Das kleine Glück macht seinen Schulabschluss

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Frau Schnuck

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Bestimmt hast Du bemerkt, dass es viele verschiedene Gefühle gibt und dass die meisten Leute welche haben. Vielleicht hast Du auch schon festgestellt, dass es viele verschiedene Arten von ein und demselben Gefühl gibt. Aber wahrscheinlich hast Du nicht gewusst, dass auch Gefühle zur Schule gehen müssen, wo sie lernen, wie sie sich den Menschen nähern.

Manche springen herbei und überfallen die Menschen, andere schleichen sich an und sind plötzlich einfach da und wieder andere kommen Stück für Stück näher, ohne dass sie wirklich bemerkt werden. Und all das lernen die Gefühle in ihrer Schule. Und dann machen sie natürlich einen Schulabschluss. Ohne dürfen sie unkontrolliert nicht nach draußen zu den Menschen.

Diese Abschlussprüfung besteht aus drei Arbeitsproben, in denen das Gefühl zeigen muss, dass es seine Sache versteht. Es muss den richtigen Zeitpunkt finden und die richtige Geschwindigkeit und manchmal braucht es einen Partner.

Von dieser Abschlussprüfung und wie das kleine Glück sie schließlich doch noch geschafft hat handelt die folgende Geschichte:

Das kleine Glück hatte es von Anfang an nicht leicht gehabt. Es saß in der Schule direkt neben dem großen Glück und das strahlte den ganzen lieben langen Tag nur so vor sich hin, dass es eine Wonne war. Das große Glück haute einfach immer so richtig auf die Sahne. Es kam morgens nicht leise oder wenigstens normal zur Tür rein, nein, es sprang mit einem Satz in die Klasse, strahlte und rief „Tadaaaa, ich bin da!“. In der Pause aß es nicht ein normales Schulbrot auf normale Weise, nein, es zelebrierte eine Auswahl an perfekt dreieckig geschnittenen Sandwiches, aus denen die Soße nicht ein kleines bisschen heraustropfte und die genau an den richtigen Stellen knusprig und an den richtigen Stellen saftig waren. Die Mahlzeiten wurden von Ausrufen wie „famos“ oder „exquisit“ begleitet. Es war eben das ganz große Glück. Das kleine Glück saß daneben und aß still sein Butterbrot.

Nach vielen Jahren im Schatten des großen Glücks nahte nun die Abschlussprüfung, auf die sich natürlich alle vorbereitet hatten. Die Arbeitsproben finden immer in Situationen statt, in denen natürlicherweise viele Gefühle anwesend sind. Da fällt es dann nicht auf, wenn ein paar Neue dabei sind.

Die erste Arbeitsprobe ist immer in einem Klassenraum, in einer fünften Klasse bei der Rückgabe einer Mathearbeit. Der Lehrer kommt rein, nimmt die Arbeiten aus der braunen Ledertasche und sofort stürmen die Gefühle alle los und suchen sich die passenden Menschen. Diesmal lief es so ab: Die Tasche stand noch nicht auf dem Tisch, da hatte die absolute Verzweiflung schon ganz treffsicher einen kleinen Jungen in der hintersten Reihe mit Beschlag belegt und sich das Krönchen für das schnellste Gefühl geholt. Der nächste Treffer war eine Überraschung: Ekel hatte gesehen, dass ein Mädchen beim nervösen Befummeln der Tischkante in einen alten Kaugummi gefasst hatte. Ein Glückstreffer!

Ganz oben auf dem Stapel lag eine satte 1 plus. Das hatte das große Glück sofort gesehen und sich bereits in Bewegung gesetzt. Und richtig: In Nullkommanix saß es beim richtigen Menschen am Pult und strahlte mit dem gewienerten Boden um die Wette. Das kleine Glück kümmerte sich nicht darum. Es wartete auf die Zweien und Dreien, eventuell auch auf die Vierer.

Leider war die Arbeit insgesamt sehr schlecht ausgefallen. Es gab nur jeweils eine Zwei und eine Drei und die zu den Vierer gehörenden kleinen Menschlein gaben eindeutige Signale des Desinteresses von sich: Sie spielten Karten unter dem Tisch. Das kleine Glück hatte also nur zwei Chancen für diese erste Arbeitsprobe.

