Das ist der Frühling
In diesem Jahr fiel der erste Frühlingstag, der diesen Namen wirklich verdiente, auf einen Sonntag. Die meisten Bewohner des Alten- und Pflegeheimes mit dem wohlklingenden Namen „Seniorenresidenz Lebensglück“ hatten daher bereits den Vormittag genutzt, um im Freigelände auszuschwärmen oder wenigstens vom Balkon aus ihre Nasen schnuppernd in die weich warme Luft zu recken und die blassen Gesichter der mild strahlenden Sonne auszusetzen.
Jetzt, eine knappe Stunde nach dem Mittagessen, flogen die Besucher ein, in der Mehrzahl Familienangehörige, die ihre längst fälligen Stippvisiten bei ihren Oldies zu absolvieren trachteten. Angesichts des herrlichen Wetters lag es nahe, die winzige Parkanlage aufzusuchen, die das Heim umgab. Bald herrschte auf den schmalen Kieswegen ein reger Fußgänger-, Rollator- und Rollstuhlverkehr, der an den Wegkreuzungen fast schon einer Ampelregelung bedurft hätte.
Harald Handschke erwartete keinen Besuch, denn sein einziger Sohn und dessen Frau befanden sich zurzeit auf einer Urlaubsreise.
Ein Taschenbuch unter den Arm geklemmt, blieb er einen Moment blinzelnd stehen, bis sich seine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten. Ein zufriedenes Lächeln wischte über sein Gesicht, und sein Oberkörper straffte sich.
Vor ihm lag eine etwa vierzig mal zwanzig Meter messende und mit Verbundpflaster befestigte Fläche, die durch eine Vielzahl von Pergolen in kleine Rechtecke unterteilt wurde. Dort luden bequeme Holzbänke zum Verweilen ein.
Er steuerte die Sitzecke an, die von den meisten Heiminsassen gemieden wurde, weil sich dort die wenigen Raucher zu versammeln pflegten. Im Moment saß dort niemand. Er nahm Platz und lehnte sich behutsam nach hinten. Der erwartete Schmerz im Rücken blieb aus. Er schlug er das Buch auf.
Alles hätte perfekt sein können, wenn nicht in diesem Moment eine Karawane von ratternden Rollatoren auf der Bildfläche erschienen wäre. Harald riskierte einen entsetzten Blick auf die Rollator-Ladys, denn Frontfrau Johanna steuerte geradewegs in seine Richtung
„Nein! Bitte nicht!“, stöhnte er auf.
Eilig ergriff er eine Abwehrmaßnahme, die er für einzig Erfolg versprechend hielt. Hastig förderte eine Zigarettenschachtel aus dem Jackett, schob sich ein Stäbchen zwischen die Lippen zündete es an. Er nahm einen kräftigen Zug und ließ eine dicke Wolke über seinem Kopf aufsteigen. Eine Verzweiflungstat, die aber die erhoffte Wirkung zeigte. Die Karawane drehte abrupt ab, und schon fiel die Schar in das Rechteck neben ihm ein.
„Dass der junge Mann immer so viel rauchen muss“, hörte er eine der Frauen sagen.
Sie bekam keine Antwort, weil die Freundinnen all ihre Puste brauchte, um die Gehhilfen korrekt einzuparken.
Der „junge Mann“, der die Absicht hatte, im übernächsten Jahr seinen achtzigsten Geburtstag zu feiern, gönnte sich ein Lächeln und versuchte sich endlich seiner Lektüre zu widmen. Da brach nebenan der erwartete Redeschwall aus sechs Mündern gleichzeitig hervor, die jetzt – das wusste er aus Erfahrung – keine Sekunde mehr stillstehen würden.
Harald klappte das Buch zu, schloss die Augen und schickte einen Stoßseufzer in den azurblauen Himmel.
„Ich halte den Krach nicht aus. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“
‚Was für eine klangvolle Stimme‘, dachte er, während er die Lider hob.
Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade, hielt die mageren Arme ein wenig vom Körper ab und drehte die Handflächen leicht nach außen. Es war, als wolle sie damit ausdrücken: „Hier bin ich.“
Er kannte sie nur flüchtig vom Sehen, denn sie wohnte erst knapp drei Wochen in der Abteilung für Senioren mit beginnender Demenz. Außer dem Umstand, dass sie meist einen Rollator benutzte, waren ihm an ihr keine sichtbaren Gebrechen aufgefallen
Ihre Erscheinung wirkte auffallend. Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant zwischen lauter Glasscherben.
Wie alt mochte sie sein? Trotz ihres jung anmutenden Lächelns, bei dem sie makellose Zahnreihen blitzen ließ, schätze er sie auf wenigstens achtzig. Ihr schmales Gesicht faltig zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen. Dieses Antlitz schien vielmehr aus unzähligen Falten geformt, die in ihrer vollendeten Symmetrie diesem Gesicht jedoch ein eigenartiges Flair verliehen. Umrahmt wurde das Ganze von schlohweißen Haaren, deren enorme Fülle sofort ins Auge stach. Präsentiert wurde diese Pracht mittels einer Art Schüttelfrisur, wie sie in den siebziger Jahren häufig getragen wurde.
