einen Sonntag. Die meisten Bewohner des Alten- und Pflegeheimes „Seniorenresidenz Lebensglück“ hatten daher bereits den Vormittag genutzt, um nach draußen zu gehen oder wenigstens vom Balkon aus ihre Nasen schnuppernd in die weich warme Luft zu recken und die noch kalkigen Gesichter der mild strahlenden Sonne auszusetzen.
Jetzt, eine knappe Stunde nach dem Mittagessen, flogen die Besucher ein, in der Mehrzahl Familienangehörige, die ihre längst fälligen Stippvisiten bei ihren Oldies zu absolvieren trachteten. Angesichts des herrlichen Wetters lag es nahe, die winzige Parkanlage aufzusuchen, die das Heim umgab. Bald herrschte auf den schmalen Kieswegen ein reger Fußgänger-, Rollator- und Rollstuhlverkehr, der an den Wegkreuzungen fast schon einer Ampelregelung bedurft hätte.

Harald Handschke erwartete keinen Besuch, denn sein einziger Sohn und dessen Frau befanden sich zurzeit auf einer Urlaubsreise.
Ein Taschenbuch unter den Arm geklemmt, blieb er einen Moment blinzelnd stehen, bis sich seine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten. Ein zufriedenes Lächeln wischte über sein Gesicht, und sein Oberkörper straffte sich.
Vor ihm lag eine etwa vierzig mal zwanzig Meter messende Fläche, die durch eine Vielzahl von Pergolen in kleine Sitzecken unterteilt wurde. Er steuerte genau die an, die von den meisten Heimbewohnern gemieden wurde, weil sich dort die wenigen Raucher zu versammeln pflegten. Im Moment saß dort niemand. Er nahm Platz und lehnte sich behutsam nach hinten. Der erwartete Schmerz im Rücken blieb aus. Er schlug das Buch auf.
Alles hätte perfekt sein können, wenn nicht in diesem Moment eine Karawane ratternder Rollatoren über das Verbundpflaster auf ihn zu gekommen wäre. Harald riskierte einen entsetzten Blick auf die sechsköpfige Formation.
„Nein! Bitte nicht!“, stöhnte er auf.
Als Abwehrmaßnahme, die er für Erfolg versprechend hielt, förderte er eine Zigarettenschachtel aus dem Jackett, schob sich hastig ein Stäbchen zwischen die Lippen und zündete es an. Er nahm einen kräftigen Zug und ließ eine kräftige Wolke über seinem Kopf aufsteigen. Eine Verzweiflungstat, die aber die erhoffte Wirkung zeigte. Die Karawane drehte abrupt ab, und schon fiel die Schar in das Rechteck neben ihm ein.
„Dass der junge Mann immer so viel rauchen muss“, hörte er eine der Frauen sagen.
Sie bekam keine Antwort, weil die Freundinnen all ihre Puste brauchte, um die Gehhilfen korrekt einzuparken.
Der „junge Mann“, der die Absicht hatte, im übernächsten Jahr seinen achtzigsten Geburtstag zu feiern, gönnte sich ein Lächeln und versuchte sich endlich seiner Lektüre zu widmen. Da brach nebenan der erwartete Redeschwall aus sechs Mündern gleichzeitig hervor, die jetzt – das wusste er aus Erfahrung – keine Sekunde mehr stillstehen würden.
Harald klappte das Buch zu, schloss die Augen und schickte einen Stoßseufzer in den azurblauen Himmel.
„Ich halte den Krach nicht aus. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“
‚Was für eine klangvolle Stimme‘, dachte er, während er die Lider hob.
Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade, hielt die mageren Arme ein wenig vom Körper ab und drehte die Handflächen leicht nach außen. Es war, als wolle sie damit ausdrücken: „Hier bin ich.“
Er kannte sie nur flüchtig vom Sehen, denn sie wohnte erst knapp drei Wochen in der Abteilung für Senioren mit beginnender Demenz. Außer dem Umstand, dass sie meist einen Rollator benutzte, waren ihm an ihr keine sichtbaren Gebrechen aufgefallen
Ihre Erscheinung wirkte auffallend. Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant zwischen lauter Glasscherben.
