Marcel Sommerick
Mitglied
Das Jahrtausendgrab
Erstes Kapitel
Das Schlimmste waren die Fliegen. Er hatte mit Durst und Hitze gerechnet, mit Muskelkrämpfen und Durchfall. Aber dass er mitten in der Wüste auf Fliegen treffen würde, die sich einen Spaß daraus machten, seinen Schweiß aufzusaugen und ihn den ganzen Tag zu umschwirren, erschien paradox. Die afrikanischen Fliegen waren ungleich aggressiver als ihre europäischen Artgenossen und schienen darauf programmiert zu sein, den Menschen das Leben zur Qual zu machen.
Hier in der Weißen Wüste Ägyptens gab es sonst kaum Leben. Am Vortag hatte er die Spuren einer Gazelle gesichtet, und jeden Abend beobachtete er, wie zwei Wüstenfüchse in seinen Abfällen nach Essbarem wühlten. Aber er hatte sich weit von der Hauptroute entfernt und in den drei Tagen, die er nun hier war, hatte er keinen einzigen Landcruiser gesichtet, keine Touristen und auch kein Militär. Nachts funkelten die Sterne über seinem Lager, und tagsüber brannte die sengende Sonne vom Himmel, so dass er sich in den Mittagsstunden in den Schatten des Camions flüchtete und bei einem Glas Minztee abwartete, bis die größte Hitze vorbei war.
André hatte damit begonnen, die Grube auszuheben. Ein Spaten gehörte in das Gepäck jedes Wüstenreisenden, und es kam vor, dass jemand in echter Verzweiflung oder aus Sportsgeist nach Wasser grub. Gang und gäbe war es auch, zu der Schaufel zu greifen, wenn das Auto eingesandet war. Aber dass jemand ein zwölf Meter langes und vier Meter tiefes Erdloch anlegte, war nicht an der Tagesordnung. Selbst in der Abgeschiedenheit der Weißen Wüste war sein Vorhaben ein Rennen gegen die Zeit. André musste jeden Tag damit rechnen, dass sein Plan endgültig scheiterte.
Er bereite sich auf den perfekten Abgang vor.
Manche Leute stecken viel Geld in ihr Begräbnis, lassen sich einen pompösen Grabstein setzen und investieren ihr Erbe in eine Stiftung. André hatte nichts dergleichen im Sinn, denn er hatte kein Geld und nur wenige Freunde. Er war nur hier, weil er in zwei Monaten die Geldautomaten von ganz Südeuropa mit seiner Scheckkarte geplündert hatte. Den Lkw hatte er von seiner Fahrschule gestohlen und die Papiere gefälscht. In einer Nacht- und Nebelaktion war er von zu Hause ausgerückt. Drei Brüche hatte er gemacht, um seine Fracht zu komplettieren, und so enthielt der Laderaum neben seinem Hausrat und der Expeditionsausrüstung alles, was ihm für sein Jahrtausend lieb und wichtig erschien.
Sein Grab sollte etwas Besonderes werden, nicht eines von diesen schäbigen Erdlöchern, in denen die Einheimischen ihre Toten verscharrten. Wenn man André fragte, war es immer noch besser, unter Palmen im Süden begraben zu werden als daheim auf dem Kölner Melatenfriedhof. Aber er hatte sich diese Abgeschiedenheit der westlichen Wüste Ägyptens ausgesucht, um mit seinem Suizid ein Zeichen zu setzen für das Leben in der fernen Zukunft. Niemand wusste, was einst geschehen könnte und ob die Menschheit das nächste Jahrtausend überhaupt erleben würde. Aber André Becker hatte sich vorgenommen, Nägel mit Köpfen zu machen. Sein Grab sollte ein Zeugnis seiner Zeit abgeben und künftige Archäologen in Freudentaumel versetzen. Er plante nichts Geringeres als eine geschichtliche Sensation: Das Jahrtausendgrab.