„Darf ich?“
„Ach so –ja. Gewiss. Wenn es Sie nicht stört, dass ich rauche.“
„Nein, das stört mich nicht“, hörte er sie sagen, und schon nahm sie dicht neben ihm Platz. „Wissen Sie. Ich habe früher auch geraucht. Das ist lange her. Damals war ich… ach was… geben Sie mir auch eine.“
Harald beschloss, sich nicht mehr über diese Frau zu wundern und hielt ihr die Schachtel hin. Mit spitzen Fingern entnahm sie die Zigarette und schob sie zwischen die schmalen Lippen. Harald gab artig Feuer. Nach dem ersten Zug hüstelte sie ein wenig, doch das legte sich rasch, und er gewann den Eindruck, als würde sie sogar mit Genuss den Rauch inhalieren. Sie rutschte auf der Bank ein Stück vor, lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte er sie zwischen zwei Zügen sagen: „Jetzt fehlt nur noch eine schöne Tasse Kaffee.“
„Das stimmt. Aber die Kaffeezeit beginnt erst in zweieinhalb Stunden. Und die Brühe aus dem Automaten ist ungenießbar.“
„Schade“, sagte sie und schlug die Augen auf. „Wirklich schade.“
Ihr Bedürfnis nach dem braunen Getränk begann sich, auf Harald zu übertragen.
„Ich weiß in der Nähe ein Restaurant“, verriet er. „Bei dem herrlichen Wetter ist garantiert schon der Kaffeegarten geöffnet.“
„Oh ja – lassen Sie uns dorthin gehen! Bestimmt gibt es dort auch Torte. Ich bin verrückt nach Torte – richtige Sahnetorte.“
Sie glitt von der Bank, drückte die Zigarette aus und baute sich auffordernd vor ihm auf.
Harald zögerte. Er bereute bereits, von der Gaststätte erzählt zu haben. Mit einer Dementen hatte er noch nie ein Lokal besucht.
„Kommen Sie!“
Ihm wurde klar, aus der Nummer kam er nicht mehr raus, ohne die Frau vor den Kopf zu stoßen. Vorsichtig stemmte er sich hoch. Zufrieden stellte er fest, dass ihn sein Rücken auch diesmal in Ruhe ließ.
„Gehen wir?“ In ihrer Stimme lag aufkommende Ungeduld.
„Ja – ja natürlich“, sagte er zögernd, und bedeutete ihr, dass er hier auf sie warten würde, während sie ihren Rollator holte.
„Ist es denn weit?“
„Nö – Allenfalls dreihundert Meter.“
„Da brauche ich keinen Rollator. Das schaffen wir auch so.“
Mit diesen Worten hakte sie sich burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort. Es brauchte ein paar Meter, bis er sich ihren Trippelschritten angepasst hatte und die Führung übernehmen konnte.
Im Park stellte er fest, dass etliche Gaffer ihnen hinterher glotzten. Auch die hübsche Praktikantin, die sich mit einem opabestückten Rollstuhl durch den Kies quälte, guckte ein wenig verdutzt.
„Gut, dass ich Sie treffe“, sprach Harald sie an. „Ich gehe für ein bis zwei Stunden mit Frau… Frau… Wie heißen Sie eigentlich?“
„Das ist Frau Rathmann“, kam die Praktikantin zuvor.
„Ja. Frau Rathmann und ich – wir wollen ins Café ‚Waldkater‘.“
Die junge Frau nickte und versprach im Wohnbereich Bescheid zu geben. Ehe sie sich wieder hinter den Rollstuhl klemmte, überzog ein Grinsen ihr Gesicht.
„Aber dass mir keine Klagen kommen, Herr Handschke!“
Harald griente zurück. „Und wenn, dann hoffe ich auf ihr Verständnis. Sie waren ja schließlich auch mal jung.“
Als sie die Straße erreicht hatten, blieb Frau Rathmann stehen.
„Wo wollen wir eigentlich hin?“
„Na Kaffee trinken und Torte essen.“
„Ja natürlich! Wie konnte ich das vergessen.“
Sie setzten ihren Weg fort. Doch schon nach wenigen Metern blieb sie erneut stehen, hob den Kopf und atmete mehrmals tief durch.
„Ist Ihnen nicht gut?“
„Aber nicht doch. Ich genieße nur die herrliche Luft. Ich kann ihn riechen, den Frühling.“
„Aha“, machte er nur.
„Riechen Sie das auch?“
„Weiß nicht.“
„Wenn ich da an die strengen Gerüche auf unseren Fluren denke … Stört sie dieser Mief auch?“
„Och. Daran habe ich mich gewöhnt. Es gibt Schlimmeres. Außerdem ist mein Geruchssinn nicht sonderlich ausgeprägt. Berufskrankheit.“
„Wieso? Was waren Sie denn von Beruf?“
„Ich war technischer Leiter unserer städtischen Kläranlage.“
„Nein!!!“ Ihre Pupillen weiteten sich und vermittelten einen konsternierten Ausdruck.
„Doch!“
„Kläranlage, tss, tss“, hörte er sie murmelnd. Das Wort „Kinderschänder“ hätte sie nicht weniger entsetzt aussprechen können. Gleichzeitig ging sie körperlich auf Distanz. Ihre Hand rutschte aus seiner Armbeuge. Doch kaum waren die nächsten Schritte getan, da kam Frau Rathmann ins Straucheln, und schon wurde der alte Zustand wieder hergestellt.
‚Bis wir den Kaffee vor uns stehen haben, hat sie meinen Beruf eh vergessen‘, dachte er und schmunzelte so lange in sich hinein, bis er sich dieses Gedankens zu schämen begann. Durfte er sich über ihre beginnende Krankheit lustig machen?
Sie betraten den mit noch unbelaubten Baumriesen bestückten Kaffeegarten. Trotz der Vielzahl an Gästen, die sich hier niedergelassen hatten, fand er auf Anhieb einen freien Tisch, zu dem er die Frau an seiner Seite hin dirigierte.
Erst als sie bereits saßen, bemerkte er die zahlreichen Blicke, die sich auf ihn und seine Begleiterin richteten. Kein Wunder – es wimmelte vor Heiminsassen – teils mit, teils ohne Angehörige. An manchen Tischen wurde jetzt heftig getuschelt.