Wie alt mochte sie sein? Trotz ihres jung anmutenden Lächelns, bei dem sie makellose Zahnreihen blitzen ließ, schätze er sie auf wenigstens achtzig.
Ihr schmales Gesicht faltig zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen; doch wenn sich nun, in der frühen Sonne des Jahres, all diese Furchen um ihren Mund herum zu einem Lächeln versammelten, dann erinnerte sie Harald ein wenig an Gina Lollobrigida, die er einst als Pubertierender so wahnsinnig aufregend fand. Umrahmt wurde das Ganze von schlohweißen Haaren, deren enorme Fülle sofort ins Auge stach. Präsentiert wurde diese Pracht mittels einer Art Schüttelfrisur, wie sie in den siebziger Jahren häufig getragen wurde.
„Darf ich?“
„Ach so –ja. Gewiss. Wenn es Sie nicht stört, dass ich rauche.“
„Nein, das stört mich nicht“, hörte er sie sagen, und schon nahm sie neben ihm Platz. „Wissen Sie. Ich habe früher auch geraucht. Das ist lange her. Damals war ich… ach was… geben Sie mir auch eine.“
Harald guckte zwar überrascht, hielt ihr aber die Schachtel hin. Mit spitzen Fingern entnahm sie die Zigarette und schob sie zwischen die blassen Lippen. Harald gab artig Feuer. Nach dem ersten Zug hüstelte sie ein wenig, doch das legte sich rasch, und er gewann den Eindruck, als würde sie sogar mit Genuss den Rauch inhalieren. Sie rutschte auf der Bank ein Stück vor, lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte er sie zwischen zwei Zügen sagen: „Jetzt fehlt nur noch eine schöne Tasse Kaffee.“
„Das stimmt. Aber die Kaffeezeit beginnt erst in zweieinhalb Stunden. Und die Brühe aus dem Automaten ist ungenießbar.“
„Schade“, sagte sie und schlug die Augen auf. „Wirklich schade.“
Ihr Bedürfnis nach dem braunen Getränk begann sich, auf Harald zu übertragen.
„Ich weiß in der Nähe ein Restaurant“, verriet er. „Bei dem herrlichen Wetter ist garantiert schon der Kaffeegarten geöffnet.“
„Oh ja – lassen Sie uns dorthin gehen! Bestimmt gibt es dort auch Torte. Ich bin verrückt nach Torte – richtige Sahnetorte.“
Sie glitt von der Bank, drückte die Zigarette aus und baute sich auffordernd vor ihm auf.
Harald zögerte. Er bereute bereits, von der Gaststätte erzählt zu haben. Mit einer Dementen hatte er noch nie ein Lokal besucht.
„Kommen Sie!“
Ihm wurde klar, aus der Nummer kam er nicht mehr raus, ohne die Frau vor den Kopf zu stoßen. Vorsichtig stemmte er sich hoch. Zufrieden stellte er fest, dass ihn sein Rücken auch diesmal in Ruhe ließ.
„Gehen wir?“ In ihrer Stimme lag aufkommende Ungeduld.
„Ja – ja natürlich“, sagte er zögernd, und bedeutete ihr, dass er hier auf sie warten würde, während sie ihren Rollator holte.
„Ist es denn weit?“
„Nö – allenfalls dreihundert Meter.“
„Da brauche ich keinen Rollator. Das schaffen wir auch so.“
Mit diesen Worten hakte sie sich burschikos bei ihm ein und versuchte, ihn mit sich fort zu ziehen. Es brauchte ein paar Meter, bis er sich ihren Trippelschritten angepasst hatte und die Führung übernehmen konnte.
Im Park stellte er fest, dass etliche Gaffer ihnen hinterher glotzten. Auch die hübsche Praktikantin, die sich mit einem opabestückten Rollstuhl durch den Kies quälte, guckte ein wenig verdutzt.
„Gut, dass ich Sie treffe“, sprach Harald sie an. „Ich gehe für ein bis zwei Stunden mit Frau… Frau… Wie heißen Sie eigentlich?“
„Das ist Frau Rathmann“, kam die Praktikantin zuvor.
„Ja. Frau Rathmann und ich – wir wollen ins Café ‚Waldkater‘.“
Die junge Frau nickte und versprach im Wohnbereich Bescheid zu geben. Ehe sie sich wieder hinter den Rollstuhl klemmte, überzog ein Grinsen ihr Gesicht.
„Aber dass mir keine Klagen kommen, Herr Handschke!“
Harald griente zurück. „Und wenn, dann hoffe ich auf ihr Verständnis. Sie waren ja schließlich auch mal jung.“