Verbissen grub André weiter. Es war sein Schicksal, um die Jahrtausendwende zu leben, aber niemand sollte sagen, dass schon alle Würfel gefallen waren. Er hätte auch ganz einfach den Benzinschlauch seines Fahrzeuges durchschneiden können, den Sprit und die Wasservorräte in den Sand kippen können. Wahrscheinlich wäre er dann qualvoll verdurstet. Doch er wollte sich das Ableben nicht zu einfach machen, nicht aus Schwäche den einfachsten Weg wählen. Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich einsam gefühlt. Seine Kindheit war dornig, in der Jugend war er ein extremer Außenseiter, und auch die Adoleszenz brachte keine einschneidenden Veränderungen. Er studierte mit mäßigem Erfolg, jobbte nebenher in einer Spedition und machte schließlich den Lkw-Führerschein, um hauptberuflich Brummis zu fahren. So hätte er sich eine geregelte Existenz aufbauen können, mit Wohnung im Kölner Norden und Job, um schließlich zu heiraten und eine Familie aufzubauen. Manchmal geht das Leben seltsame Wege, dachte er und sprach die Gedanken laut aus, „... und nichts steht geschrieben.“
Er stutzte, legte den Spaten beiseite und lauschte. In der Stille der Wüste hätte er schwören können, eine menschliche Stimme zu vernehmen. Er schüttelte den Kopf, schaute nach allen Richtungen. Eine Halluzination. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte sich in den Schatten, um eine Kanne Kaffee zu kochen. Vorräte führte er im Überfluss mit sich, und wenn es drei Wochen dauern sollte, die Grube auszuheben, er war für alle Eventualitäten gerüstet. Sogar ein Satellitentelefon führte er mit sich, seine letzte Verbindung zur Zivilisation, und solange niemand sein Versteck entdeckte, konnte er seine Pläne unbeirrt zu Ende bringen. Er trank den Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Es war sengend heiß. Er hatte vergessen, sich eine Mütze aufzusetzen. Eine psychische Aberration hätte seine Pläne durchkreuzt. Doch momentan sah es eher nach einem Sonnenstich aus. Er kippte den Rest Kaffee aus der Tasse und kletterte auf die Ladefläche, um ein kaltes Bier aus der Kühlbox zu holen. Es war eine kleine grüne Flasche mit der Aufschrift „Birell“, alkoholfreies Bier. In Bahariya hatte er die letzten Vorräte eingekauft, nur die Zigaretten wurden langsam knapp. Er trank das Bier und legte sich in den Schatten. Sein Kopf war heiß, und um die Stirn zu kühlen, wand er sich ein feuchtes Handtuch um den Schädel. Es herrschte die absolute, totale Stille. Kein Auto, kein Menschenlärm, selbst der Wind war eingeschlafen. Nur zwei Fliegen summten um sein Gesicht, bis er sich aufrichtete und beide zerklatschte, um seinen Frieden zu haben. Er dachte an das Satellitentelefon, doch noch war die Wüste sein Freund, und er wollte das karge Idyll nicht zerstören. Er hatte einige Zarges-Kisten in dem Schatten abgeladen und holte eine Packung Kekse hervor, die er mit einer Handvoll Datteln zusammen verspeiste. Das Blut pochte im Schädel. Ein Pillendreher kam über den Sand gehuscht und verschwand unter der Luftmatratze. Seit vier Tagen hatte er mit keinem Menschen gesprochen. Er ging davon aus, dass in der Heimat schon lange nach ihm gefahndet wurde. Der Rückzug war versperrt. In Ägypten schien sich die Polizei nicht für ihn zu interessieren, das lag wohl hauptsächlich daran, dass er genügend Geld mit sich führte und einen vernünftigen Eindruck machte. An der Grenze hatte er den Zollbeamten erklärt, er führe die Habseligkeiten eines wohlhabenden Einheimischen mit sich, der von Deutschland zurückgekehrt sei und ihn in Luxor erwarte. Es war nicht anders als an jeder x-beliebigen Grenze, die er bisher mit dem Brummi überquert hatte. Solange man alles bezahlen konnte, gab es keine Schwierigkeiten. Also verteilte er großzügig einen Bakschisch nach dem anderen. Wiewohl alles glatt lief, konnte er sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die Ägypter Schlitzohren waren. Sie schienen genau zu wissen, wieviel sie bei ihm abstauben konnten. Aber eigentlich mochte er die Schlepper und Geschäftemacher gerne, denn sie wurden nicht müde, ihm immer wieder zu versichern, „welcome to Egypt“.
Die Hitze flirrte über der Wüste. Es war die heißeste Zeit des Tages, die man nur im Schatten ertragen konnte. André wand sich ein feuchtes Handtuch um den Kopf, übergab sich in einiger Entfernung von dem Lkw. Er hatte sich tatsächlich einen Sonnenstich eingefangen. Sein Schädel war glühend heiß, und ihm war todschlecht. Er brühte sich eine Tasse Tee auf, die er anschließend gleich wieder von sich gab. Sein Magen rebellierte, er war wacklig auf den Beinen. Das Weitergraben kam nicht in Frage. Er krümmte sich auf der Luftmatratze zusammen und erbrach sich in regelmäßigen Abständen. Am Abend gelang es ihm zum Glück wieder, etwas Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Er schlich um das Satellitentelefon herum. Was wäre einfacher gewesen, als diesen ganzen Wahnsinn zu vergessen und reuig heimzukehren. Er wählte eine Nummer, doch kaum hielt er den Hörer in der Hand, mußte er schon wieder brechen. Es war die Hölle.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf, wälzte sich fiebrig auf seinem Lager und nahm auch die beiden Feneks nicht wahr, die an seinen Abfällen schnupperten. Die beiden folgenden Tage waren auch nicht besser. Zum Glück gelang es ihm, wieder etwas Tee zu sich zu nehmen. Am dritten Tag war er dann wieder halbwegs auf den Beinen. Unbeirrt griff er zur Schaufel und schippte noch mehr Sand zur Seite. Gegen Mittag drehte er das Autoradio auf und verkroch sich in den Schatten. Abends nahm er das erste Mal wieder eine warme Mahlzeit zu sich. Es gab braune Bohnen mit Reis. Er kippte das restliche Essen in den Sand, damit die Füchse auch etwas davon hatten. Probehalber warf er den Lkw an, der Motor lief. Die Starterbatterie war ganz neu, offensichtlich hatte sein Fahrlehrer den Lkw gut gepflegt. Wie viele Monate Gefängnis gab es wohl für Autodiebstahl, überlegte André laut und griff dann doch endlich zum Satellitentelefon, um nicht ständig mit sich selbst zu reden. Er wählte die Nummer eines Freundes.
