Das kleine Mädchen mit den Streichhölzern

Breimann

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Das Mädchen mit den Streichhölzern

Das kleine Mädchen mit den Streichhölzern
Ein Märchen?
2. (leicht überarbeitete) Version

Es war entsetzlich kalt; es schneite, und es war bereits vollständig dunkel, an diesem letzten Abend im Jahre 1999 - Silvesterabend. In dieser Kälte und Finsternis ging Poki zaghaft auf die erleuchteten Häuser der Stadt zu.
Poki war ein kleines, sehr dürres Mädchen mit langen schwarzen Haaren, in die zwei gelbe Flatterbänder geflochten waren, mit hellbrauner Haut und großen braunen Augen in einem schmalen Gesicht. Mit der hellroten, dünnen Jacke, die sie schon an kühlen Sommerabenden getragen hatte, dem quittegelben Kleid - das an einen sonnenüberfluteten Strand gehörte - und den nackten Füßen, war Poki viel zu leicht bekleidet.
Sie fror am ganzen Körper, war völlig verkrampft, zitterte und dachte ständig an ihren Papa, der sehr ärgerlich gegrunzt hatte, als sie am Morgen ihre Winterschuhe und die dicke Jacke anziehen wollte.
„Kannst auch gleich im Pelzmantel gehen! Feine Dame spielen, was? Mitleid musste wecken; musst ärmlich aussehen. Zieh das da an!“, hatte er geschrieen und ihr die Sommersachen hingeworfen. „Heut ist Silvester, da geben die Leute, wollen ein gutes Zeichen setzen für das neue Jahr. Musst sie traurig ansehen! Verstanden, mein Engel?“, hatte er versöhnlich - und viel leiser - hinzu gesetzt.
Sie hatte ursprünglich Pantoffel angehabt, als sie am frühen Morgen von zu Hause fortging, aber einer war schon weg! Es waren sehr große Pantoffeln, die früher ihre Großmutter getragen hatte. Man konnte in jedem von ihnen zwei Kinderfüße verstecken, so groß waren sie. Den linken rosafarbenen Pantoffel hatte Poki verloren, als sie vorhin über die Rheinuferstraße rannte, während zwei Wagen in rasender Eile vorüberjagten. Er war hoch in die Luft geflogen, vom nächsten Auto noch einmal erfasst worden und dann im Schneegestöber verschwunden. Sie hatte sich nicht noch einmal auf die Straße getraut. Dann hatte sie den zweiten Pantoffel in die Hand genommen, denn mit einem nackten und einem Pantoffelfuß kann man nicht laufen.
Der rappelige Wohnwagen ihrer Familie stand unterhalb der Rheinmauer, auf dem Parkplatz eines noblen Restaurants, der Bastei, das jetzt geschlossen hatte, direkt am Rheinufer.
„Ist verboten – na und? Geht´s euch was an?“, hatte Papa mürrisch gesagt, als sich ein Passant beschwerte.
„Ruiniert mit seiner Dreckskiste das ganze schöne Bild unserer Promenade. Drecksvolk!! Zigeunerpack! Macht, dass ihr dahin verschwindet, wo ihr herkommt. Wenn Adolf noch da wäre, dann...“, hatte der Mann zu seiner Frau gesagt, drohend die Hand gehoben und war wütend weggegangen.
Sie waren in der Woche vor Weihnachten angekommen, nach einer langen Fahrt. Sie kamen aus Süddeutschland, wo sie seit dem Sommer gelebt hatten. Der klapperige Mercedes hatte es noch bis zur Rheinuferstraße geschafft, dann war er rülpsend und stotternd liegen geblieben. Der Wohnwagen war auch nicht mehr in Ordnung, die Bremsen versagten ständig. Eigentlich hatten sie direkt nach Köln-Ossendorf gewollt, wo viele Sinti und Roma wohnten – auch ihre zahlreichen Verwandten. Aber jetzt mussten sie erst einmal Geld haben, denn, das wusste Poki, ohne Geld gab es kein Essen und keine grüne Flasche für Papa.
„Musst Geld besorgen, Kind! Wir haben nichts zu essen und Papa muss den Wagen reparieren – Benzin fehlt auch“, hatte ihre Mama am frühen Morgen gesagt. „Musst heut alleine gehen. Weißt ja, Lajos ist noch nicht gesund; ich muss ihn doch pflegen. Kannst du?“ Poki hatte genickt, - sie war stolz darauf, dass man ihr das zutraute.