Als sie die Straße erreicht hatten, blieb Frau Rathmann stehen.
„Wo wollen wir eigentlich hin?“
„Na Kaffee trinken und Torte essen.“
„Ja natürlich! Wie konnte ich das vergessen.“

Sie setzten ihren Weg fort. Doch schon nach wenigen Metern blieb sie erneut stehen, hob den Kopf und atmete mehrmals tief durch.
„Ist Ihnen nicht gut?“
„Aber nicht doch. Ich genieße nur die herrliche Luft. Ich kann ihn riechen, den Frühling.“
„Aha“, machte er nur.
„Riechen Sie das auch?“
„Weiß nicht.“
„Wenn ich da an die strengen Gerüche auf unseren Fluren denke … Stört sie dieser Mief auch?“
„Och. Daran habe ich mich gewöhnt. Es gibt Schlimmeres. Außerdem ist mein Geruchssinn nicht sonderlich ausgeprägt. Berufskrankheit.“
„Wieso? Was waren Sie denn von Beruf?“
„Ich war technischer Leiter unserer städtischen Kläranlage.“
„Nein!!!“ Ihre Pupillen weiteten sich und vermittelten einen konsternierten Ausdruck.
„Doch!“
„Kläranlage, tss, tss“, hörte er sie murmelnd. Das Wort „Kinderschänder“ hätte sie nicht weniger abfällig aussprechen können. Gleichzeitig ging sie körperlich auf Distanz. Ihre Hand rutschte aus seiner Armbeuge. Doch kaum waren die nächsten Schritte getan, da kam Frau Rathmann ins Straucheln, und schon wurde der alte Zustand wieder hergestellt.
‚Bis wir den Kaffee vor uns stehen haben, hat sie meinen Beruf eh vergessen‘, dachte er und schmunzelte so lange in sich hinein, bis er sich dieses Gedankens zu schämen begann. Durfte er sich über ihre beginnende Krankheit lustig machen?

