Das Kann-Komma beim erweiterten Infinitiv mit zu

jon

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Kom(m)atös
Das Kann-Komma beim erweiterten Infinitiv mit zu


Kommas werden von vielen als lästige Kleinigkeiten angesehen. Die „Fachleute“ ließen sich bei der Reform der amtlichen Regeln zur deutschen Rechtschreibung davon ins Bockshorn jagen und platzierten eine der diversen Verschlimmbesserungen auch in diesem Bereich. Konkret: Sie ersetzten die Regel, dass der erweiterte Infinitiv mit zu (eImz) immer mit Komma abzutrennen ist (Ausnahme 1: Der eImz ist mit dem Hauptsatz verschränkt oder steht innerhalb der verbalen Klammer. Ausnahme 2: Der eImzu folgt auf Hilfsverben oder „brauchen“, „pflegen“ und „scheinen“.), durch die Regel, dass der eImz durch Komma abgetrennt werden kann, wenn es dienlich ist (Ausnahme 1: Der wird eImz eingeleitet durch „als“, „anstatt“, „ohne“, „statt“, „um“. Ausnahme 2: der eImz hängt von einem Substantiv ab. Ausnahme 3: Er wird mit einem hinweisenden Wort angekündigt oder wieder aufgenommen. Ausnahme 4: Der eImz ist mit dem Hauptsatz verschränkt, schließt den übergeordneten Satz ein oder steht innerhalb der verbalen Klammer. Ausnahme 5: Der eImzu folgt auf Hilfsverben oder „brauchen“, „pflegen“ und „scheinen“. Die Ausnahmen 1 bis 3 machen aus „Komma kann“ ein „Komma muss“, Ausnahmen 4 und 5 machen aus „Komma kann“ ein „Komma darf nicht“).

Nochmal zusammengefasst: Aus einer Regel mit 2 Ausnahmen (bei denen man sich u. a. 3 konkrete Worte merken muss), die beide aus „muss“ „darf nicht“ machen, wurde eine Regel mit 5 Ausnahmen (bei denen man sich u. a. 8 konkrete Worte merken muss), von denen einige die Regel „kann“ in die eine Richtung („muss“) und andere in die andere Richtung („darf nicht“) brechen. Das völlig irre dabei: Die neue Regel ist nicht nur umständlicher zu lernen, sie kollidiert noch nicht mal mit der alte Regel – wenn man diese alte Regel verinnerlicht, wird man der neuen ganz nebenbei auch gerecht. Das heißt: Mehr Lernaufwand für den praktisch selben formalen Effekt.

So viel zum „organisatorischen“ Unsinn.

Für das Texten bedeutet die aktuelle Regel Unsicherheiten. Wenn das Komma nur gesetzt zu werden braucht, wenn dadurch Missverständnisse ausgeschlossen werden, dann muss jeder Autor jeden betreffenden Satz sorgsam daraufhin abklopfen, ob er ohne Komma missverstanden werden könnte. Wer Schriftsprache ernst nimmt, kann sich dabei nicht darauf verlassen, dass „man es schon – zumal im betreffenden Kontext – versteht“. Wenn Milka also am Ende seiner Werbespots schreibt „Trau dich zart zu sein.“ dann geht die Firma das Risiko ein, dass jemand „Trau dich zart, zu sein.“ liest – ein semantisch durchaus sinnvoller Text.

Für Texte bedeutet das Weglassen von Kommas außerdem auch den Verzicht auf ein extrem einfach extrem wirkungsvoll Rhythmus erzeugendes Schriftelement. Kommas sind beim Lesen immer „Pausenzeichen“ und sie markieren Betonungen (und damit auch Sinnzusammenhänge). Wenn man sie weglässt, muss der Leser Pausen und Betonung selbst finden und wird dabei unter Umständen an der Intension des Autors „vorbeilesen“.

In der Summe hat die neue Regel, die eigentlich die Rechtschreibung vereinfachen sollte, einen höheren Lernaufwand, einen höheren Schreibaufwand und einen höheren Leseaufwand – alles bei gleichzeitig steigendem Missverständnisrisiko – zur Folge. Was für eine katastrophale Bilanz!