Sie schlidderte hastig über die glatten Kopfsteinpflaster, in einer Hand den rosaroten Pantoffel und auf dem Rücken einen verschlissenen Rucksack, der ständig von den schmalen Schultern rutschen wollte.
Sie lief immer in Richtung Dom, dessen nadelspitze Doppeltürme sie über alle Häuser hinweg sehen konnte. Hastig überquerte sie die öde große Rheinwiese und als sie endlich zwischen den hohen, hell erleuchteten Häusern war, flaute der böige Ostwind ab. An einem wuchtigen roten Gebäude blieb Poki stehen. Sie hörte Musik, die so schön war, so herrlich melodisch, dass sie gebannt lauschte. Sie liebte jede Musik; diese hier war zwar nicht zum tanzen, aber trotzdem bewegte sie ihre Zehen, lupfte den riesigen Pantoffel im Takt.
„Steckt dir im Blut! Kommt von meiner Seite!“, hatte Großmutter erkennbar stolz erklärt.
Durch eine große Glastür sah sie eine riesige, menschenleere Halle mit prächtigen Blumengebinden. An der Wand neben der Tür hing ein großes Plakat mit vielen Namen und einem Bild, dass eine große Musikkapelle zeigte.
„Silvesterkonzert“, las Poki langsam. Oh ja, sie konnte lesen – ein wenig. Das hatte ihr die Großmutter beigebracht, denn mit Schule war nichts; sie waren ja ständig unterwegs.
„Alles nicht wichtig. Was du kannst, ist gut, mehr muss nicht sein. Wer soll Geld verdienen, he?“, hatte Papa gesagt; und was Papa sagte, war immer richtig.
Poki besann sich, erinnerte sich an ihre Aufgabe. Hier waren alle Leute im Haus, hörten Musik; da konnte man nichts verkaufen. Also stieg sie die steile Treppe neben der Philharmonie hoch, ging vorbei am dunklen Museum und erreichte, völlig außer Atem, den großen Domplatz.
Der mächtige, kunstvoll getürmte Steinhaufen war wie üblich angestrahlt von versteckten Lampen und Scheinwerfern, die auf den Nachbarhäusern montiert waren. Im Licht tanzten unzählige Schneeflocken, zeigten die genauen Umrisse der Strahlen.
„Da, wo soviel Licht ist“, dachte Poki, „muss auch Wärme sein“. Aber auf der Domplatte pfiff der Ostwind heftig, wirbelte den feinen Schnee wild in die Luft, ließ große Schneekringel auf dem Boden im Kreis tanzen.
Menschen waren keine zu sehen, deshalb flüchtete sie schnell in einen beleuchteten Eingang. Sie hockte sich auf den Rucksack und schob ihre kleinen eiskalten Füße in den plüschigen Pantoffel. Erst als sie einige Minuten darin steckten, bemerkte sie die Schmerzen in den Füßen - besonders die Zehen stachen und brannten, der Schmerz trieb ihr das Wasser in die Augen.
Ein großer Junge mit einer dicken Pelzjacke, die Hände in riesigen Handschuhen, sauste mit seinem Skateboard über den Platz. Er machte große, mutige Sprünge und scharfe Wendungen. In der Schneestille hallten die heftigen Klickgeräusche des Skateboards wie Pistolenschüsse.
Poki beobachtete ihn, sah ihn in weitem Bogen auf sich zufahren. Plötzlich, als der Wind eine kleine Pause einlegte, als die Schneewolken sich ermattet senkte, da entdeckte der Junge das Mädchen, das mit angezogenen Knien im Eingang des exquisiten Handtaschengeschäftes hockte. Er stellte sich auf sein Skateboard, rollte mit hohem Tempo auf Poki zu, die sich ängstlich verkrampfte, hielt unmittelbar vor ihren Füßen und sprang, angeberisch lächelnd, von seinem Brett.
„He! - Was treibst du denn da? Willste klauen? Oder bettelst du die Leute an?“, fragte er scharf, überheblich klingend.
Poki sagte lieber nichts, schaute aus ihren großen braunen Augen auf den riesigen Jungen, der sie kalt anlachte.
„Bist von den Zigeunern, was? Kommste aus deren Scheißlager? Sag was, sonst muss ich dich bei der Polizei melden!“
Aber Poki blieb still, sie spürte eine zittrige Angst vor dem großen Jungen. Der bückte sich, nahm sein Skateboard hoch, ergriff blitzschnell ihren zweiten Pantoffel, zerrte ihn von ihren Füßen. Er lachte laut, als er die plüschige Umrandungen des rosafarbenen Pantoffels sah.