Sie betraten den mit noch unbelaubten Baumriesen bestandenen Kaffeegarten. Trotz der Vielzahl an Gästen, die sich hier niedergelassen hatten, fand er auf Anhieb einen freien Tisch, zu dem er die Frau an seiner Seite hin dirigierte.
Erst als sie bereits saßen, bemerkte er die zahlreichen Blicke, die sich auf ihn und seine Begleiterin richteten. Kein Wunder – es wimmelte vor „Residezlern“ – teils mit, teils ohne Angehörige. An manchen Tischen wurde jetzt heftig getuschelt.
„Schau an – der einzige noch brauchbare Mann aus dem Wohnbereich römisch zwo hat sich ausgerechnet von dieser feinen Tussi aus der Demenzabteilung abschleppen lassen. Worauf lässt sich der stattliche Handschke da ein? Wer weiß, ob er in absehbarer Zeit überhaupt noch von ihr erkannt wird.“
Harald beobachtete die aufgeregten Hühner nur aus den Augenwinkeln, denn es gab jetzt Wichtigeres– die Bestellung.
Beide orderten je einen Pott Kaffee, und Frau Rathmann nahm dazu ein überdimensionales Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Er begnügte sich mit einem mageren Stück Streuselkuchen, schließlich musste er wegen seiner Rückenbeschwerden auf sein Gewicht achten.
Frau Rathmann schnupperte an der Torte und machte genüsslich „Hmm“, ehe sie Milch in den Kaffee schüttete. Vorsichtig führte sie dann den Pott an die Lippen und nippte ein wenig.
„Wunderbar“, hauchte sie. „Der Kaffee ist wirklich gut.“
Dann fiel sie über die Torte her. Obwohl sie munter drauflos schaufelte, kam ihr Mundwerk kaum zum Stehen. Auf diese Weise lernte Harald ungewollt die individuellen Besonderheiten der kompletten Familie Rathmann kennen. Sie hielt nur inne, wenn sie einen Schluck aus der Tasse nahm und dies mit den Worten kommentierte: „Der Kaffee ist wirklich gut.“
„Ja das isser“, brummte Harald beim dritten Mal.
„Wo war ich stehen geblieben? Ach – habe ich schon erzählt, dass mein Vater ein begnadeter Uhrmacher war?
„Ja – das sagten Sie bereits.“
„Ach ja? Übrigens, was ich Sie fragen wollte: Was haben Sie eigentlich beruflich gemacht?“
‚Oh nein!‘, dachte Harald und überlegte, was er antworten sollte. Mit seiner Kläranlage hatte er ja nun nicht gerade punkten können.
„Ich… ich war Chefhydrauliker für Aqua konterminata.“
„Ach! Interessant!“, rief sie aus, hielt sich damit aber nicht weiter auf, sondern verfiel jetzt in Lobeshymnen, die sie ihrer Heimatstadt widmete.
Es fiel ihm immer schwerer, ihrem Redefluss zu folgen. Gelangweilt ließ er seine Blicke durch die Runde schweifen. An einer hübschen jungen Frau, die sich gerade über einen Kinderwagen beugte, blieben Selbige hängen. Der ohnehin weite Ausschnitt klaffte auf und gewährte dem alten Mann einen Einblick, der ihm einen tiefen Seufzer der Entsagung entlockte.
„Sie hören mir ja gar nicht zu!“
Noch ehe er reagieren konnte, gewahrte sie seine Blickrichtung, stutzte kurz und spendierte ihm ein verständnisvolles Lächeln.
„Ich weiß, da kommt Wehmut auf, nicht wahr? Aber was soll es. Trink lieber deinen Kaffee aus, bevor er gänzlich kalt wird. Der ist übrigens ganz ausgezeichnet.“
„Das sagen Sie bereits zum fünften Mal“, entfuhr es Harald ungewollt. Aber, ehe er eine Entschuldigung murmeln konnte, zwitscherte sie weiter: „Na, wenn ich das schon fünfmal erwähnt habe, muss der Kaffee doch gut sein.“
Harald lachte. Die Antwort gefiel ihm. Und es gefiel ihm, dass sie ihn plötzlich geduzt hatte. Er ging darauf ein, indem er fragte: „Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“
„Das weißt du nicht?“ Und als er den Kopf schüttelte, setzte sie hinzu: „Ich bin doch die Sophie.“
„Und ich heiße Harald.“
Während er, wie ihm geheißen, den Pott leertrank, schielte er noch einmal zu der jungen Frau. Die hatte sich wieder gesetzt, und sein Blick traf lediglich einen schönen aber nicht ganz so interessanten Rücken.
„Ich war auch mal ein toller Feger“, hörte er Sophie dicht an seinem Ohr raunen. Gleichzeitig spürte er ihre Hand auf der seinen. Er wandte ihr den Kopf zu und schaute in zwei braune Augen, die einen ganz eigenartigen, fast jugendlichen Glanz bekommen hatten.
„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte er.
„Ich hatte lange schwarze Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mein Kleiderschrank hing voller bezaubernder Petticoats. Wenn ich die trug, starrten mir die Männer scharenweise hinterher. Aber ich besaß nur Augen für meinen Klaus.“
Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich regelrecht, ehe sie fortfuhr: „Ihm gehörte eine Vespa. Stell dir vor, ich mit einem steifen Petticoat hinten auf dem Rücksitz. Wir machten Touren hinaus in die Natur, wo wir ... Kannst du dir ja denken. Oder wir fuhren zu Freunden. Mein Gott, was haben wir für Partys gefeiert. Ach – eine herrlich verrückte Zeit.“
Harald kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn sie ließ unvermittelt seine Hand los, warf den Kopf in den Nacken und starrte durch die kahlen Äste hinauf zum Himmel. Ein entrücktes Lächeln umspielte ihre Lippen. Und plötzlich begann sie zu deklamieren.