Die Zwei wurde vom Stapel gezogen und das kleine Glück machte sich auf den Weg. Es war schon fast da, als es von hinten niedergerempelt wurde. Die kleine Wut hatte dem Kind die Hand zur Faust geballt und sich Verstärkung vom blanken Neid geholt. Dieser hatte dem Kind den Kopf in Richtung des Einserkandidaten gedreht. Aus war es mit dem kleinen Glück. Dieses erholte sich gerade noch, als auch schon die Drei nach oben auf den Stapel gewandert war. Aber auch hier war das kleine Glück nicht schnell genug. Die leichte Unsicherheit hatte eine kleine Angst an die Hand genommen und gemeinsam hatten sie das Kind überzeugt, dass es ein Zufallstreffer gewesen war. Auch hier ging das kleine Glück also leer aus. Eine Arbeitsprobe vorbei, noch zwei Chancen für das kleine Glück.

Als Nächstes ging es zur jährlichen Aufführung der Theater-AG. Angst, Panik und Verzweiflung waren so schnell weg, dass die anderen Gefühle gar nicht wussten, wie ihnen geschah. Stolz, Freude und Rührung feierten einen Punktemarathon in den Reihen des Publikums. Das große Glück konnte sich gar nicht entscheiden zwischen der Lehrerin, die die Theater-AG in diesem Jahr zum letzten Mal geleitet hatte und der Mutter der Hauptdarstellerin. Es hielt beide jeweils an einem Arm untergehakt, was ging, weil sie nebeneinander saßen.

Das kleine Glück wartete voller Sehnsucht auf den Moment, in dem der Vorhang fällt und all die kleinen Menschen einander an den Händen halten und sich vor dem Publikum verneigen. Leider passierte Folgendes: In genau dem Moment, als das kleine Glück sich gerade zwischen den Schauspielern breit machen wollte, rutschte einem Mädchen das Kostüm so unglücklich herunter, dass man ihre Unterhose sah. Innerhalb einer Millisekunde und schneller als das kleine Glück wusste was passierte stürmten Scham und Schadenfreude herbei und füllten den ganzen Raum.

Zwei Chancen vertan, noch eine Arbeitsprobe offen.

Die letzte Prüfung findet meistens auf dem Sportplatz statt. Diesmal bei einem Fußballspiel. In der ersten Halbzeit war für viele Gefühle bereits alles in Butter. Trauer, Wut, Schmerz, Hoffnung, Freude und Verzweiflung, sie alle hatten viele viele Punkte sammeln können. Und – es war ja klar – das große Glück hatte beim entscheidenden Treffer wieder zugeschlagen.

Am Spielfeldrand sah das kleine Glück Melanie sitzen. Melanie durfte nicht mehr mitspielen, weil sie im Eifer des Gefechts einem anderen Mädchen ein Bein gestellt hatte. Es tat ihr ein bisschen leid, aber nicht zu sehr, weil das andere Mädchen viel größer war als sie und sie auch schon oft geschubst hatte. Außerdem war ihr nichts passiert. Das kleine Glück wollte sich schon wieder dem Spiel zuwenden, als es sah, dass sich ein Mädchen aus der anderen Mannschaft neben Melanie setzte. Es warf ihr lässig einen Schokoriegel hin und fragte „Na Du Tröte? Darfste auch nicht mehr mitspielen?“

Da sah Melanie auf einmal das kleine Glück und lächelte. Und das gefiel dem kleinen Glück so gut, dass es für sehr lange Zeit bei ihr blieb.
 
Hallo Frau Schnuck,
diese Geschichte würde sicher auch ganz gut in die Rubrik Kindergeschichten passen.
Die Botschaft, die ich darin erkenne, heißt: es muss nicht immer alles besser, schneller, größer, reicher usw. sein, sondern oft sind es die kleinen Dinge im Leben, die wirklich glücklich machen.
Also ich würde das ständige kleine Glück auch einem einmaligen großen Glück vorziehen.
Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Frau Schnuck,

welch wunderschöne, kleine Geschichte über das kleine Glück. Das ist oft so viel mehr wert als das große und wird leicht übersehen.

Wie das kleine Glück doch noch zum großen Zug kam, hast Du fein geschildert.

Gerne gelesen und empfohlen,

DS
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Frau Schnuck!
Was für eine süsse Geschichte...

Das kleine Glück saß daneben und aß still sein Butterbrot.
:)
Die Mahlzeiten wurden von Ausrufen wie „famos“ oder „exquisit“ begleitet.
:)
Bei solchen Sätzen musste ich immer wieder schmunzeln...
Das kleine Glück kümmerte sich nicht darum. Es wartete auf die Zweien und Dreien, eventuell auch auf die Vierer.
Die zweien könnten auch noch dem grossen Glück gehören..
Gern gelesen!
Mit Gruss, Ji
 



 
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