„Hallo, hier ist Wolfgang.“
„Hallo, ich bins.“
„André! Wo zum Teufel steckst du?“
„In Ägypten.“
„Heiliger Bimbam, ich dachte schon, sie hätten dich eliminiert.“
„Mach dir keine Sorgen. Die Leute hier sind freundlich.“
„Keine Sorgen, du bist gut. Die Polizei sucht dich überall.“
„Ich werde nicht zurückkehren.“
„Ja, aber...“
„Ich habe einen Platz gefunden, der mir gefällt.“
„Sag mal, bist du jetzt völlig durchgeknallt? Weißt du überhaupt noch, mit wem du redest?“
„Das nehme ich stark an.“
„Dann meld dich bitte wieder, wenn dir noch zu helfen ist. Ich sehe jetzt keine Chance, das Gespräch vernünftig zu beenden.“
Sein Freund legte auf, und André war wieder allein, mit all der Technik, die sein Lastwagen enthielt, den Vorräten, der Ausrüstung. Mit einem Mal fühlte er sich schrecklich einsam und hielt die Tränen nicht zurück. Wie lange hatte er nicht geweint? Ein Jahr, zwei oder drei? Er wusste es nicht genau, heulte die halbe Nacht. In Anbetracht seiner Pläne ließ er noch einmal sein Leben Revue passieren.
Seine Kindheit, die Urlaube in Griechenland mit der ganzen Familie, die Schulzeit, in der er ein Außenseiter war. Die erste Verliebtheit in ein Mädchen aus seiner Klasse. Später das Abitur, der Zivildienst. Die Nächte mit Natascha in ihrer kleinen Studentenbude. Der Autounfall, als er bei Captieux über die Leitplanke donnerte. Die Nacht in dem verlassenen Bahnwärterhäuschen bei Lézignan, als ihm die Fledermäuse um die Ohren schwirrten und er furchtbar fror, nur in eine Alufolie eingewickelt. Der Pass am Sognefjord, den er auf dem Fahrrad erklomm. Die Sonntage bei Iris in Bordeaux und die Kletterübungen in den Calanques bei Cassis. Die Tage auf der Straße in Spanien und der erste Bruch in Holland, als er nachts im Schnee lag und erbärmlich fror. Die Prügel, die er von der Polizei kassierte. Die WG in Paris und das Nachtleben von Köln. Die Pyrenäen. Der schäbige Campingplatz in Madrid und die wilden Feten im Studentenwohnheim von Rodenkirchen. Die Nächte auf französischen Raststätten und die Dünen im Erg Chebbi in Marokko. Der Anblick seines sterbenden Vaters. Die Felder mit Lavendel und Sonnenblumen, die kleine Tochter des französischen Bauern, mit der er den ganzen Tag spielte. Die Vorlesungen an der Uni Köln. Die Landungsbrücken im Regen. Das verlassene Fort Rekeb in Tunesien. Die Flüchtlingslager der Sahrauis bei Tindouf. Die verpatzte Abiturrede und die Tage in der Psychiatrie. Die kleine Autowerkstatt, in der er das Schrauben lernte. Deutschlands Autobahnen im Nebel. Das Judotraining bei Bushido und die kleine Sporthalle an der Pädagogischen Hochschule. Das Funkhaus vom WDR, in dem er die Post verteilte. Seine Freunde, seine Feinde. Die Liebschaften.
André weinte, bis der Ärmel seines Hemdes ganz feucht war. An Schlaf war nicht zu denken. Er zündete die Gaslampe an und holte eine Flasche Wein aus seiner Vorratskiste. Wenn man ihn fragte, so war es ohnehin zweifelhaft, ob die Menschheit eine Zukunft hatte. Sein kleiner Tod spielte da gar keine Rolle. Der Himmel hing voller Bomben, eine Hölle brannte auf Erden. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass auch sein Grab keine Zukunft hatte, weil niemand da sein würde, der es entdecken könnte. Es war sein zweiter Anlauf, mit dem Leben Schluss zu machen. Vor drei Jahren hatte er eine Chartermaschine nach Gambia gebucht, mit dem festen Vorsatz, sich den wilden Tieren zum Fraß vorzuwerfen. Er fand tatsächlich einen unberührten Flusslauf mit wilden Krokodilen, doch diese waren so träge und vollgefressen, dass sie sich kein bisschen für ihn interessierten, so nah er ihnen auch auf den Pelz rückte. Er hatte noch ein verschwommenes Foto davon, wie er in seiner Safarikleidung am Fluss stand, im Hintergrund die müden Krokodile. Nachdem der Versuch gescheitert war und er sich ausgiebig von einer einheimischen Schönheit hatte trösten lassen, flog er mit der nächsten Maschine zurück nach Deutschland. Seitdem hatte er keinen weiteren Versuch unternommen, doch sein Projekt – das Jahrtausendgrab – hatte er akribisch vorbereitet. Zunächst hatte er überlegt, dass die täglichen Gebrauchsgegenstände aus dem 21. Jahrhundert in der Zukunft sicher von Interesse sein würden. Es war ein leichtes Unterfangen, den gesamten Hausrat in den MAN 16-Tonner zu verfrachten. Schwieriger wurde schon die Suche nach echten Kunstwerken und Vasen, die seinem Grab die besondere Note geben sollten. Also brach er in zwei Kunstgalerien ein und stahl alles, was nicht niet-und nagelfest war. Der dritte Einbruchdiebstahl fand im Atelier eines bekannten Goldschmiedes statt, den er neben diversen Edelsteinen und Schmuck auch um zwei schwere Goldbarren erleichterte. Es war nicht schwer, den Tresor zu öffnen, denn er war ein begnadeter Schlossknacker. Dennoch war er der Polizei nur um eine Nasenlänge voraus. Mit knapper Not schaffte er es über die Grenze, bevor der Lkw auf der Fahndungsliste stand. Die Fahrzeugpapiere zu fälschen, war auch nicht einfach. Er bestach einen Buchbinder, um das geeignete Papier zu erhalten. Da er nicht viel Zeit zur Verfügung hatte, arbeitete er mit einem Scanner und einem Farbdrucker, um den Fahrzeugschein zu präparieren. Das Ergebnis war fragwürdig, aber zum Glück interessierte sich niemand groß für seine Papiere, als er in Alexandria von der Autofähre rollte. Die kriminelle Energie, die er in sein Unternehmen steckte, bestärkte ihn nur in seinem Vorhaben. Für ihn gab es nur zwei Wege: Zurück in die Heimat, um einige Jahre einzusitzen, oder seine Schatzgrube fertigzustellen und in einsamer Entrücktheit in das Nirvana einzugehen.