„Zigeunerkram! Klasse! Weißt du was? Den klebe ich mir auf mein Skateboard fest. Was glaubst du, was meine Kumpel sagen? Die schießen vor Spaß ne Runde Kölsch! Kannste mir glauben!“
Poki streckte beide Hände aus und sah den Jungen verzweifelt an. „Bitte, gib ihn mir. Mir ist kalt. Bitte!“
„Tschüß, Zigeunerin!“, rief der Junge, schwenkte seine Beute und verschwand im Schneegestöber.
Poki besah ihre nackten schmalen Füße, die im Schnee noch brauner aussahen als sonst. Sie konnte nicht sehen, dass ihre Zehen schon eine weißblaue Färbung angenommen hatten. Sie mochte ihre Füße, die bei jeder Musik sofort den richtigen Takt fanden und ihren leichten Körper wie eine Feder wirbeln ließen.
Sie tanzte so gerne, konnte lange auf den schmalen, zierlichen Zehen stehen und träumte davon, eines Tages eine gefeierte Tänzerin zu werden, die zu den Liedern ihres Volkes die Hüfte schwang, die Beine im Rhythmus der heißen Melodien so schnell setzte, dass den Zuschauern schwindelig wurde. Poki hatte bei ihren Festen die brennenden Augen der Männer gesehen, die den Tänzerinnen gierig folgten.
„Hoffentlich erfriere ich mir nicht meine Zehen“, dachte sie ängstlich und rubbelte die Füße mit den kalten Händen.
Dann stand sie entschlossen auf. Sie musste sich beeilen, musste sehen, dass sie ihre Waren los wurde. Sie hatte Angst davor, ihren Papa zu enttäuschen; sie hatte Angst vor den Schlägen, die sie immer bekam, wenn sie faul oder nachlässig gearbeitet hatte.
In ihrem alten Rucksack trug sie eine Menge Schwefelhölzer. Die Döschen waren je zu zehn mit einem kleinen Bändchen zusammengeschnürt. Sie öffnete den Rucksack und nahm ein Bund in die Hand.

Sie war schon seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen, hatte an einem Imbisstand auf der Schildergasse zwei weggeworfene Brötchen und ein halbes Würstchen aus dem Abfalleimer geholt. Das Würstchen war sogar noch warm gewesen. Zwischendurch hatte sie sich im Kaufhof gewärmt, war die Rolltreppen rauf und runter gefahren. Sie vergaß, dass sie verkaufen musste, fand nur Freude an den vielen Sachen, die in dem warmen Haus auslagen. Mittags, als die Geschäfte schlossen, waren die Menschen weg gewesen, die Straße lagen wie verweist.
Sie hatte während des ganzen Tages nur zwei Bündel Streichhölzer an eine alte Frau verkauft - und niemand hatte ihr ein Almosen gegeben. Durstig und verfroren war sie in der frühen Dunkelheit zum Wohnwagen gegangen, um sich aufzuwärmen und etwas Milch zu trinken. Im Wagen brannte ein kleiner Ofen, an den sich ihr Papa, ihre Mama und ihr kleiner Bruder Lajos gesetzt hatten; Lajos hatte gelächelt, als er Poki sah.
Lajos war erst drei Jahre alt und brauchte noch nicht alleine raus. Er wurde von Mama immer in einem langen Tuch zum Betteln getragen. Mama setzte sich immer an die Kirchenmauern und bettelte. Lajos musste vorher immer Milch trinken, die komisch schmeckte; die Milch machte ihn müde; er schlief dann während der ganzen Zeit tief und fest.
Als Poki in den warmen Wagen kam und ihre leere Tasche zeigte, war ihr Papa wütend geworden und hatte sie sofort wieder rausgeschickt. Also war Poki schnell wieder gegangen, denn Papa hatte so richtig böse Augen gemacht. Und in der Hast, mit der sie unbedacht die stark befahrene Rheinuferstraße überquerte, war das Missgeschick mit dem Pantoffel passiert.

Poki war verzagt und unschlüssig; sie wusste nicht recht, wie sie ihre Hölzer verkaufen konnte - sie hatte Angst vor den fremden Menschen, mochte sie nicht ansprechen. Die Blicke der Menschen, die sie ansahen, als wäre sie ein ekeliges Ungeheuer, ängstigten sie.