„Schau an – der einzige noch brauchbare Mann aus dem Wohnbereich römisch zwo hat sich ausgerechnet von dieser feinen Tussi aus der Demenzabteilung abschleppen lassen. Worauf lässt sich der stattliche Handschke da ein? Wer weiß, ob er in absehbarer Zeit überhaupt noch von ihr erkannt wird.“
Harald beobachtete die aufgeregten Hühner nur aus den Augenwinkeln, denn es gab jetzt Wichtigeres– die Bestellung.
Beide orderten je einen Pott Kaffee, und Frau Rathmann nahm dazu ein überdimensionales Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Er begnügte sich mit einem mageren Stück Streuselkuchen, schließlich musste er wegen seiner Rückenbeschwerden auf sein Gewicht achten.
Frau Rathmann schnupperte an der Torte und machte genüsslich „Hmm“, ehe sie Milch in den Kaffee schüttete. Vorsichtig führte sie dann den Pott an die Lippen und nippte an dem heißen Gesöff.
„Wunderbar“, hauchte sie. „Der Kaffee ist wirklich gut.“
Dann fiel sie über die Torte her. Obwohl sie munter drauflos schaufelte, kam ihr Mundwerk kaum zum Stehen. Auf diese Weise lernte Harald ungewollt die individuellen Besonderheiten der kompletten Familie Rathmann kennen. Sie hielt nur inne, wenn sie einen Schluck aus der Tasse nahm und dies mit den Worten kommentierte: „Der Kaffee ist wirklich gut.“
„Ja das isser“, brummte Harald beim dritten Mal.
„Wo war ich stehen geblieben? Ach – habe ich schon erzählt, dass mein Vater ein begnadeter Uhrmacher war?
„Ja – das sagten Sie bereits.“
„Ach ja? Übrigens, was ich Sie fragen wollte: Was haben Sie eigentlich beruflich gemacht?“
‚Oh nein!‘, dachte Harald und überlegte, was er antworten sollte. Mit seiner Kläranlage hatte er ja nun nicht gerade punkten können.
„Ich… ich war Chefhydrauliker für Aqua konterminata.“
„Ach! Interessant!“, rief sie aus, hielt sich damit aber nicht weiter auf, sondern verfiel jetzt in Lobeshymnen, die sie ihrer Heimatstadt widmete.
Es fiel ihm immer schwerer, ihrem Geplapper zu folgen. Gelangweilt ließ er seine Blicke durch die Runde schweifen. An einer hübschen jungen Frau, die sich gerade über einen Kinderwagen beugte, blieben Selbige hängen. Der ohnehin weite Ausschnitt klaffte auf und gewährte dem alten Mann einen Einblick, der ihm einen tiefen Seufzer der Entsagung entlockte.
„Sie hören mir ja gar nicht zu!“
Noch ehe er reagieren konnte, gewahrte sie seine Blickrichtung, stutzte kurz und spendierte ihm ein verständnisvolles Lächeln.
„Ich weiß, da kommt Wehmut auf, nicht wahr? Aber was soll es. Trink lieber deinen Kaffee aus, bevor er gänzlich kalt wird. Der ist übrigens ganz ausgezeichnet.“
„Das sagen Sie bereits zum fünften Mal“, entfuhr es Harald ungewollt. Aber, ehe er eine Entschuldigung murmeln konnte, zwitscherte sie weiter: „Na, wenn ich das schon fünfmal erwähnt habe, muss der Kaffee doch gut sein.“
Harald lachte. Die Antwort gefiel ihm. Und es gefiel ihm, dass sie ihn plötzlich geduzt hatte. Er ging darauf ein, indem er fragte: „Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“
„Das weißt du nicht?“ Und als er den Kopf schüttelte, setzte sie hinzu: „Ich bin doch die Sophie.“
„Und ich heiße Harald.“
Während er, wie ihm geheißen, den Pott leertrank, schielte er noch einmal zu der jungen Frau. Die hatte sich wieder gesetzt, und sein Blick traf lediglich einen schönen aber nicht ganz so interessanten Rücken.
„Ich war auch mal ein toller Feger“, hörte er Sophie dicht an seinem Ohr raunen. Gleichzeitig spürte er ihre Hand auf der seinen. Er wandte ihr den Kopf zu und schaute in zwei braune Augen, die einen ganz eigenartigen, fast jugendlichen Glanz bekommen hatten.
„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte er.
„Ich hatte lange schwarze Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mein Kleiderschrank hing voller bezaubernder Petticoats. Wenn ich die trug, starrten mir die Männer scharenweise hinterher. Aber ich besaß nur Augen für meinen Klaus.“
Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich regelrecht, ehe sie fortfuhr: „Ihm gehörte eine Vespa. Stell dir vor, ich mit einem steifen Petticoat hinten auf dem Rücksitz. Wir machten Touren hinaus in die Natur, wo wir ... Kannst du dir ja denken. Oder wir fuhren zu Freunden. Mein Gott, was haben wir für Partys gefeiert. Ach – eine herrlich verrückte Zeit.“
Harald kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn sie ließ unvermittelt seine Hand los, warf den Kopf in den Nacken und starrte durch die kahlen Äste hinauf zum Himmel. Ein entrücktes Lächeln umspielte ihre Lippen. Und plötzlich begann sie zu deklamieren.
„Nur einmal bringt des Jahres Lauf
uns Lenz und Lerchenlieder.
Nur einmal blüht die Rose auf,
und dann verwelkt sie wieder;
nur einmal gönnt uns das Geschick
so jung zu sein auf Erden:
Hast du versäumt den Augenblick,
jung wirst du nie mehr werden.“
„Das ist sehr schön, aber auch ein bisschen deprimierend“, resümierte Harald, und das meinte er zutiefst ehrlich. Die Wehmut, die in diesen Zeilen leise mitschwang, hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen. Die besaß auch einen Namen: Altsein.