Er trank einen Schluck Wein und zündete sich eine Zigarette an. Hieß es nicht im Koran: „Siehe, diejenigen welche glauben und das Rechte tun, leiten wird sie ihr Herr um ihres Glaubens willen. Eilen werden unter ihnen Bäche in Gärten der Wonne.“ André war kein sehr gläubiger Mensch, aber hier draußen in der gespenstischen Stille gewannen die Worte eine andere Dimension. Er rauchte eine Kippe nach der anderen und stellte plötzlich fest, dass es die letze Packung war. Nur das leise Surren der Gaslampe war zu vernehmen. Ein Skorpion durchquerte den Lichtkreis der Lampe. Seine Spuren blieben im Sand zurück. André blickte auf und stellte fest, dass es schon dämmerte. Er beschloss, in die nahegelegene Oase zu fahren, die Wasservorräte aufzufüllen und zwei Stangen Zigaretten zu kaufen. Im Licht der Dämmerung kochte er eine Kanne Kaffee, aß den letzten Rest Brot. Dazu gab es Ölsardinen und Tomatenmark. In den frühen Morgenstunden war es angenehm kühl. Er begutachtete seine Grube und war zufrieden, wiewohl der Sonnenstich ihn weit zurückgeworfen hatte. Er trank den Kaffee aus, räumte seinen Lagerplatz auf und warf den Motor an. Mit Hilfe des GPS-Gerätes würde er den Standort leicht wiederfinden.
Er fuhr im Zickzack durch die bizarren Kalkformationen der Weißen Wüste. Bald hatte er die Straße erreicht. Eine Sandverwehung zwang ihm äußerste Konzentration ab. Er war froh, dass er den Hänger stehen gelassen hatte und nur mit der Zugmaschine unterwegs war. Mit etwas Anlauf erreichte er wieder festen Untergrund. Auf halber Strecke gab es eine kleine Quelle, an der er die Wasserkanister auffüllte. Von hier aus war es nicht mehr weit bis nach Bahariya. Am frühen Morgen erreichte er die Oase. In einem Millionen-Store erstand er frisches Brot, einen Kasten Birell und die ersehnten Zigaretten. Die Schlepper des Ortes waren auch schon wach und umringten ihn lärmend. „My friend, come to El Beshmo Lodge. Would you like to visit my garden? Come, have a cup of coffee.“
André lachte und war froh, endlich wieder ein paar Worte reden zu können. Er parkte die Zugmaschine am Straßenrand und setzte sich in das nächste Café, um Postkarten zu schreiben und einen Minztee zu trinken. Zufrieden stellte er fest, dass weit und breit keine Polizei in Sicht war. Einer der Schlepper war besonders hartnäckig, und sie wechselten einige Worte. Er hieß Nuri, hatte gerade seinen Dienst bei der Armee geleistet und lebte nun von den Gaben der wenigen Touristen, die sich hierher verirrten. André hatte Zeit und ließ sich auf ein Gespräch ein. Nuri wollte ihm gerne die Gegend zeigen, aber André deutete auf sein Fahrzeug auf der anderen Straßenseite und erklärte, er käme schon allein zurecht. Dennoch folgte er dem Ägypter, der ihm sein Heim zeigte und ihn seiner Familie vorstellte. Der Vater war freundlich und zurückhaltend, doch der kleine Bruder bestand hartnäckig darauf, ihm zu erklären, „I love you.“ André wusste nicht so recht, wie er das zu interpretieren hatte. War der Kleine homosexuell, oder wollte er sich nur ein paar Pfund verdienen? Es war ein hübscher kleiner Bursche, aber er dachte nicht im Entferntesten daran, auf das Angebot einzugehen. Also ließ er sich noch einige Fotos zeigen und verschwand dann unter dem Vorwand, weitere Einkäufe erledigen zu müssen. Langsam kam die Hitze des Tages wieder auf. André beschleunigte seine Schritte. Hier war der kleine Laden, dort war eine Quelle und gegenüber ein Hotel. Er kam zu dem Café, in dem er gesessen hatte, und blickte ungläubig zur anderen Straßenseite. Der Lkw war weg.