"He! - Poki, du bist zu weich!", klagte ihr Papa oft. "Das Leben ist hart! Vertrau keinem Menschen! Sieh zu, dass du überlebst, merk dir das!", belehrte er sie, wenn er wieder einmal ihre Weichheit und Naivität beklagte.
Die Schneeflocken fielen auf ihr langes schwarzes Haar, das schön gelockt über ihren Nacken hinabfloss; die weißen Flocken blieben auf den Haaren liegen, schmolzen nicht. Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz, aus manchen Küchenventilatoren wirbelte der Geruch von köstlichem Gänsebraten. Es war ja Silvesterabend! Dieser Gedanke erfüllte plötzlich alle Sinne des kleinen Mädchens und sie dachte an ihre Großmutter. Im vorigen Jahr hatte sie mit ihr das Feuerwerk am Sylvesterabend angesehen.
„Wenn sich das alte, müde Jahr ins Totenbett legt, gebiert es das neue Jahr. Es weiß, dass es streben wird, dass die Menschen seinen Tod feiern und nur noch „Hosianna! Es lebe das neue Jahr!“ rufen werden. Aber es tut seine Pflicht, schenkt uns das Neue und lässt uns hoffen, dass es besser wird als das Alte“, hatte sie dabei erklärt.
Ja, Großmutter wusste viel vom Leben, und als sie im letzten Herbst starb, war Pokis Leben ärmer geworden. Sie konnte sich keinen schnellen Trost mehr holen, den sie doch oft so dringend brauchte; Großmutters weiche Hand auf dem Kopf hatte immer die Schläge vergessen lassen.
„Nicht traurig sein, Poki-Mädchen. Denk an die Geschichte vom Jahreswechsel, kleine Poki“, hatte ihr Großmutter auf dem Sterbebett gesagt. „Ich bin wie das alte Jahr, ich muss bald gehen. Hab viele Sachen nicht so gut gemacht wie ich wollte, aber ein paar Dinge sind doch ganz ordentlich geworden. Ich bin das alte und du bist das neue Jahr. Mach es besser als ich, meine Kleine.“

Poki zuckte zusammen, als die Glocken dumpf anschlugen. Dann, nach der Überraschung, kam die Freude. Die Glockenklänge überschlugen sich, wetteiferten miteinander. Helle und dunkle, leichte und schwere Töne wirbelten durcheinander, spielten ein unbekanntes Lied; Poki war wie berauscht und lief auf den Dom zu. Da waren Menschen; viele Menschen; schwarz gekleidet, dicht vermummt, Hüte ins Gesicht gezogen, Hände in den Manteltaschen, hasteten sie durch den wirbelnden Schnee, eilten auf die rettende Tür im Dom zu.
Poki stellte sich an die breite Pforte, durch die die Menschen eilig verschwanden; sie suchten Wärme und Schutz vor dem wieder aufgelebten Wind. Poki hielt ein Bündel Streichhölzer hoch, sah den Leuten ins Gesicht und rief leise immer wieder den gelernten Spruch: „Bitte! Zehn Döschen Streichhölzer - für eine Mark. Bitte helfen sie mir!“
Aber die Hutränder rutschten noch tiefer, die Mantelkrägen stiegen bis vor die Augen; niemand hielt an. Nur ein ärgerliches „zzzzz!“ erklang einmal, dicht vor Pokis Gesicht. Dann hörten die Glocken zögernd auf und nur noch zwei einzelne Männer hasteten an Poki vorbei. Sie steckte den Kopf in den Dom, spürte die warme Luft, die nach Weihnachten roch und trat zwei kleine Schritte vor ins Halbdunkel.
„Na, mein Fräulein? Wo wollen wir den hin?“
Ein dicker, großer Mann mit einem roten bodenlangen Gewand stand plötzlich vor Poki. Vor seinem mächtigen Bauch trug er ein großes Holztablett, auf dem Heftchen und Blätter lagen. Fast wäre Poki vor Angst und Schreck umgefallen, aber die Augen in dem runden Gesicht lächelten. Da blieb sie stehen und hielt dem Mann ihre blau gefrorene Hand mit den Hölzern entgegen.
„Gehört dir dieses große Haus? Hast du gerade die Glockenmusik gemacht?“
„Oh nein!“
„Bist du der Papst?“
Da musste der Mann lachen, was seinen Bauch wabbeln und die Prospekte auf seinem Bauchladen tanzen ließ.
