Heute hat mein Vater dreimal das Wort an mich gerichtet. Das erste Mal in mein nach dem langen Fußmarsch verschwitztes und gerötetes Gesicht hinein: Du bist aber auch zu einer unmöglichen Tageszeit los gelaufen. Das zweite Mal: Wenn du wieder zum Arzt gehst, lass dir eine Salbe verschreiben. Wofür, frage ich. Für den Rücken; du hast dir da schon so einen Gang angeeignet. Beim dritten Mal erzählt er einen Witz. Ich staune. Ich sage nichts. Vor einem Jahr noch hätte ich erwidert, dass ich auf Wunsch meiner Mutter um die Mittagszeit losgelaufen sei. Dass mich grade gestern noch jemand gefragt habe, ob ich Tänzerin gewesen sei, ich habe so einen schönen aufrechten Gang. Der Witz ist gut. Zwei alte Männer sitzen auf einer Bank. Fragt der eine den anderen: Sag mal, wie heißt du eigentlich? Schweigen. Nach einer langen Weile sagt der andere: Bis wann musst du das wissen? Ich lache laut. Er konnte schon immer gut Witze erzählen, mein Vater. Ich steure noch einen bei, aber ich kann keine Witze erzählen, und den habe ich schon mal erzählt. Er lacht trotzdem. Ob aus Höflichkeit oder weil er sich wirklich nicht mehr erinnert. Ich denke, aus Höflichkeit. Er war schon immer höflich, mein Vater.
Als Kind hat es mich geniert, als Erwachsene fand ich es rührend und wunderbar, dass er fremde Frauen immer mit "gnädige Frau" ansprach. Wenn die Frau eine wirkliche Dame war - nicht viele kamen in den Genuss dieses Privilegs, denn er legt da strenge Maßstäbe an -, bekam sie zum Abschied einen Handkuss. Seine Frau ist eine Dame. Auch wenn sie manchmal "Scheiße!" sagt. Der stärkste Kraftausdruck, den ich je aus dem Munde meines Vaters gehört habe, ist: Mist. Wenn er besonders sauer ist, sagt er auch mal: Mist, verdammter. Ich war nie eine Dame, werde nie eine sein; das weiß er seit langem. Obwohl meine Mutter viel Mühe, Zeit und Arbeit darauf verwendet hat, eine Dame aus mir zu machen. Meine Schwester ist auch keine Dame. Aber das macht nichts, denn sie ist seit zwanzig Jahren verheiratet. Außerdem kann sie zupacken; hat praktisch alleine mit ihrem Mann zusammen ein schönes Haus gebaut, auf dem Dorf.
Ich hatte auch mal ein schönes Haus auf dem Dorf, ein großes Haus, Marmor vom Keller bis zum Dach. Das habe ich aber nicht zusammen mit meinem Mann gebaut, das war schon da. Dafür hatte mein Mann einen Doktortitel. Und eine Praxis. Und Geld. Und alles, was man sich wünschen kann. Aber das ist lange her.
Heute ist mein Vater ein bisschen müde. Er hat sein Haus von außen gestrichen; das musste sein. Er hat sich ein Gerüst ausgeliehen. Das Gerüst ist klein, er muss es immer ein Stück weiter schieben, hinauf klettern, streichen, wieder hinunter klettern, weiter schieben, wieder hinauf klettern... Für den Streifen ganz oben legt er sich bäuchlings aufs Dach, beugt sich hinunter und streicht von oben. Mein Vater ist einundachtzig. Was willst du mir denn da helfen, fragt er.
Meine Mutter springt mal wieder vom Tisch auf. Das tut sie oft; sie hat seit jeher ein gutes Gespür für Spannungen. Mein Vater greift nach dem Telefon. Ich rufe Rebecca an, sagt er. Er sagt: Hallo Kind, hier ist dein Herr Großvater. Mein Vater hat das "R" schon immer stark gerollt. Auch früher, wenn er mich zu sich rief: Große. Komm mal sofort hier her.
Er lacht mit Rebecca, scherzt, erzählt noch mal den Witz, fragt nach ihrem Befinden, sagt: Dann also bis übermorgen, Kind, wir freuen uns. Ich habe auch schon mal mit meinem Vater telefoniert. Nie besonders lange; er ist eben kein großer Telefonierer, und ich auch nicht. Seit ein paar Jahren sagt er nur noch: Gut. Danke. Die Mama steht grade neben mir.