„Nur einmal bringt des Jahres Lauf
uns Lenz und Lerchenlieder.
Nur einmal blüht die Rose auf,
und dann verwelkt sie wieder;
nur einmal gönnt uns das Geschick
so jung zu sein auf Erden:
Hast du versäumt den Augenblick,
jung wirst du nie mehr werden.“

„Das ist sehr schön, aber auch ein bisschen deprimierend“, resümierte Harald, und das meinte er zutiefst ehrlich. Die Wehmut, die in diesen Zeilen leise mitschwang, hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen. Die besaß auch einen Namen: Altsein.
Doch Sophie ließ ihm keine Zeit für Melancholie. Sie schien wieder in der Gegenwart angekommen zu sein und klärte ihn darüber auf, dass sie dieses Gedicht, das von einem gewissen Richard von Wilpert sei, bereits in der Schule gelernt hatte.
„Und du siehst – ich kann es immer noch auswendig. Magst du auch eines aufsagen?“
„Nee, aus der Schulzeit nicht. Aber…“ Er zögerte einen Moment, nahm seinen Mut zusammen und sagte: „Ich hätte da eins… auch vom Frühling … ich weiß aber nicht, ob… Ach, ich versuche es mal.“
Er räusperte sich umständlich und begann:

Der Frühling braust mit Macht ins Land,
der letzte Schnee ist längst getaut.
Im Garten ich schon Blümchen fand.
Ganz neu noch und doch lang vertraut.

Die Birke zeigt schon grüne Knospen.
Manch Vogel es nun heimwärts zieht.
Schau ¬¬- auf des Zaunes morschen Pfosten
singt eine Amsel schon ihr Lied.

Ich sitz vorm Haus, genieß die laue
Frühlingsluft beim Abendrot,
und während ich zum Himmel schaue,
klatsch ich die erste Mücke tot.

Bald blühen auch die Königskerzen.
Die Frösche quaken in den Teichen.
Fast weg sind meine Rückenschmerzen.
Nur mein Rheuma will nicht weichen.