„Oh, das wär was! Nein, nein! Ich arbeite hier nur. Kirchenschweizer nennen mich manche Leute. Ich muss diese Blätter verkaufen“, sagte er und hielt Poki einen bunten, kleinen Prospekt hin.
„Ich muss auch verkaufen. Hier! Das muss ich verkaufen!“
„Aha! Weißt du was? Wir könnten doch einen Tausch machen. Ich gebe dir so ein schönes buntes Blatt mit dem Hl. Christophorus und du gibst mir ein Päckchen Hölzer. Damit zünde ich dann unsere Kerzen im Dom an und denk dabei immer an dich - mit einem guten Gebet.“
Poki nickte und der Tausch war blitzschnell vollzogen. Sie starrte das bunte, glänzende Bild an, das ihr vorkam, als wär es eine heimliche Nachricht – nur für sie. Auf dem Bild trug ein bärtiger Riese ein pummeliges, nacktes Kind auf dem Rücken. Er überquerte, gestützt auf einen langen Stab, einen breiten Fluss. „Silvester“ war mit schwarzer Schrift in den Fluss geschrieben worden. Am linken Ufer stand auf einer Tafel: 1999. Am anderen zeigte ein zweites Schild die Zahl 2000.
„Der Hl. Christophorus soll uns gut vom alten ins neue Jahr bringen. Verstehst du das?“
„Ja, so was hat Großmutter auch immer gesagt. Nur von dem Riesen wusste sie nichts. Sie hat immer gesagt, dass es eine weise Frau wäre, die uns dabei hilft.“
Der Mann sah ihr lange nach, als sie in Gedanken versunken, über den leeren Platz ging. Da erst entdeckte er ihre nackten Füße und wär ihr um ein Haar nachgelaufen.

Von oben, von der Domplatte, hatte der Bahnhof gar nicht so riesig ausgesehen. Aber als Poki vor der riesigen gläsernen Schwingtür stand, musste sie den Kopf doch weit in den Nacken legen, um die Uhr zu sehen. Noch mehr als zwei Stunden bis Mitternacht!
Vielleicht konnte sie hier ihre Hölzer los werden und Papa glücklich machen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einen lachenden Papa. Im Sommer, als ein Bauer im Allgäu ihnen Unterkunft und Verpflegung gewährt hatte, da hatte sie mit dem glücklich lachenden Papa auf der Blumenwiese getanzt; das würde sie nie vergessen.
Warme Luft schlug ihr ins Gesicht, ihr wurde schwindelig. Die große Eingangshalle und der lange Durchgang zu den Bahnsteigen waren leer und still. Sie schlich langsam vorwärts, schaute in die großen, mit Luftschlangen, Ballons und Konfetti geschmückten Schaufenster, bewunderte die bunten Glückwunschschilder und Sektgläser. Alle Geschäfte waren festlich geschmückt, aber menschenleer - die Türen waren geschlossen.
„Na, Kleine? Was machst du hier?“
Diesmal saß Poki aber wirklich auf dem Boden; der Schreck war groß und sie machte einfach die Augen zu.
„Na, na! Keine Angst, mein Mädchen. Ich tue dir nichts. Wer bist du denn? Wie heißt du?“
Die Stimme war nicht böse, deshalb öffnete Poki die Augen wieder. Vor ihr stand ein junger Mann mit einer Uniform und einer schicken Mütze auf den langen, blonden Locken. Seine Augen waren gut; sie lächelten und blitzten freundlich.
„Poki! – Ich bin Poki.“
„Aha! Und ich bin Nico. Was machst du alleine hier?“
„Ich will – ich möchte – Streichhölzer verkaufen. Papa und Mama sind im kaputten Wohnwagen - mein Bruder Lajos ist krank.“
Und? Hast du Erfolg?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich kann´s nicht gut. Papa wird schimpfen.“ Sie wusste nicht, warum sie das diesem fremden Mann erzählte, aber sie fühlte sich wohl dabei.
„Na, hier wirst du auch nicht viel verkaufen; die Leute wollen lieber in das neue Jahr feiern, als mit einem öden Zug ins Jahr 2000 fahren.“
„Dann geh ich wieder.“
„Du siehst ja schrecklich verfroren aus! Und nackte Füße hast du! Mein Gott! Wie kann man nur so ein kleines Mädchen in diesem eisigen Wetter barfuss ins Freie schicken? Unmenschen! Warte! Ich schau mal, ob wir nicht ein paar alte Socken in der Wachstube haben.“
Er rannte los und Poki stand auf, lehnte sich an die dicke Säule. Der Mann, der Nico hieß, kam schnell zurück.