Doch Sophie ließ ihm keine Zeit für Melancholie. Sie schien wieder in der Gegenwart angekommen zu sein und klärte ihn darüber auf, dass sie dieses Gedicht, das von einem gewissen Richard von Wilpert sei, bereits in der Schule gelernt hatte.
„Und du siehst – ich kann es immer noch auswendig. Magst du auch eines aufsagen?“
„Nee, aus der Schulzeit nicht. Aber…“ Er zögerte einen Moment, nahm seinen Mut zusammen und sagte: „Ich hätte da eins… auch vom Frühling … ich weiß aber nicht, ob… Ach, ich versuche es mal.“
Er räusperte sich umständlich und begann:
Der Frühling braust mit Macht ins Land,
der letzte Schnee ist längst getaut.
Im Garten ich schon Blümchen fand.
Ganz neu noch und doch lang vertraut.
Die Birke zeigt schon grüne Knospen.
Manch Vogel es nun heimwärts zieht.
Schau ¬¬- auf des Zaunes morschen Pfosten
singt eine Amsel schon ihr Lied.
Ich sitz vorm Haus, genieß die laue
Frühlingsluft beim Abendrot,
und während ich zum Himmel schaue,
klatsch ich die erste Mücke tot.
Bald blühen auch die Königskerzen.
Die Frösche quaken in den Teichen.
Fast weg sind meine Rückenschmerzen.
Nur mein Rheuma will nicht weichen.
Er sah sie erwartungsvoll an, bemerkte, wie sie den Mund verzog und den Kopf schüttelte.
„Von wem sind denn diese Rumpelverse? Das holpert und poltert, als wenn …“
„Das ist von mir!“, warf er mit schwer verletztem Dichterstolz dazwischen.
„Nein!!!“
„Doch. Ich habe es erst heute Vormittag geschrieben.“
„Du dichtest?“
„Ja manchmal.“
„Toll! Schreibst du auch ein Gedicht für mich?“
Ihr Ton ließ ihn befürchten, keine andere Wahl zu haben. Ihr vernichtendes Urteil über seine „Rumpelverse“ schien aufgehoben zu sein.
„Ich kann es ja versuchen“, sagte er in aller Bescheidenheit.
„Da freu ich mich aber!“
Und ehe er es sich versah, beugte sie sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald!“, korrigierte er sie, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte.
„Natürlich – Harald – wie konnte ich das vergessen.“
Das klang fast, als wäre sie ein wenig traurig. Auch ihre Augen besaßen nicht mehr diesen Glanz. Die glänzten umso mehr bei den noch in der Nähe sitzenden Heimbewohnern. Harald glaubte, ihr Tuscheln deuten zu können.
„Habt ihr gesehen – sie hat ihn geküsst. In aller Öffentlichkeit. Nee, je oller, je doller…“
Die meisten der Senioren-Residenzler hatten sich allerdings schon auf den Rückweg ins Heim gemacht, denn dort stand jetzt im Gemeinschaftsraum das gemeinsame Absingen altvertrauter Volkslieder auf dem Plan. Darauf hatte Harald wahrlich keinen Bock. Trotzdem rief er die Kellnerin heran und bat um die Rechnung.
„Das war ein wunderbarer Nachmittag“, schwärmte Sophie beim Aufstehen. Sie hakte sich wieder bei ihm ein und raunte ein: „Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald.“
„Natürlich – wie konnte ich das vergessen.“
Als sie die Fußgängerbrücke erreichten, die über einen Bach führte, blieben sie wie verabredet stehen und traten dicht an das Geländer. Das Wasser plätscherte um die im Bachbett verstreuten Steine und schickte sein quirliges Glitzern hinauf zu dem Paar, das in stummer Betrachtung verharrte.
„Wie schön.“ Hatten sie das wirklich beide gleichzeitig gesagt?
Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, mit Dingen beschäftigt, die ungewollt von irgendwo her auf sie eingestürmt sein mochten, die aber kein Nachdenken erforderten. Es war eher ein versonnenes Treibenlassen – durch nichts Konkretes bestimmt. Eigentlich nur Empfindungen.
Empfindungen?
Harald fühlte sich unsicher werden. Er blinzelte einen Moment lang in die Sonne, ehe er Sophie den Kopf zuwandte. Fast gleichzeitig drehte auch sie ihr wallend weißes Haupt und sah ihn von unten herauf an. Ein feines Lächeln spielte über ihre Lippen, ehe es in den reich gefältelten Mundwinkeln versickerte. In ihren Augen lag jetzt wieder dieses jugendliche Leuchten. Die goldbraunen Pupillen wirkten wie kleine Sonnen, deren Strahlen in den zahllosen Falten ihres Antlitzes verewigt schienen.
Harald schaute fasziniert in dieses Gesicht, von dem auf einmal ein Leuchten auszugehen schien, das sogar sein Inneres erreichte und sich langsam darin auszubreiten begann. Was war das für ein Gefühl, das jäh über ihn hereinbrach und ihn zwang, seinen Arm um Sophies schmale Schulter zu legen? Vielleicht wäre er über so viel Kühnheit vor sich selbst erschrocken gewesen, wenn er nicht zeitgleich ihre Hand auf seiner Hüfte gefühlt hätte. Und dann fanden sich ihre noch freien Hände zu einem festen und zugleich zärtlichen Druck.
Harald löste seinen Blick, starrte erneut aufs Wasser und lauschte nach innen, wartete von dort auf eine Erklärung über das, was sich hier gerade abspielte. Er erhielt keine.
„Was ist das?“
Erst als ihre Finger über seinen Handrücken spielten, wurde ihm bewusst, dass er die Frage laut gestellt hatte.