© 2004 by Marcel Sommerick
Erstes Kapitel
Das Schlimmste waren die Fliegen. Er hatte mit Durst und Hitze gerechnet, mit Muskelkrämpfen und Durchfall. Aber dass er mitten in der Wüste auf Fliegen treffen würde, die sich einen Spaß daraus machten, seinen Schweiß aufzusaugen und ihn den ganzen Tag zu umschwirren, erschien paradox. Die afrikanischen Fliegen waren ungleich aggressiver als ihre europäischen Artgenossen und schienen darauf programmiert zu sein, den Menschen das Leben zur Qual zu machen.
Hier in der Weißen Wüste Ägyptens gab es sonst kaum Leben. Am Vortag hatte er die Spuren einer Gazelle gesichtet, und jeden Abend beobachtete er, wie zwei Wüstenfüchse in seinen Abfällen nach Essbarem wühlten. Aber er hatte sich weit von der Hauptroute entfernt und in den drei Tagen, die er nun hier war, hatte er keinen einzigen Landcruiser gesichtet, keine Touristen und auch kein Militär. Nachts funkelten die Sterne über seinem Lager, und tagsüber brannte die sengende Sonne vom Himmel, so dass er sich in den Mittagsstunden in den Schatten des Camions flüchtete und bei einem Glas Minztee abwartete, bis die größte Hitze vorbei war.
André hatte damit begonnen, die Grube auszuheben. Ein Spaten gehörte in das Gepäck jedes Wüstenreisenden, und es kam vor, dass jemand in echter Verzweiflung oder aus Sportsgeist nach Wasser grub. Gang und gäbe war es auch, zu der Schaufel zu greifen, wenn das Auto eingesandet war. Aber dass jemand ein zwölf Meter langes und vier Meter tiefes Erdloch anlegte, war nicht an der Tagesordnung. Selbst in der Abgeschiedenheit der Weißen Wüste war sein Vorhaben ein Rennen gegen die Zeit. André musste jeden Tag damit rechnen, dass sein Plan endgültig scheiterte.
Er bereite sich auf den perfekten Abgang vor.
Manche Leute stecken viel Geld in ihr Begräbnis, lassen sich einen pompösen Grabstein setzen und investieren ihr Erbe in eine Stiftung. André hatte nichts dergleichen im Sinn, denn er hatte kein Geld und nur wenige Freunde. Er war nur hier, weil er in zwei Monaten die Geldautomaten von ganz Südeuropa mit seiner Scheckkarte geplündert hatte. Den Lkw hatte er von seiner Fahrschule gestohlen und die Papiere gefälscht. In einer Nacht- und Nebelaktion war er von zu Hause ausgerückt. Drei Brüche hatte er gemacht, um seine Fracht zu komplettieren, und so enthielt der Laderaum neben seinem Hausrat und der Expeditionsausrüstung alles, was ihm für sein Jahrtausend lieb und wichtig erschien.
Sein Grab sollte etwas Besonderes werden, nicht eines von diesen schäbigen Erdlöchern, in denen die Einheimischen ihre Toten verscharrten. Wenn man André fragte, war es immer noch besser, unter Palmen im Süden begraben zu werden als daheim auf dem Kölner Melatenfriedhof. Aber er hatte sich diese Abgeschiedenheit der westlichen Wüste Ägyptens ausgesucht, um mit seinem Suizid ein Zeichen zu setzen für das Leben in der fernen Zukunft. Niemand wusste, was einst geschehen könnte und ob die Menschheit das nächste Jahrtausend überhaupt erleben würde. Aber André Becker hatte sich vorgenommen, Nägel mit Köpfen zu machen. Sein Grab sollte ein Zeugnis seiner Zeit abgeben und künftige Archäologen in Freudentaumel versetzen. Er plante nichts Geringeres als eine geschichtliche Sensation: Das Jahrtausendgrab.