Er sah sie erwartungsvoll an, bemerkte, wie sie den Mund verzog und den Kopf schüttelte.
„Von wem sind denn diese Rumpelverse? Das holpert und poltert, als wenn …“
„Das ist von mir!“, warf er mit schwer verletztem Dichterstolz dazwischen.
„Nein!!!“
„Doch. Ich habe es erst heute Vormittag geschrieben.“
„Du dichtest?“
„Ja manchmal.“
„Toll! Schreibst du auch ein Gedicht für mich?“
Ihr Ton ließ ihn befürchten, keine andere Wahl zu haben. Ihr vernichtendes Urteil über seine „Rumpelverse“ schien aufgehoben zu sein.
„Ich kann es ja versuchen“, sagte er in aller Bescheidenheit.
„Da freu ich mich aber!“
Und ehe er es sich versah, beugte sie sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald!“, korrigierte er sie, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte.
„Natürlich – Harald – wie konnte ich das vergessen.“
Das klang fast, als wäre sie ein wenig traurig. Auch ihre Augen besaßen nicht mehr diesen Glanz. Die glänzten umso mehr bei den noch in der Nähe sitzenden Heimbewohnern. Harald glaubte, ihr Tuscheln deuten zu können.
„Habt ihr gesehen – sie hat ihn geküsst. In aller Öffentlichkeit. Nee, je oller, je doller…“
Die meisten der Senioren-Residenzler hatten sich allerdings schon auf den Rückweg ins „Lebensglück“ gemacht, denn dort stand jetzt im Gemeinschaftsraum das gemeinsame Absingen altvertrauter Volkslieder auf dem Plan. Darauf hatte Harald wahrlich keine Lust. Trotzdem rief er die Kellnerin heran und bat um die Rechnung.
„Das war ein wunderbarer Nachmittag“, schwärmte Sophie beim Aufstehen. Sie hakte sich wieder bei ihm ein und raunte ein: „Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald.“
„Natürlich – wie konnte ich das vergessen.“

Als sie die Fußgängerbrücke erreichten, die über einen Bach führte, blieben sie wie verabredet stehen und traten dicht an das Geländer. Das Wasser plätscherte um die im Bachbett verstreuten Steine und schickte sein quirliges Glitzern hinauf zu dem Paar, das in stummer Betrachtung verharrte.
„Wie schön.“ Hatten sie das wirklich beide gleichzeitig gesagt?

Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, mit Dingen beschäftigt, die ungewollt von irgendwo her auf sie eingestürmt sein mochten, die aber kein Nachdenken erforderten. Es war eher ein versonnenes Treibenlassen – durch nichts Konkretes bestimmt. Eigentlich nur Empfindungen.
Empfindungen?
Harald fühlte sich unsicher werden. Er blinzelte einen Moment lang in die Sonne, ehe er Sophie den Kopf zuwandte. Fast gleichzeitig drehte auch sie ihr wallend weißes Haupt und sah ihn von unten herauf an. Ein feines Lächeln spielte über ihre Lippen, ehe es in den reich gefältelten Mundwinkeln versickerte. In ihren Augen lag jetzt wieder dieses jugendliche Leuchten. Die goldbraunen Pupillen wirkten wie kleine Sonnen, deren Strahlen in den zahllosen Falten ihres Antlitzes verewigt schienen.
Harald schaute fasziniert in dieses Gesicht, von dem auf einmal ein Leuchten auszugehen schien, das sogar sein Inneres erreichte und sich langsam darin auszubreiten begann. Was war das für ein Gefühl, das jäh über ihn hereinbrach und ihn zwang, seinen Arm um Sophies schmale Schulter zu legen? Vielleicht wäre er über so viel Kühnheit vor sich selbst erschrocken gewesen, wenn er nicht zeitgleich ihre Hand auf seiner Hüfte gefühlt hätte. Und dann fanden sich ihre noch freien Hände zu einem festen und zugleich zärtlichen Druck.
Harald löste seinen Blick, starrte erneut aufs Wasser und lauschte nach innen, wartete von dort auf eine Erklärung über das, was sich hier gerade abspielte. Er erhielt keine.
„Was ist das?“
Erst als ihre Finger über seinen Handrücken spielten, wurde ihm bewusst, dass er die Frage laut gestellt hatte.
Ihre Stimme war unglaublich weich, als sie sagte: „Das ist der Frühling! Unser Frühling, Klaus?“
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Vagant,

herzlichen Dank für deinen Kommentar. Ich gebe zu, ich habe lange nachdenken müssen, um mich dann zu einer Antwort aufzuraffen. Damit meine ich nicht das Lob, das du in Bezug auf meinen „Frühling“ ausgesprochen hast. Da muss man nicht nachdenken, das nimmt man nur erfreut zur Kenntnis.
Zum Grübeln haben mich deine kritischen Anmerkungen gebracht,

a) die sich auf einen pendelnden Erzählton im ersten Absatz beziehen. Erst habe ich gestutzt und dann ist mir klar geworden, was du meinst. Danach habe ich entdeckt, dass mir derartige Brüche in der Erzählweise nicht selten passieren. Ich gebe zu, darauf habe ich auch nie besonders geachtet. Danke – in Zukunft werde ich bemüht sein, Derartiges zu vermeiden.