Ihre Stimme war unglaublich weich, als sie sagte: „Das ist der Frühling! Unser Frühling, Klaus?“
In diesem Jahr fiel der erste Frühlingstag, der diesen Namen wirklich verdiente, auf einen Sonntag. Die meisten Bewohner des Alten- und Pflegeheimes mit dem wohlklingenden Namen „Seniorenresidenz Lebensglück“ hatten daher bereits den Vormittag genutzt, um im Freigelände auszuschwärmen oder wenigstens vom Balkon aus ihre Nasen schnuppernd in die weich warme Luft zu recken und die blassen Gesichter der mild strahlenden Sonne auszusetzen.
Jetzt, eine knappe Stunde nach dem Mittagessen, flogen die Besucher ein, in der Mehrzahl Familienangehörige, die ihre längst fälligen Stippvisiten bei ihren Oldies zu absolvieren trachteten. Angesichts des herrlichen Wetters lag es nahe, die winzige Parkanlage aufzusuchen, die das Heim umgab. Bald herrschte auf den schmalen Kieswegen ein reger Fußgänger-, Rollator- und Rollstuhlverkehr, der an den Wegkreuzungen fast schon einer Ampelregelung bedurft hätte.
Harald Handschke erwartete keinen Besuch, denn sein einziger Sohn und dessen Frau befanden sich zurzeit auf einer Urlaubsreise.
Ein Taschenbuch unter den Arm geklemmt, blieb er einen Moment blinzelnd stehen, bis sich seine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten. Ein zufriedenes Lächeln wischte über sein Gesicht, und sein Oberkörper straffte sich.
Vor ihm lag eine etwa vierzig mal zwanzig Meter messende und mit Verbundpflaster befestigte Fläche, die durch eine Vielzahl von Pergolen in kleine Rechtecke unterteilt wurde. Dort luden bequeme Holzbänke zum Verweilen ein.
Er steuerte die Sitzecke an, die von den meisten Heiminsassen gemieden wurde, weil sich dort die wenigen Raucher zu versammeln pflegten. Im Moment saß dort niemand. Er nahm Platz und lehnte sich behutsam nach hinten. Der erwartete Schmerz im Rücken blieb aus. Er schlug er das Buch auf.
Alles hätte perfekt sein können, wenn nicht in diesem Moment eine Karawane von ratternden Rollatoren auf der Bildfläche erschienen wäre. Harald riskierte einen entsetzten Blick auf die Rollator-Ladys, denn Frontfrau Johanna steuerte geradewegs in seine Richtung
„Nein! Bitte nicht!“, stöhnte er auf.
Eilig ergriff er eine Abwehrmaßnahme, die er für einzig Erfolg versprechend hielt. Hastig förderte eine Zigarettenschachtel aus dem Jackett, schob sich ein Stäbchen zwischen die Lippen zündete es an. Er nahm einen kräftigen Zug und ließ eine dicke Wolke über seinem Kopf aufsteigen. Eine Verzweiflungstat, die aber die erhoffte Wirkung zeigte. Die Karawane drehte abrupt ab, und schon fiel die Schar in das Rechteck neben ihm ein.
„Dass der junge Mann immer so viel rauchen muss“, hörte er eine der Frauen sagen.
Sie bekam keine Antwort, weil die Freundinnen all ihre Puste brauchte, um die Gehhilfen korrekt einzuparken.
Der „junge Mann“, der die Absicht hatte, im übernächsten Jahr seinen achtzigsten Geburtstag zu feiern, gönnte sich ein Lächeln und versuchte sich endlich seiner Lektüre zu widmen. Da brach nebenan der erwartete Redeschwall aus sechs Mündern gleichzeitig hervor, die jetzt – das wusste er aus Erfahrung – keine Sekunde mehr stillstehen würden.
Harald klappte das Buch zu, schloss die Augen und schickte einen Stoßseufzer in den azurblauen Himmel.
„Ich halte den Krach nicht aus. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“
‚Was für eine klangvolle Stimme‘, dachte er, während er die Lider hob.
Vor ihm stand eine Frau, so schmal, dass sie kaum Schatten warf. Aber sie stand kerzengerade, hielt die mageren Arme ein wenig vom Körper ab und drehte die Handflächen leicht nach außen. Es war, als wolle sie damit ausdrücken: „Hier bin ich.“
Er kannte sie nur flüchtig vom Sehen, denn sie wohnte erst knapp drei Wochen in der Abteilung für Senioren mit beginnender Demenz. Außer dem Umstand, dass sie meist einen Rollator benutzte, waren ihm an ihr keine sichtbaren Gebrechen aufgefallen
Ihre Erscheinung wirkte auffallend. Zwischen all den Frauen ihres Wohnbereiches wirkte sie wie ein Diamant zwischen lauter Glasscherben.
Wie alt mochte sie sein? Trotz ihres jung anmutenden Lächelns, bei dem sie makellose Zahnreihen blitzen ließ, schätze er sie auf wenigstens achtzig. Ihr schmales Gesicht faltig zu nennen, wäre stark untertrieben gewesen. Dieses Antlitz schien vielmehr aus unzähligen Falten geformt, die in ihrer vollendeten Symmetrie diesem Gesicht jedoch ein eigenartiges Flair verliehen. Umrahmt wurde das Ganze von schlohweißen Haaren, deren enorme Fülle sofort ins Auge stach. Präsentiert wurde diese Pracht mittels einer Art Schüttelfrisur, wie sie in den siebziger Jahren häufig getragen wurde.