Verbissen grub André weiter. Es war sein Schicksal, um die Jahrtausendwende zu leben, aber niemand sollte sagen, dass schon alle Würfel gefallen waren. Er hätte auch ganz einfach den Benzinschlauch seines Fahrzeuges durchschneiden können, den Sprit und die Wasservorräte in den Sand kippen können. Wahrscheinlich wäre er dann qualvoll verdurstet. Doch er wollte sich das Ableben nicht zu einfach machen, nicht aus Schwäche den einfachsten Weg wählen. Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich einsam gefühlt. Seine Kindheit war dornig, in der Jugend war er ein extremer Außenseiter, und auch die Adoleszenz brachte keine einschneidenden Veränderungen. Er studierte mit mäßigem Erfolg, jobbte nebenher in einer Spedition und machte schließlich den Lkw-Führerschein, um hauptberuflich Brummis zu fahren. So hätte er sich eine geregelte Existenz aufbauen können, mit Wohnung im Kölner Norden und Job, um schließlich zu heiraten und eine Familie aufzubauen. Manchmal geht das Leben seltsame Wege, dachte er und sprach die Gedanken laut aus, „... und nichts steht geschrieben.“
Er stutzte, legte den Spaten beiseite und lauschte. In der Stille der Wüste hätte er schwören können, eine menschliche Stimme zu vernehmen. Er schüttelte den Kopf, schaute nach allen Richtungen. Eine Halluzination. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte sich in den Schatten, um eine Kanne Kaffee zu kochen. Vorräte führte er im Überfluss mit sich, und wenn es drei Wochen dauern sollte, die Grube auszuheben, er war für alle Eventualitäten gerüstet. Sogar ein Satellitentelefon führte er mit sich, seine letzte Verbindung zur Zivilisation, und solange niemand sein Versteck entdeckte, konnte er seine Pläne unbeirrt zu Ende bringen. Er trank den Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Es war sengend heiß. Er hatte vergessen, sich eine Mütze aufzusetzen. Eine psychische Aberration hätte seine Pläne durchkreuzt. Doch momentan sah es eher nach einem Sonnenstich aus. Er kippte den Rest Kaffee aus der Tasse und kletterte auf die Ladefläche, um ein kaltes Bier aus der Kühlbox zu holen. Es war eine kleine grüne Flasche mit der Aufschrift „Birell“, alkoholfreies Bier. In Bahariya hatte er die letzten Vorräte eingekauft, nur die Zigaretten wurden langsam knapp. Er trank das Bier und legte sich in den Schatten. Sein Kopf war heiß, und um die Stirn zu kühlen, wand er sich ein feuchtes Handtuch um den Schädel. Es herrschte die absolute, totale Stille. Kein Auto, kein Menschenlärm, selbst der Wind war eingeschlafen. Nur zwei Fliegen summten um sein Gesicht, bis er sich aufrichtete und beide zerklatschte, um seinen Frieden zu haben. Er dachte an das Satellitentelefon, doch noch war die Wüste sein Freund, und er wollte das karge Idyll nicht zerstören. Er hatte einige Zarges-Kisten in dem Schatten abgeladen und holte eine Packung Kekse hervor, die er mit einer Handvoll Datteln zusammen verspeiste. Das Blut pochte im Schädel. Ein Pillendreher kam über den Sand gehuscht und verschwand unter der Luftmatratze. Seit vier Tagen hatte er mit keinem Menschen gesprochen. Er ging davon aus, dass in der Heimat schon lange nach ihm gefahndet wurde. Der Rückzug war versperrt. In Ägypten schien sich die Polizei nicht für ihn zu interessieren, das lag wohl hauptsächlich daran, dass er genügend Geld mit sich führte und einen vernünftigen Eindruck machte. An der Grenze hatte er den Zollbeamten erklärt, er führe die Habseligkeiten eines wohlhabenden Einheimischen mit sich, der von Deutschland zurückgekehrt sei und ihn in Luxor erwarte. Es war nicht anders als an jeder x-beliebigen Grenze, die er bisher mit dem Brummi überquert hatte. Solange man alles bezahlen konnte, gab es keine Schwierigkeiten. Also verteilte er großzügig einen Bakschisch nach dem anderen. Wiewohl alles glatt lief, konnte er sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die Ägypter Schlitzohren waren. Sie schienen genau zu wissen, wieviel sie bei ihm abstauben konnten. Aber eigentlich mochte er die Schlepper und Geschäftemacher gerne, denn sie wurden nicht müde, ihm immer wieder zu versichern, „welcome to Egypt“.
Die Hitze flirrte über der Wüste. Es war die heißeste Zeit des Tages, die man nur im Schatten ertragen konnte. André wand sich ein feuchtes Handtuch um den Kopf, übergab sich in einiger Entfernung von dem Lkw. Er hatte sich tatsächlich einen Sonnenstich eingefangen. Sein Schädel war glühend heiß, und ihm war todschlecht. Er brühte sich eine Tasse Tee auf, die er anschließend gleich wieder von sich gab. Sein Magen rebellierte, er war wacklig auf den Beinen. Das Weitergraben kam nicht in Frage. Er krümmte sich auf der Luftmatratze zusammen und erbrach sich in regelmäßigen Abständen. Am Abend gelang es ihm zum Glück wieder, etwas Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Er schlich um das Satellitentelefon herum. Was wäre einfacher gewesen, als diesen ganzen Wahnsinn zu vergessen und reuig heimzukehren. Er wählte eine Nummer, doch kaum hielt er den Hörer in der Hand, mußte er schon wieder brechen. Es war die Hölle.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf, wälzte sich fiebrig auf seinem Lager und nahm auch die beiden Feneks nicht wahr, die an seinen Abfällen schnupperten. Die beiden folgenden Tage waren auch nicht besser. Zum Glück gelang es ihm, wieder etwas Tee zu sich zu nehmen. Am dritten Tag war er dann wieder halbwegs auf den Beinen. Unbeirrt griff er zur Schaufel und schippte noch mehr Sand zur Seite. Gegen Mittag drehte er das Autoradio auf und verkroch sich in den Schatten. Abends nahm er das erste Mal wieder eine warme Mahlzeit zu sich. Es gab braune Bohnen mit Reis. Er kippte das restliche Essen in den Sand, damit die Füchse auch etwas davon hatten. Probehalber warf er den Lkw an, der Motor lief. Die Starterbatterie war ganz neu, offensichtlich hatte sein Fahrlehrer den Lkw gut gepflegt. Wie viele Monate Gefängnis gab es wohl für Autodiebstahl, überlegte André laut und griff dann doch endlich zum Satellitentelefon, um nicht ständig mit sich selbst zu reden. Er wählte die Nummer eines Freundes.