„Nichts! Leider nichts da! - Und die Geschäfte sind alle zu, sonst hätten wir dir sicher was besorgen können. Aber warte mal“, sagte er, griff in die Gesäßtasche, zog eine Geldbörse raus und gab ihr einen Schein.
„Sind nur zwanzig Mark, aber es hilft dir sicher etwas, kleine Poki. Ich hab auch ein kleines Mädchen, ungefähr so alt wie du. Wenn ich daran denke, dass sie barfuss im Schnee herumlaufen müsste!“
„Danke, Herr Nico“, flüsterte Poki und zuckte zusammen, als eine harte Stimme ertönte.
„Was ist, Herr Brunner? Gibt´s Probleme?“
„Nein, nein! Alles klar, Chef! Hab alles im Griff!“, rief Nico und schob Poki zum Ausgang.
„Mein Boss! Der duldet keine Bettler hier im Bahnhof. Ich muss dich leider wieder in die Kälte jagen, sonst schmeißt der mich raus. Ich brauch doch die Arbeit.“
Als die Tür sich öffnete, blieb Poki die Luft weg. Eisige Kälte schlug ihr entgegen, die jetzt, nach der Wärme im Bahnhof, entsetzlich war.

„Noch zwei Stunden! – Die werden wir auch noch schaffen, dann haben wir das Jahr und das Jahrhundert gekillt!“, hörte sie einen Mann über sich reden. Sie saß eng an die Wand gepresst, hatte den Rucksack unter sich geschoben. Die Stimme klang seltsam, wie Papas Stimme, wenn er mit den Tageseinnahmen zufrieden war und sich die grüne Flasche in den Mund gesteckt hatte. Dann konnte er lachen – wie der Mann da oben, am offenen Fenster, aus dem gelbes Licht auf das Pflaster fiel.
Er sprach wie Papa, ganz langsam, als müsse er über jedes Wort nachdenken, es abwiegen, untersuchen und dann erst freigeben für die still sitzenden Zuhörer.
Dann gab es einen langen Streit; sie redeten alle durcheinander. Es ging dabei um die Frage, ob das neue Jahrtausend bei diesem Jahreswechsel, oder erst beim nächsten anfangen würde.
„So ein Quatsch“, dachte Poki. „Erst war vorne eine Eins und nachher ist da eine Zwei. Das ist doch klar genug, das sieht man doch.“
Auf der anderen Seite, etwas tiefer gelegen, war ein großes Cafe, mit sicher mehr als tausend Glasfenstern. Sie konnte tanzende und trinkende Menschen sehen. Wuchtige Leuchter hingen über ihren Köpfen, tauchten alles in glitzerndes Weiß, ließen die Kleiderfarben prächtig leuchten.
Soviel Licht!“, staunte Poki und stellte sich vor, dass es unter ihnen auch warm sein müsste. In ihrem Wohnwagen brannten immer nur eine oder zwei Kerzen, die aber dafür gut dufteten.
Poki war noch nicht ganz sechs Jahre alt. Wenn sie zehn war, brauchte sie das nicht mehr machen, hatte Papa gesagt, dann hätte er was Besseres mit ihr vor. Die Menschen hätten mit einer beinah Erwachsenen nicht mehr genug Mitleid, dann müsse ihr Bruder Lajos ran.
„Lajos“, dachte sie, „Lajos, mein kleiner zarter Lajos würde eine Nacht in dieser Kälte kaum überleben“.
„Komm, mach das Fenster zu! Es ist saukalt! Da friert uns der Champagner ein!“, rief über ihr eine Frauenstimme und lachte dann lange. Die Stimme klang warm und ruhig, selbst jetzt, wo sie doch laut gerufen hatte. Der Streit hatte aufgehört; sicher hatten sie das mit den Zahlen entdeckt.
Mamas Stimme war anders, sie war grell, tat manchmal weh in den Ohren, und wenn sie Poki schlagen musste, weil zu wenig Geld in der Tasche von Poki war, dann überschlug sich ihre rauchige Stimme. Mama konnte nichts dafür. Sie war zuständig für die Kinder, musste sie zur Arbeit anhalten. Mama hatte Angst vor Papa, der sie schlug, wenn sie die Kinder nicht streng genug strafte. Es war schon alles richtig so; wie sollte es auch anders gehen? Mama und Papa hatten es nicht leicht. Immer wieder mussten sie ihre Kinder zur Arbeit ermahnen und besonders Lajos war schwierig, wollte immer draußen spielen.