„Darf ich?“
„Ach so –ja. Gewiss. Wenn es Sie nicht stört, dass ich rauche.“
„Nein, das stört mich nicht“, hörte er sie sagen, und schon nahm sie dicht neben ihm Platz. „Wissen Sie. Ich habe früher auch geraucht. Das ist lange her. Damals war ich… ach was… geben Sie mir auch eine.“
Harald beschloss, sich nicht mehr über diese Frau zu wundern und hielt ihr die Schachtel hin. Mit spitzen Fingern entnahm sie die Zigarette und schob sie zwischen die schmalen Lippen. Harald gab artig Feuer. Nach dem ersten Zug hüstelte sie ein wenig, doch das legte sich rasch, und er gewann den Eindruck, als würde sie sogar mit Genuss den Rauch inhalieren. Sie rutschte auf der Bank ein Stück vor, lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte er sie zwischen zwei Zügen sagen: „Jetzt fehlt nur noch eine schöne Tasse Kaffee.“
„Das stimmt. Aber die Kaffeezeit beginnt erst in zweieinhalb Stunden. Und die Brühe aus dem Automaten ist ungenießbar.“
„Schade“, sagte sie und schlug die Augen auf. „Wirklich schade.“
Ihr Bedürfnis nach dem braunen Getränk begann sich, auf Harald zu übertragen.
„Ich weiß in der Nähe ein Restaurant“, verriet er. „Bei dem herrlichen Wetter ist garantiert schon der Kaffeegarten geöffnet.“
„Oh ja – lassen Sie uns dorthin gehen! Bestimmt gibt es dort auch Torte. Ich bin verrückt nach Torte – richtige Sahnetorte.“
Sie glitt von der Bank, drückte die Zigarette aus und baute sich auffordernd vor ihm auf.
Harald zögerte. Er bereute bereits, von der Gaststätte erzählt zu haben. Mit einer Dementen hatte er noch nie ein Lokal besucht.
„Kommen Sie!“
Ihm wurde klar, aus der Nummer kam er nicht mehr raus, ohne die Frau vor den Kopf zu stoßen. Vorsichtig stemmte er sich hoch. Zufrieden stellte er fest, dass ihn sein Rücken auch diesmal in Ruhe ließ.
„Gehen wir?“ In ihrer Stimme lag aufkommende Ungeduld.
„Ja – ja natürlich“, sagte er zögernd, und bedeutete ihr, dass er hier auf sie warten würde, während sie ihren Rollator holte.
„Ist es denn weit?“
„Nö – Allenfalls dreihundert Meter.“
„Da brauche ich keinen Rollator. Das schaffen wir auch so.“
Mit diesen Worten hakte sie sich burschikos bei ihm ein und zog ihn mit sich fort. Es brauchte ein paar Meter, bis er sich ihren Trippelschritten angepasst hatte und die Führung übernehmen konnte.
Im Park stellte er fest, dass etliche Gaffer ihnen hinterher glotzten. Auch die hübsche Praktikantin, die sich mit einem opabestückten Rollstuhl durch den Kies quälte, guckte ein wenig verdutzt.
„Gut, dass ich Sie treffe“, sprach Harald sie an. „Ich gehe für ein bis zwei Stunden mit Frau… Frau… Wie heißen Sie eigentlich?“
„Das ist Frau Rathmann“, kam die Praktikantin zuvor.
„Ja. Frau Rathmann und ich – wir wollen ins Café ‚Waldkater‘.“
Die junge Frau nickte und versprach im Wohnbereich Bescheid zu geben. Ehe sie sich wieder hinter den Rollstuhl klemmte, überzog ein Grinsen ihr Gesicht.
„Aber dass mir keine Klagen kommen, Herr Handschke!“
Harald griente zurück. „Und wenn, dann hoffe ich auf ihr Verständnis. Sie waren ja schließlich auch mal jung.“
Als sie die Straße erreicht hatten, blieb Frau Rathmann stehen.
„Wo wollen wir eigentlich hin?“
„Na Kaffee trinken und Torte essen.“
„Ja natürlich! Wie konnte ich das vergessen.“
Sie setzten ihren Weg fort. Doch schon nach wenigen Metern blieb sie erneut stehen, hob den Kopf und atmete mehrmals tief durch.
„Ist Ihnen nicht gut?“
„Aber nicht doch. Ich genieße nur die herrliche Luft. Ich kann ihn riechen, den Frühling.“
„Aha“, machte er nur.
„Riechen Sie das auch?“
„Weiß nicht.“
„Wenn ich da an die strengen Gerüche auf unseren Fluren denke … Stört sie dieser Mief auch?“
„Och. Daran habe ich mich gewöhnt. Es gibt Schlimmeres. Außerdem ist mein Geruchssinn nicht sonderlich ausgeprägt. Berufskrankheit.“
„Wieso? Was waren Sie denn von Beruf?“
„Ich war technischer Leiter unserer städtischen Kläranlage.“
„Nein!!!“ Ihre Pupillen weiteten sich und vermittelten einen konsternierten Ausdruck.
„Doch!“
„Kläranlage, tss, tss“, hörte er sie murmelnd. Das Wort „Kinderschänder“ hätte sie nicht weniger entsetzt aussprechen können. Gleichzeitig ging sie körperlich auf Distanz. Ihre Hand rutschte aus seiner Armbeuge. Doch kaum waren die nächsten Schritte getan, da kam Frau Rathmann ins Straucheln, und schon wurde der alte Zustand wieder hergestellt.
‚Bis wir den Kaffee vor uns stehen haben, hat sie meinen Beruf eh vergessen‘, dachte er und schmunzelte so lange in sich hinein, bis er sich dieses Gedankens zu schämen begann. Durfte er sich über ihre beginnende Krankheit lustig machen?
Sie betraten den mit noch unbelaubten Baumriesen bestückten Kaffeegarten. Trotz der Vielzahl an Gästen, die sich hier niedergelassen hatten, fand er auf Anhieb einen freien Tisch, zu dem er die Frau an seiner Seite hin dirigierte.
Erst als sie bereits saßen, bemerkte er die zahlreichen Blicke, die sich auf ihn und seine Begleiterin richteten. Kein Wunder – es wimmelte vor Heiminsassen – teils mit, teils ohne Angehörige. An manchen Tischen wurde jetzt heftig getuschelt.