„Hallo, hier ist Wolfgang.“
„Hallo, ich bins.“
„André! Wo zum Teufel steckst du?“
„In Ägypten.“
„Heiliger Bimbam, ich dachte schon, sie hätten dich eliminiert.“
„Mach dir keine Sorgen. Die Leute hier sind freundlich.“
„Keine Sorgen, du bist gut. Die Polizei sucht dich überall.“
„Ich werde nicht zurückkehren.“
„Ja, aber...“
„Ich habe einen Platz gefunden, der mir gefällt.“
„Sag mal, bist du jetzt völlig durchgeknallt? Weißt du überhaupt noch, mit wem du redest?“
„Das nehme ich stark an.“
„Dann meld dich bitte wieder, wenn dir noch zu helfen ist. Ich sehe jetzt keine Chance, das Gespräch vernünftig zu beenden.“
Sein Freund legte auf, und André war wieder allein, mit all der Technik, die sein Lastwagen enthielt, den Vorräten, der Ausrüstung. Mit einem Mal fühlte er sich schrecklich einsam und hielt die Tränen nicht zurück. Wie lange hatte er nicht geweint? Ein Jahr, zwei oder drei? Er wusste es nicht genau, heulte die halbe Nacht. In Anbetracht seiner Pläne ließ er noch einmal sein Leben Revue passieren.
Seine Kindheit, die Urlaube in Griechenland mit der ganzen Familie, die Schulzeit, in der er ein Außenseiter war. Die erste Verliebtheit in ein Mädchen aus seiner Klasse. Später das Abitur, der Zivildienst. Die Nächte mit Natascha in ihrer kleinen Studentenbude. Der Autounfall, als er bei Captieux über die Leitplanke donnerte. Die Nacht in dem verlassenen Bahnwärterhäuschen bei Lézignan, als ihm die Fledermäuse um die Ohren schwirrten und er furchtbar fror, nur in eine Alufolie eingewickelt. Der Pass am Sognefjord, den er auf dem Fahrrad erklomm. Die Sonntage bei Iris in Bordeaux und die Kletterübungen in den Calanques bei Cassis. Die Tage auf der Straße in Spanien und der erste Bruch in Holland, als er nachts im Schnee lag und erbärmlich fror. Die Prügel, die er von der Polizei kassierte. Die WG in Paris und das Nachtleben von Köln. Die Pyrenäen. Der schäbige Campingplatz in Madrid und die wilden Feten im Studentenwohnheim von Rodenkirchen. Die Nächte auf französischen Raststätten und die Dünen im Erg Chebbi in Marokko. Der Anblick seines sterbenden Vaters. Die Felder mit Lavendel und Sonnenblumen, die kleine Tochter des französischen Bauern, mit der er den ganzen Tag spielte. Die Vorlesungen an der Uni Köln. Die Landungsbrücken im Regen. Das verlassene Fort Rekeb in Tunesien. Die Flüchtlingslager der Sahrauis bei Tindouf. Die verpatzte Abiturrede und die Tage in der Psychiatrie. Die kleine Autowerkstatt, in der er das Schrauben lernte. Deutschlands Autobahnen im Nebel. Das Judotraining bei Bushido und die kleine Sporthalle an der Pädagogischen Hochschule. Das Funkhaus vom WDR, in dem er die Post verteilte. Seine Freunde, seine Feinde. Die Liebschaften.
André weinte, bis der Ärmel seines Hemdes ganz feucht war. An Schlaf war nicht zu denken. Er zündete die Gaslampe an und holte eine Flasche Wein aus seiner Vorratskiste. Wenn man ihn fragte, so war es ohnehin zweifelhaft, ob die Menschheit eine Zukunft hatte. Sein kleiner Tod spielte da gar keine Rolle. Der Himmel hing voller Bomben, eine Hölle brannte auf Erden. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass auch sein Grab keine Zukunft hatte, weil niemand da sein würde, der es entdecken könnte. Es war sein zweiter Anlauf, mit dem Leben Schluss zu machen. Vor drei Jahren hatte er eine Chartermaschine nach Gambia gebucht, mit dem festen Vorsatz, sich den wilden Tieren zum Fraß vorzuwerfen. Er fand tatsächlich einen unberührten Flusslauf mit wilden Krokodilen, doch diese waren so träge und vollgefressen, dass sie sich kein bisschen für ihn interessierten, so nah er ihnen auch auf den Pelz rückte. Er hatte noch ein verschwommenes Foto davon, wie er in seiner Safarikleidung am Fluss stand, im Hintergrund die müden Krokodile. Nachdem der Versuch gescheitert war und er sich ausgiebig von einer einheimischen Schönheit hatte trösten lassen, flog er mit der nächsten Maschine zurück nach Deutschland. Seitdem hatte er keinen weiteren Versuch unternommen, doch sein Projekt – das Jahrtausendgrab – hatte er akribisch vorbereitet. Zunächst hatte er überlegt, dass die täglichen Gebrauchsgegenstände aus dem 21. Jahrhundert in der Zukunft sicher von Interesse sein würden. Es war ein leichtes Unterfangen, den gesamten Hausrat in den MAN 16-Tonner zu verfrachten. Schwieriger wurde schon die Suche nach echten Kunstwerken und Vasen, die seinem Grab die besondere Note geben sollten. Also brach er in zwei Kunstgalerien ein und stahl alles, was nicht niet-und nagelfest war. Der dritte Einbruchdiebstahl fand im Atelier eines bekannten Goldschmiedes statt, den er neben diversen Edelsteinen und Schmuck auch um zwei schwere Goldbarren erleichterte. Es war nicht schwer, den Tresor zu öffnen, denn er war ein begnadeter Schlossknacker. Dennoch war er der Polizei nur um eine Nasenlänge voraus. Mit knapper Not schaffte er es über die Grenze, bevor der Lkw auf der Fahndungsliste stand. Die Fahrzeugpapiere zu fälschen, war auch nicht einfach. Er bestach einen Buchbinder, um das geeignete Papier zu erhalten. Da er nicht viel Zeit zur Verfügung hatte, arbeitete er mit einem Scanner und einem Farbdrucker, um den Fahrzeugschein zu präparieren. Das Ergebnis war fragwürdig, aber zum Glück interessierte sich niemand groß für seine Papiere, als er in Alexandria von der Autofähre rollte. Die kriminelle Energie, die er in sein Unternehmen steckte, bestärkte ihn nur in seinem Vorhaben. Für ihn gab es nur zwei Wege: Zurück in die Heimat, um einige Jahre einzusitzen, oder seine Schatzgrube fertigzustellen und in einsamer Entrücktheit in das Nirvana einzugehen.