Fazit: Es ist für (Prosa-)Autoren äußerst sinnvoll, sich an die alte Regel zu halten – es schreibt sich leichter, die Texte werden exakter verstehbar und klingen besser und man macht noch nichtmal einen Fehler bezüglich der aktuellen amtlichen Regel.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Liebe Ulrike,

als bekennender Kommaschwächler habe ich diesen, deinen Text mit großem Interesse gelesen und daraus gelernt, dass nicht nur ich das Problem bin, sondern vor allem auch Fachleute in schlauen Kommissionen ganz maßgeblich an meiner Orientierungslosigkeit mitgewirkt haben.

Oftmals habe ich das Problem, dass ich bei einer grammatikalischen Beurteilung von Texten sehr großzügig über fragwürdige Satztrennungen hinwegsehe und mit Erstaunen bei manchen Autoren Kommas entdecke, die ich so niemals gesetzt hätte. Dann kommt wie immer meine interne und hochgeistige Beschäftigung mit der Frage: „Mit oder Ohne?“, was meistens zu der Erkenntnis führt: „Macht irgendwie beides Sinn“.

Jetzt weiß ich, dass es Regeln für fast alle Fälle gibt, über deren Sinn oder Unsinn aber gestritten werden kann.

Ermutigt durch dein Fazit, dass Kommas in allererster Linie das Textverständnis zu fördern und Sätze im Sinn des Autors zu strukturieren haben, werde ich meine kleine Satzzeichenphobie jetzt mehr als Laune der Natur betrachten.

Es grüßt der Ironbiber
 

jon

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Kommaphobie ist eine der häufigsten "Krankheiten" und trat – wie die Groß-Klein-Schwäche oder das Zusammen-Getrennt-Syndrom – wohl schon immer auf. :)
Um so ärgerlicher ist es, dass man da amtlicherseits eher Erschwernisse schuf, statt Erleichterungen zu bieten. Das fröhliche Kann-man-so-oder-so-Machen der Reform hat (nicht nur bei den Kommas) eher Unsicherheiten verfestigt und die Funktionalität der (Schrift-)Sprache beeinträchtigt. Aber das scheint ja in vielen Bereichen modern zu sein …
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es gibt eine wichtige zusätzliche Ausnahme, die erlaubt, das Komma immer beim erweiterten Infinitiv mit "zu" zu setzen, die zugleich empfielt, es auch beim einfachen Infinitiv mit zu zu setzen.
Es wird gesetzt, um die Satzstruktur zu verdeutlichen und Missverständnisse zu vermeiden.
Das gute daran ist, dass man es jetzt auch beim einfachen Infinitiv setzen kann, wenn Mehrdeutigkeiten damit vermieden werden, empfiehlt es sich.
(sinngebendes Komma).
Damit können auch inhaltliche Gegebenheiten beachtet werden.
 

jon

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Das ist keine "zusätzliche Ausnahme", das ist das, was ich mit "dienlich" meinte und was den Kern der neuen Regel ausmacht (nämlich erklärt, warum man diese Kann-Möglichkeit überhaupt einräumt).

Ich glaube, die Möglichkeit, zu Deutlichkeitszwecken das Komma auch beim einfachen Infinitiv mit zu zu setzen, gab es vorher auch schon.


Dass man das Komma setzen darf, um etwas zu verdeutlichen, ist nicht das Problem, sondern dass man es weglassen darf. Die allerallerallerallermeisten Leute, die sich nicht mit Sprache befassen bzw. sie als Werkzeug nutzen, verstehen überhaupt nicht, was "Struktur verdeutlichen" in der Praxis heißt, weil sie denken, es wäre entscheidend, was sie meinen bzw. wie sie etwas beim Sprechen betonen. Dummerweise besteht diese Wissenslücke aber auch bei erschreckend vielen Leuten, die sich mit Sprache beschäftigen bzw. beschäftigen sollten, weil sie sie als Werkzeug benutzen.