„Schau an – der einzige noch brauchbare Mann aus dem Wohnbereich römisch zwo hat sich ausgerechnet von dieser feinen Tussi aus der Demenzabteilung abschleppen lassen. Worauf lässt sich der stattliche Handschke da ein? Wer weiß, ob er in absehbarer Zeit überhaupt noch von ihr erkannt wird.“
Harald beobachtete die aufgeregten Hühner nur aus den Augenwinkeln, denn es gab jetzt Wichtigeres– die Bestellung.
Beide orderten je einen Pott Kaffee, und Frau Rathmann nahm dazu ein überdimensionales Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Er begnügte sich mit einem mageren Stück Streuselkuchen, schließlich musste er wegen seiner Rückenbeschwerden auf sein Gewicht achten.
Frau Rathmann schnupperte an der Torte und machte genüsslich „Hmm“, ehe sie Milch in den Kaffee schüttete. Vorsichtig führte sie dann den Pott an die Lippen und nippte an dem heißen Gesöff.
„Wunderbar“, hauchte sie. „Der Kaffee ist wirklich gut.“
Dann fiel sie über die Torte her. Obwohl sie munter drauflos schaufelte, kam ihr Mundwerk kaum zum Stehen. Auf diese Weise lernte Harald ungewollt die individuellen Besonderheiten der kompletten Familie Rathmann kennen. Sie hielt nur inne, wenn sie einen Schluck aus der Tasse nahm und dies mit den Worten kommentierte: „Der Kaffee ist wirklich gut.“
„Ja das isser“, brummte Harald beim dritten Mal.
„Wo war ich stehen geblieben? Ach – habe ich schon erzählt, dass mein Vater ein begnadeter Uhrmacher war?
„Ja – das sagten Sie bereits.“
„Ach ja? Übrigens, was ich Sie fragen wollte: Was haben Sie eigentlich beruflich gemacht?“
‚Oh nein!‘, dachte Harald und überlegte, was er antworten sollte. Mit seiner Kläranlage hatte er ja nun nicht gerade punkten können.
„Ich… ich war Chefhydrauliker für Aqua konterminata.“
„Ach! Interessant!“, rief sie aus, hielt sich damit aber nicht weiter auf, sondern verfiel jetzt in Lobeshymnen, die sie ihrer Heimatstadt widmete.
Es fiel ihm immer schwerer, ihrem Geplapper zu folgen. Gelangweilt ließ er seine Blicke durch die Runde schweifen. An einer hübschen jungen Frau, die sich gerade über einen Kinderwagen beugte, blieben Selbige hängen. Der ohnehin weite Ausschnitt klaffte auf und gewährte dem alten Mann einen Einblick, der ihm einen tiefen Seufzer der Entsagung entlockte.
„Sie hören mir ja gar nicht zu!“
Noch ehe er reagieren konnte, gewahrte sie seine Blickrichtung, stutzte kurz und spendierte ihm ein verständnisvolles Lächeln.
„Ich weiß, da kommt Wehmut auf, nicht wahr? Aber was soll es. Trink lieber deinen Kaffee aus, bevor er gänzlich kalt wird. Der ist übrigens ganz ausgezeichnet.“
„Das sagen Sie bereits zum fünften Mal“, entfuhr es Harald ungewollt. Aber, ehe er eine Entschuldigung murmeln konnte, zwitscherte sie weiter: „Na, wenn ich das schon fünfmal erwähnt habe, muss der Kaffee doch gut sein.“
Harald lachte. Die Antwort gefiel ihm. Und es gefiel ihm, dass sie ihn plötzlich geduzt hatte. Er ging darauf ein, indem er fragte: „Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“
„Das weißt du nicht?“ Und als er den Kopf schüttelte, setzte sie hinzu: „Ich bin doch die Sophie.“
„Und ich heiße Harald.“
Während er, wie ihm geheißen, den Pott leertrank, schielte er noch einmal zu der jungen Frau. Die hatte sich wieder gesetzt, und sein Blick traf lediglich einen schönen aber nicht ganz so interessanten Rücken.
„Ich war auch mal ein toller Feger“, hörte er Sophie dicht an seinem Ohr raunen. Gleichzeitig spürte er ihre Hand auf der seinen. Er wandte ihr den Kopf zu und schaute in zwei braune Augen, die einen ganz eigenartigen, fast jugendlichen Glanz bekommen hatten.
„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte er.
„Ich hatte lange schwarze Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mein Kleiderschrank hing voller bezaubernder Petticoats. Wenn ich die trug, starrten mir die Männer scharenweise hinterher. Aber ich besaß nur Augen für meinen Klaus.“
Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich regelrecht, ehe sie fortfuhr: „Ihm gehörte eine Vespa. Stell dir vor, ich mit einem steifen Petticoat hinten auf dem Rücksitz. Wir machten Touren hinaus in die Natur, wo wir ... Kannst du dir ja denken. Oder wir fuhren zu Freunden. Mein Gott, was haben wir für Partys gefeiert. Ach – eine herrlich verrückte Zeit.“
Harald kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn sie ließ unvermittelt seine Hand los, warf den Kopf in den Nacken und starrte durch die kahlen Äste hinauf zum Himmel. Ein entrücktes Lächeln umspielte ihre Lippen. Und plötzlich begann sie zu deklamieren.
„Nur einmal bringt des Jahres Lauf
uns Lenz und Lerchenlieder.
Nur einmal blüht die Rose auf,
und dann verwelkt sie wieder;
nur einmal gönnt uns das Geschick
so jung zu sein auf Erden:
Hast du versäumt den Augenblick,
jung wirst du nie mehr werden.“
„Das ist sehr schön, aber auch ein bisschen deprimierend“, resümierte Harald, und das meinte er zutiefst ehrlich. Die Wehmut, die in diesen Zeilen leise mitschwang, hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen. Die besaß auch einen Namen: Altsein.