b) die auf die Verwendung von zu häufig strapazierten Wendungen hinweisen. Dass mir solche Fehler viel zu oft unterlaufen, ist mir zu selten bewusst, und bei diesem Text hatte ich in dieser Hinsicht nicht die geringsten Schuldgefühle. Tja – und dann kommst du und stößt mich mit der (auch sattsam strapazierten) Nase drauf. Bei jedem Wort, das du beispielhaft als zu umgangssprachlich gewählt oder als überbegrifflich anführst, kam nach kurzem Stutzen das berühmte Kopfnicken. Ich konnte mit allem einverstanden sein. Aber dann mein Dilemma: Ich fand kaum noch Begriffe im Text, die über die von dir genannten hinausgingen, obwohl es garantiert noch welche gibt. Einfach zu doof, sie zu erkennen. Ich glaube, du reitest bereits „Hohe Schule“. Mein persönlicher Pegasus trabt dagegen noch zu oft unsauber über den Parcours. Dafür kann der geflügelte Gaul nichts – es liegt am Reiter.

c) die mich auf die Verwendung ausgelutschter Formulierungen wie: die „zum Verweilen einladenden Parkbänke“ oder „die schnuppernd in die weich-warme Luft gereckten Nasen“ aufmerksam machen. Derartige Formulierungen rutschen halt heraus, weil sie seit langem abgespeichert in der Birne liegen und sich aufdrängen. Ich benutze zwar ganz gern mal derartige Klischees, aber nur dann, wenn ich sie ironisierend verwenden kann. Diesmal waren sie aber nicht ironisch gemeint und fliegen raus.


Summa summarum – Auf Grund deiner und Ji Ranas Hinweise, habe ich an dem Text ein wenig herum gedocktert. Das Ergebnis gefällt mir noch nicht. Die Passage, wo ich die alte Dame beschreibe, ist wohl noch die härteste Nuss. Aber da muss ich mir Zeit lassen. Die Geschichte soll irgendwann in einen Band mit Erzählungen einfließen. Da muss ich ohnehin noch einmal genau drüber.
Für heute bleibt mir nur, dir ein großes Dankeschön zu sagen.

Viele Grüße von
Ralph
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
'Die Geschichte soll irgendwann in einen Band mit Erzählungen einfließen'

Darauf freue ich mich jetzt schon.

LG Otto
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Lieber Ralph,


zunächst ein paar sprachliche Dinge:

weil die Freundinnen all ihre Puste brauchte
brauchten

aus sechs Mündern gleichzeitig hervor, die jetzt – das wusste er aus Erfahrung – keine Sekunde mehr stillstehen würden.
Münder, die still 'stehen'? Alternative: Münder, die sich so bald nicht schließen würden.

Ihre Erscheinung wirkte auffallend
Klingt schief, ich weiß aber nicht genau wieso.

wie ein Diamant zwischen lauter Glasscherben
gefällt mir!

Residenzlern

Gelangweilt ließ er seine Blicke durch die Runde schweifen. An einer hübschen jungen Frau, die sich gerade über einen Kinderwagen beugte, blieben Selbige hängen.
Holpriger Gebrauch von 'Selbige'

spendierte ihm ein verständnisvolles Lächeln.
ein Lächeln spendieren?

Meines Erachtens versuchst du im Text, einen zuweilen humorigen, zuweilen melancholischen Ton hinzukriegen, was für mich persönlich nicht funktioniert.