Um Kann-Regeln qualifiziert zu nutzen, muss man qualifiziert sein. Und sich im Alltag auf deutsch zu verständigen, ist keine ausreichende Qualifikation für diese Sache. Das ist normal, nur in der gegenwärtigen Ausprägung bedauerlich wenn nicht gar bedenklich.
Und natürlich gibt man das ungern zu, so wie man ungern zugibt, weniger intelligent zu sein, als für manche (Alltags)Sache eigentlich nötig wäre, oder psychisch weniger leistungsfähig. (Von den Extremfällen mal abgesehen: Ein Legastheniker kann seine Buchstaben-Schwäche so wenig leugnen wie jemand, der wegen einer Depression "ausfällt", weiterhin so tun kann, als sei er mental topfit.)
All den Leuten, die sowieso nicht "verstehen", wozu Kommas & Co. (oder Rechtschreibung) überhaupt "gut ist", aufzubürden, ausgerechnet zu verstehen, was "Strukturen im Satz" sind oder gar, ob und wie man sie kenntlich machen muss, war ein Bärendienst an der deutschen Sprache.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Für mich bedeutet die Revision, dass ich die Kommas nach den alten Regeln setzen kann, ohne Fehler zu machen.

Wenn man Kommas (außerhalb der Lyrik und ohne stilistischen Zweck) weglässt, dann erschwert man die Verständlichkeit oder macht es in einigen Fällen unmöglich, den Satz zu verstehen.
 

jon

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Teammitglied
Da ist ja ein Teil des Paradoxons: Wenn man sich an die alte, einfachere Regel hält, bekommt mit der neuen kein Problem und verschlechtert den Text nicht. Wenn man sich an die neue, viel kompliziertere Regel hält, kann es aber sehr leicht passieren, dass der Text schlechter wird. Also wer clever ist, lernt und verwendet die alte Regel und hat einen doppelten Vorteil.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Du hast völlig recht, Jon.
Nur: Es wird einfacher für den Leser. Das aber ist vielen Schreibern völlig wurscht. In der Rechtschreibkomission war das erklärte Ziel, die Rechtschreibung für den Schreiber zu vereinfachen - ohne Rücksicht auf Leser und ihre Gewohnheiten - und ohne Rücksicht auf grammatische Regeln.

Eine völlige Konsistenz lässt sich bei einander widersprechenden Eigenschaften nie erreichen.

Das Schreiben wurde einfach - das Lesen zum Teil unmöglich. Deshalb wohl die Kurve zurück 2006.
 

jon

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Teammitglied
"Nur: Es wird einfacher für den Leser."
… die alte, die Vor-Reform-Regel! Für die plädiere ich ja.
Sie ist aber auch für den Schreiber einfacher, weil es schlichtweg viel, viel weniger Ausnahmen gibt und die auch noch alle in eine Richtung gehen. Die Idee, Kommas nicht mehr vorzuschreiben und damit all die zu "entlasten", die das (an sich einfache) Konstrukt "erweiterter Infinitiv mit zu" nicht erkennen, wird konterkariert durch den Zwang, die Konstruktion doch zu erkennen und auf die vielen Ausnahmen hin durchzuchecken.

… und bei all dem reden wir noch nicht mal von der (mir völlig unverständlichen) Angewohnheit vieler, bei eImz mitten im Satz zwar das Komma vor dem eImz zu setzen aber nicht das danach.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wir verlernen halt, Strukturen zu erkennen.
Das wird mehr und mehr gefördert.

Die Entwicklung ging halt immer so, dass Strukturen vereinfacht werden, bis sie nicht mehr verständlich sind, dann kommen neue Strukturen dazu.
Außer Komma haben wir ja auch andere Klammermöglichkeiten im Satz, wie zum Beispiel Verbklammern, die ebenfalls das Lesen vereinfachen, aber auf die in technischen Dokumentationen verzichtet werden soll, weil sie Übersetzbarkeit behindern.

Die schönen langen Satzstrukturen, die noch Wilhelm Förster verwendet hat, sind fast dahingeschwunden.
Sätze sollen 7 Wörter haben, damit das Volk sie versteht. Und das entwickelt sich.

Bei sehr kurzen Sätzen sind nur bedeutungsunterscheidende Kommas wirklich wichtig.

PS:
Durch die komplexen neuen Kommaregeln vereinfacht es sich. Setze das Komma beim erweiterten Infinitiv mit "zu" immer, und beim einfachen, wenn sonst Mehrdeutigkeit entsteht.
 



 
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