Meine Mutter kommt wieder mit der Kaffeekanne und dem Kuchentablett. Oder willst du lieber was Warmes, fragt sie, ich hatte ja für dich mit gekocht.
Sie besuchen mich im Krankenhaus, obwohl das meine Mutter sehr viel Kraft kostet. Deshalb verbinden sie den Besuch bei mir mit einem anderen Besuch, noch mal hundert Kilometer weiter. Am Abend schreibe ich ins Tagebuch: Heute hat mein Vater mir in die Augen gesehen.
Als Kind hat es mich geniert, als Erwachsene fand ich es rührend und wunderbar, dass er fremde Frauen immer mit "gnädige Frau" ansprach. Wenn die Frau eine wirkliche Dame war - nicht viele kamen in den Genuss dieses Privilegs, denn er legt da strenge Maßstäbe an -, bekam sie zum Abschied einen Handkuss. Seine Frau ist eine Dame. Auch wenn sie manchmal "Scheiße!" sagt. Der stärkste Kraftausdruck, den ich je aus dem Munde meines Vaters gehört habe, ist: Mist. Wenn er besonders sauer ist, sagt er auch mal: Mist, verdammter. Ich war nie eine Dame, werde nie eine sein; das weiß er seit langem. Obwohl meine Mutter viel Mühe, Zeit und Arbeit darauf verwendet hat, eine Dame aus mir zu machen. Meine Schwester ist auch keine Dame. Aber das macht nichts, denn sie ist seit zwanzig Jahren verheiratet. Außerdem kann sie zupacken; hat praktisch alleine mit ihrem Mann zusammen ein schönes Haus gebaut, auf dem Dorf.
Ich hatte auch mal ein schönes Haus auf dem Dorf, ein großes Haus, Marmor vom Keller bis zum Dach. Das habe ich aber nicht zusammen mit meinem Mann gebaut, das war schon da. Dafür hatte mein Mann einen Doktortitel. Und eine Praxis. Und Geld. Und alles, was man sich wünschen kann. Aber das ist lange her.
Heute ist mein Vater ein bisschen müde. Er hat sein Haus von außen gestrichen; das musste sein. Er hat sich ein Gerüst ausgeliehen. Das Gerüst ist klein, er muss es immer ein Stück weiter schieben, hinauf klettern, streichen, wieder hinunter klettern, weiter schieben, wieder hinauf klettern... Für den Streifen ganz oben legt er sich bäuchlings aufs Dach, beugt sich hinunter und streicht von oben. Mein Vater ist einundachtzig. Was willst du mir denn da helfen, fragt er.
Meine Mutter springt mal wieder vom Tisch auf. Das tut sie oft; sie hat seit jeher ein gutes Gespür für Spannungen. Mein Vater greift nach dem Telefon. Ich rufe Rebecca an, sagt er. Er sagt: Hallo Kind, hier ist dein Herr Großvater. Mein Vater hat das "R" schon immer stark gerollt. Auch früher, wenn er mich zu sich rief: Große. Komm mal sofort hier her.
Er lacht mit Rebecca, scherzt, erzählt noch mal den Witz, fragt nach ihrem Befinden, sagt: Dann also bis übermorgen, Kind, wir freuen uns. Ich habe auch schon mal mit meinem Vater telefoniert. Nie besonders lange; er ist eben kein großer Telefonierer, und ich auch nicht. Seit ein paar Jahren sagt er nur noch: Gut. Danke. Die Mama steht grade neben mir.
Meine Mutter kommt wieder mit der Kaffeekanne und dem Kuchentablett. Oder willst du lieber was Warmes, fragt sie, ich hatte ja für dich mit gekocht.
Sie besuchen mich im Krankenhaus, obwohl das meine Mutter sehr viel Kraft kostet. Deshalb verbinden sie den Besuch bei mir mit einem anderen Besuch, noch mal hundert Kilometer weiter. Am Abend schreibe ich ins Tagebuch: Heute hat mein Vater mir in die Augen gesehen.