Vorige Woche war es ganz schlimm gewesen. Sie waren gerade einen Tag in Köln, Mama saß mit Lajos am Dom auf der Platte. Sie bettelten schon lange an diesem ersten eisigen Wintertag, aber in der Zigarrenschachtel waren erst ein paar Groschen und etliche Knöpfe. Zuerst hatte der eisige Wind Lajos zittern gemacht, dann war er bewusstlos geworden. Mama hatte ihn quer auf dem Schoß gehabt und nicht gesehen, dass der ganze Unterkörper frei lag. Erst als sie aufstehen wollte, hatte sie gemerkt, dass mit Lajos was nicht stimmte. Er hatte kaum noch geatmet und selbst, als sie ihm auf den Kopf geschlagen hatte, war er nicht wach geworden.
Mama hatte ganz laut um Hilfe geschrieen und die Leute hatten sie angestarrt. Einer hatte dann mit dem Handy die Polizei gerufen. Lajos war ins Kinderkrankenhaus gekommen und erst nach einer Woche durften sie ihn abholen. Die Polizei hatte Mama verhaftet, aber sie war noch am gleichen Tag nach Hause gebracht worden. Sie hatte Prügel vom Papa bekommen - sehr viel Prügel. Es war, weil sie nichts erbettelt hatte, weil sie nicht aufgepasst hatte und weil Lajos durch ihre Unaufmerksamkeit so lange ausfiel. Das war ja auch schlimm. Papa wusste schon, was er tat. Dann hatte Papa vor Kummer die ganze grüne Flasche ausgetrunken. Und heute war Lajos noch immer etwas krank und sie musste alleine in die Stadt.
„He! Guck dir die da an! Ist die bescheuert, oder was?“
Vor ihr standen zwei junge Leute. Der Junge trug einen langen, hellen Parka, der fast bis zu den Knien reichte, schlenkerte eine geöffnete Bierflasche mit der einen und die Hand des Mädchens mit der andren Hand. Er trug einen flauschigen, durchsichtigen Ziegenbart, der vom Wind geschüttelt wurde. Das Mädchen war sehr blond, hatte eine dicken roten Skianorak an und rauchte hastig.
„Lass die doch in Ruhe. Das ist Zigeunerpack; die sind gefährlich. Nachher sticht dich einer mit dem Messer. Komm, hauen wir ab!“
„Warte! Das kann spaßig werden. – Wie heißt du, he?“
„Poki.“
„Poki und was weiter? Hast du keinen richtigen Namen? Heißt du vielleicht Pokemon?“
„Poki, nur Poki. Möchten Sie Streichhölzer von mir kaufen?“
„Was soll ich von dir kaufen? Hab ich richtig gehört? Hast du das geschnallt? Streichhölzer! Ich krieg die Krise! He, bist du von Gestern? So´n Scheißzeug kauft dir doch kein Aas ab. Hier! Guck´s dir an! Das ist ein Wegwerffeuerzeug! Das kauft man heute, und nicht so´n blödes Hölzerzeug! Na? Haste das schon mal gesehen?“
Er zündete und eine lange, bläulichweiße Flamme schoss heraus, direkt auf Pokis Gesicht zu.
Poki starrte das Feuerzeug an; sie konnte ihre ängstlichen Augen erst lösen, als die Flamme mit einem leisen „Klick“ verlosch.
„Und wieder und wieder!“, rief der Junge und knipste bestimmt zehn Mal sein gelbes Plastikfeuerzeug an.
„Komm, lass das arme Ding in Ruhe. Unsere Leute warten schon - ist doch langweilig hier! Mann! Mach voran, oder willste anwachsen?“, fragte das Mädchen, hob fröstelnd die Schultern.
„Halt die Klappe, Alte. Erst bin ich dran!“, sagte er lässig, ließ das Mädchen los und ging auf Poki zu. Er ließ sich in die Hocke herunter, konnte das verängstigte Mädchen jetzt direkt ansehen. Er grinste, musterte ihre braune Haut, die pechschwarzen Haare und das, durch die markante Nase, fremdartig wirkende Gesicht.
„Biste aus Rumänien?“
„Nein, ich wohne im Wohnwagen.“
„Aha! Zigeunerpack, ja? Klaubande? Fresst ihr immer noch Kinder? Kannste mir mal zeigen, wie man ein Portemonnaie aus der Tasche zieht? “
Poki schwieg und wünschte sich in den Wohnwagen, an die Füße ihrer Großmutter, wollte die schützende Hand auf dem Kopf fühlen. Sie fror entsetzlich und ihre Füße schmerzten.