Beispiele:

mit einem opabestückten Rollstuhl
„Ich… ich war Chefhydrauliker für Aqua konterminata.“
Da ich selbst noch nie versucht habe, einen lustig-humorvollen Text zu verfassen, weil ich ahne wie schwierig das ist und wie sehr ich wohl daran scheitern würde, mag es anmaßend klingen, aber die Beispiele oben (und weitere im Text) lösten bei mir nur ein sehr müdes Lächeln aus.

Insgesamt hat der Text mich nicht erreicht. Zu viel Geplänkel, kein wirklicher Plot und eine richtig stimmige Atmosphäre (die einen fehlenden Plot aufwiegen könnte) entstand durch die für mich teils ungelenke Ausdrucksweise auch nicht. Einzig und allein das Gedicht von R. von Wilpert und das oben genannte Bild (Glasscherben/ Diamanten) haben den Text für mich lesenswert gemacht.

Vielleicht muss ich aber dazu sagen, dass Liebe im Alter auch nicht mein literarisches Lieblingstopos ist.

Liebe Grüße,

CPMan
 

Vagant

Mitglied
Hallo Ralph,

ich wollte mich noch einmal kurz melden, um das eine oder andere Wort herauszupicken.
Leider geht es mir gerade so wie dir – viel finde ich nun nicht.

Gut, vielleicht dies hier: unbelaubte Baumriesen.

Hier handelt es sich um eine Sinneswahrnehmung deiner Protagonisten, und die würde ich dann schon beim Namen nennen – Buche, Birke, Eiche, etc. – und das kann dann auch einfach mal adjektivlos als Buche oder Birke so stehen lassen. Auf mich – so als Leser – hat das Wort Buche einfach mehr Kraft als so ein paar unbelaubte Baumriesen; Buche ist konkret, man kann sie rauschen hören, man riecht sie und vielleicht schmeckt man ja nun sogar das Nussige der Buckeckern.

@CPMann spricht hier von einem „humorigen“ Ton, und dass die Geschichte in diesem Ton für ihn so nicht funktioniere, was mich hier nochmal zu einem Nachdenken veranlasst hat.

Für mich funktioniert der Text ab der Szene im Café sehr gut. Das „Humorige“ – welches ich eigentlich lieber „satirische“ nennen möchte – ist hier nicht mehr allein auf den Erzähler zurückzuführen, es verliert sich in den Szenen und verlagert sich in die Dialoge; dorthin, wo es hin gehört.

Allgemeines: Ich denke, das „Humorige“ braucht einen Erzähler!
Es braucht eine greifbare Figur, der man diese Attidüde des humoristischen Erzählers auch abkauft. Es braucht jemanden, der entweder in der Geschichte verortet ist, oder einen, der mich durch seine Art des Erzählens an der Hand nimmt und durch die Narration führt, so, dass ich glaube, ihn schon ewig zu kennen. Ja, das „Humorige“ braucht eine greifbare Instanz, braucht einen Sinn, einen Zweck, denke ich. Im Grunde muss so ein humoriger Erzähler – falls er nicht als Icherzähler durch die Erzählung führt – als zusätzliche Figur in der Geschichte anwesend sein, und wenn nicht, dann muss er als Figur zu erahnen sein.
Ob nun als Ich-Erzähler oder als unsichtbarer Dritter, egal, Hauptsache er gibt sich zu erkennen, versteckt sich nicht hinter einer diffusen, nicht zu fassenden Erzählposition.
Ein personaler Er-Erzähler sowie der auktoriale Erzähler sollten in ihrem Ton eher neutral bleiben, und das „Humorige“ in die verschiedenen Arten der Figurenrede legen.
Vielleicht liegt es ja nicht nur am chanchierenden Ton, sondern auch am Erzähler, dass ich eher holprig in die ersten Absäzte der Erzählung gekommen bin.

Ansonsten: Liebe im Alter? Geiler Plot. Genau mein Ding.

LG, Vagant.
 



 
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