Doch Sophie ließ ihm keine Zeit für Melancholie. Sie schien wieder in der Gegenwart angekommen zu sein und klärte ihn darüber auf, dass sie dieses Gedicht, das von einem gewissen Richard von Wilpert sei, bereits in der Schule gelernt hatte.
„Und du siehst – ich kann es immer noch auswendig. Magst du auch eines aufsagen?“
„Nee, aus der Schulzeit nicht. Aber…“ Er zögerte einen Moment, nahm seinen Mut zusammen und sagte: „Ich hätte da eins… auch vom Frühling … ich weiß aber nicht, ob… Ach, ich versuche es mal.“
Er räusperte sich umständlich und begann:
Der Frühling braust mit Macht ins Land,
der letzte Schnee ist längst getaut.
Im Garten ich schon Blümchen fand.
Ganz neu noch und doch lang vertraut.
Die Birke zeigt schon grüne Knospen.
Manch Vogel es nun heimwärts zieht.
Schau ¬¬- auf des Zaunes morschen Pfosten
singt eine Amsel schon ihr Lied.
Ich sitz vorm Haus, genieß die laue
Frühlingsluft beim Abendrot,
und während ich zum Himmel schaue,
klatsch ich die erste Mücke tot.
Bald blühen auch die Königskerzen.
Die Frösche quaken in den Teichen.
Fast weg sind meine Rückenschmerzen.
Nur mein Rheuma will nicht weichen.
Er sah sie erwartungsvoll an, bemerkte, wie sie den Mund verzog und den Kopf schüttelte.
„Von wem sind denn diese Rumpelverse? Das holpert und poltert, als wenn …“
„Das ist von mir!“, warf er mit schwer verletztem Dichterstolz dazwischen.
„Nein!!!“
„Doch. Ich habe es erst heute Vormittag geschrieben.“
„Du dichtest?“
„Ja manchmal.“
„Toll! Schreibst du auch ein Gedicht für mich?“
Ihr Ton ließ ihn befürchten, keine andere Wahl zu haben. Ihr vernichtendes Urteil über seine „Rumpelverse“ schien aufgehoben zu sein.
„Ich kann es ja versuchen“, sagte er in aller Bescheidenheit.
„Da freu ich mich aber!“
Und ehe er es sich versah, beugte sie sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald!“, korrigierte er sie, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte.
„Natürlich – Harald – wie konnte ich das vergessen.“
Das klang fast, als wäre sie ein wenig traurig. Auch ihre Augen besaßen nicht mehr diesen Glanz. Die glänzten umso mehr bei den noch in der Nähe sitzenden Heimbewohnern. Harald glaubte, ihr Tuscheln deuten zu können.
„Habt ihr gesehen – sie hat ihn geküsst. In aller Öffentlichkeit. Nee, je oller, je doller…“
Die meisten der Senioren-Residenzler hatten sich allerdings schon auf den Rückweg ins Heim gemacht, denn dort stand jetzt im Gemeinschaftsraum das gemeinsame Absingen altvertrauter Volkslieder auf dem Plan. Darauf hatte Harald wahrlich keinen Bock. Trotzdem rief er die Kellnerin heran und bat um die Rechnung.
„Das war ein wunderbarer Nachmittag“, schwärmte Sophie beim Aufstehen. Sie hakte sich wieder bei ihm ein und raunte ein: „Danke Klaus.“
„Ich heiße Harald.“
„Natürlich – wie konnte ich das vergessen.“
Als sie die Fußgängerbrücke erreichten, die über einen Bach führte, blieben sie wie verabredet stehen und traten dicht an das Geländer. Das Wasser plätscherte um die im Bachbett verstreuten Steine und schickte sein quirliges Glitzern hinauf zu dem Paar, das in stummer Betrachtung verharrte.
„Wie schön.“ Hatten sie das wirklich beide gleichzeitig gesagt?
Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, mit Dingen beschäftigt, die ungewollt von irgendwo her auf sie eingestürmt sein mochten, die aber kein Nachdenken erforderten. Es war eher ein versonnenes Treibenlassen – durch nichts Konkretes bestimmt. Eigentlich nur Empfindungen.
Empfindungen?
Harald fühlte sich unsicher werden. Er blinzelte einen Moment lang in die Sonne, ehe er Sophie den Kopf zuwandte. Fast gleichzeitig drehte auch sie ihr wallend weißes Haupt und sah ihn von unten herauf an. Ein feines Lächeln spielte über ihre Lippen, ehe es in den reich gefältelten Mundwinkeln versickerte. In ihren Augen lag jetzt wieder dieses jugendliche Leuchten. Die goldbraunen Pupillen wirkten wie kleine Sonnen, deren Strahlen in den zahllosen Falten ihres Antlitzes verewigt schienen.
Harald schaute fasziniert in dieses Gesicht, von dem auf einmal ein Leuchten auszugehen schien, das sogar sein Inneres erreichte und sich langsam darin auszubreiten begann. Was war das für ein Gefühl, das jäh über ihn hereinbrach und ihn zwang, seinen Arm um Sophies schmale Schulter zu legen? Vielleicht wäre er über so viel Kühnheit vor sich selbst erschrocken gewesen, wenn er nicht zeitgleich ihre Hand auf seiner Hüfte gefühlt hätte. Und dann fanden sich ihre noch freien Hände zu einem festen und zugleich zärtlichen Druck.
Harald löste seinen Blick, starrte erneut aufs Wasser und lauschte nach innen, wartete von dort auf eine Erklärung über das, was sich hier gerade abspielte. Er erhielt keine.
„Was ist das?“
Erst als ihre Finger über seinen Handrücken spielten, wurde ihm bewusst, dass er die Frage laut gestellt hatte.
Ihre Stimme war unglaublich weich, als sie sagte: „Das ist der Frühling! Unser Frühling, Klaus?“