Er trank einen Schluck Wein und zündete sich eine Zigarette an. Hieß es nicht im Koran: „Siehe, diejenigen welche glauben und das Rechte tun, leiten wird sie ihr Herr um ihres Glaubens willen. Eilen werden unter ihnen Bäche in Gärten der Wonne.“ André war kein sehr gläubiger Mensch, aber hier draußen in der gespenstischen Stille gewannen die Worte eine andere Dimension. Er rauchte eine Kippe nach der anderen und stellte plötzlich fest, dass es die letze Packung war. Nur das leise Surren der Gaslampe war zu vernehmen. Ein Skorpion durchquerte den Lichtkreis der Lampe. Seine Spuren blieben im Sand zurück. André blickte auf und stellte fest, dass es schon dämmerte. Er beschloss, in die nahegelegene Oase zu fahren, die Wasservorräte aufzufüllen und zwei Stangen Zigaretten zu kaufen. Im Licht der Dämmerung kochte er eine Kanne Kaffee, aß den letzten Rest Brot. Dazu gab es Ölsardinen und Tomatenmark. In den frühen Morgenstunden war es angenehm kühl. Er begutachtete seine Grube und war zufrieden, wiewohl der Sonnenstich ihn weit zurückgeworfen hatte. Er trank den Kaffee aus, räumte seinen Lagerplatz auf und warf den Motor an. Mit Hilfe des GPS-Gerätes würde er den Standort leicht wiederfinden.
Er fuhr im Zickzack durch die bizarren Kalkformationen der Weißen Wüste. Bald hatte er die Straße erreicht. Eine Sandverwehung zwang ihm äußerste Konzentration ab. Er war froh, dass er den Hänger stehen gelassen hatte und nur mit der Zugmaschine unterwegs war. Mit etwas Anlauf erreichte er wieder festen Untergrund. Auf halber Strecke gab es eine kleine Quelle, an der er die Wasserkanister auffüllte. Von hier aus war es nicht mehr weit bis nach Bahariya. Am frühen Morgen erreichte er die Oase. In einem Millionen-Store erstand er frisches Brot, einen Kasten Birell und die ersehnten Zigaretten. Die Schlepper des Ortes waren auch schon wach und umringten ihn lärmend. „My friend, come to El Beshmo Lodge. Would you like to visit my garden? Come, have a cup of coffee.“
André lachte und war froh, endlich wieder ein paar Worte reden zu können. Er parkte die Zugmaschine am Straßenrand und setzte sich in das nächste Café, um Postkarten zu schreiben und einen Minztee zu trinken. Zufrieden stellte er fest, dass weit und breit keine Polizei in Sicht war. Einer der Schlepper war besonders hartnäckig, und sie wechselten einige Worte. Er hieß Nuri, hatte gerade seinen Dienst bei der Armee geleistet und lebte nun von den Gaben der wenigen Touristen, die sich hierher verirrten. André hatte Zeit und ließ sich auf ein Gespräch ein. Nuri wollte ihm gerne die Gegend zeigen, aber André deutete auf sein Fahrzeug auf der anderen Straßenseite und erklärte, er käme schon allein zurecht. Dennoch folgte er dem Ägypter, der ihm sein Heim zeigte und ihn seiner Familie vorstellte. Der Vater war freundlich und zurückhaltend, doch der kleine Bruder bestand hartnäckig darauf, ihm zu erklären, „I love you.“ André wusste nicht so recht, wie er das zu interpretieren hatte. War der Kleine homosexuell, oder wollte er sich nur ein paar Pfund verdienen? Es war ein hübscher kleiner Bursche, aber er dachte nicht im Entferntesten daran, auf das Angebot einzugehen. Also ließ er sich noch einige Fotos zeigen und verschwand dann unter dem Vorwand, weitere Einkäufe erledigen zu müssen. Langsam kam die Hitze des Tages wieder auf. André beschleunigte seine Schritte. Hier war der kleine Laden, dort war eine Quelle und gegenüber ein Hotel. Er kam zu dem Café, in dem er gesessen hatte, und blickte ungläubig zur anderen Straßenseite. Der Lkw war weg.
© 2004 by Marcel Sommerick