„Zeig mal dein Zeug her! - Vielleicht kauf ich dir was ab“, forderte der Junge.
Poki stand langsam auf, öffnete den Rucksack und griff hinein. Bevor sie mit ihren kältesteifen Fingern ein Bündel greifen konnte, hatte der Junge ihr den Rucksack aus der Hand gerissen.
„Lass man! Mach ich selber!“, rief er, hielt den Rucksack mit der Öffnung nach unten, schwenkte ihn wie eine Fahne und schüttelte kräftig.
Die Streichholzschachteln purzelten heraus, flogen weit verstreut in den Schnee. Erst als kein Bündel mehr im Rucksack war, warf er ihn vor ihre Füße, hob eines der Päckchen hoch und betrachtete es genauer.
„Zehn Stück – he? Was willste dafür haben, sag!“
„Eine Mark“, flüsterte Poki. Sie sah nur die Streichholzschachteln an, die im Schnee lagen.
„Was? Ich hör wohl nicht richtig? Eine ganze gute deutsche Mark für so einen Scheiß? Willst du mich verarschen, Kleine?“
„Nein, bitte, bitte! Ich muss doch eine Mark dafür nehmen. Papa hat das gesagt.“
„Gib der Kleinen die Mark und komm. Mir frieren die Füße an!“
Der Junge wühlte in seiner Jackentasche und zog dann einen Geldschein heraus.
„Na gut, is ja Sylvester! Hier! Ich nehm zwei Päckchen. Wenn ich das auf der Party erzähle, bin ich King! Eh, das gibt Spaß! Hier, kannste den Hunni wechseln?“
„Hunni? Was ist das?“
„Mensch, bist du blöd, oder was? Das ist ein glatter, frisch gepresster Hunderter! Kannste den wechseln oder nicht?“
„Hundert Mark? Nein, ich hab kein Geld.“
„Hast kein Geld? Na dann nicht!“, sagte er grinsend, zog den Schein zurück, ließ ihn mit zwei Streichholzpäckchen in der Jacke verschwinden und griff die Hand seines Mädchens.
„Prosit Neujahr!“, rief der Junge, trank mit verdrehten Augen aus der Bierflasche - und das Mädchen lachte, als sie wegliefen.
Poki sah ihnen nach, bis sie im Schneegestöber verschwunden waren. Dann griff sie den Rucksack und sammelte die Streichhölzer ein. Die Reklamepapiere auf den Döschen waren nass; die dünne Pappe der meisten Schachteln wellte sich bereits.
Poki weinte, sie war todunglücklich, denn sie wusste, was sie erwartete. Während sie mit den klammen Händen den Schnee von den Schachteln abwischte, hörte sie gegenüber am Cafe schnelle, laute Stimmen, übertönt von übermütigem Lachen.
Ein älterer dicker Mann mit weißen Haaren wischte sich ein paar Schneeflocken von seinem schwarzen Anzug. Er stand vor der Tür des Cafes, schaute in den Schneehimmel und lachte laut. In seiner Hand qualmte eine lange Zigarre; sie sah aus, wie die langen braunen Dinger, die Großmutter so gerne geraucht hatte.
„Die im Laden stibitzten schmecken besser als alle geschenkten und tausend Mal besser als gekaufte Zigarren!“, hatte Großmutter oft lachend gesagt und dabei schöne Kringel in die Luft geblasen, damit Poki sie fangen sollte.
Die Frau war viel jünger, trug ein langes grünes Kleid und eine Kette, die schnelle weiße Blitze abschoss; alle Lampen des Cafes spiegelten sich in dem glitzernden Schmuck. Die Frau war richtig schön, fand Poki, die sie in Gedanken mit ihrer Mama verglich. Mama war von oben bis unten rund und hatte tausend Falten im Gesicht. Aber ihre Augen waren wunderschön, besonders wenn sie zornig blitzten.
Poki stapfte auf die beiden lachenden Menschen zu, die sie erst im letzten Augenblick bemerkten.
„Schau dir das an! Wenn Weihnachte wär, würde ich denken, ein Christkind sei vom Himmel gestiegen!“, rief der Mann belustigt.
„Schätzchen! Komm her. Komm zu uns, komm. Wir tun dir nichts!“, rief die Frau, beugte sich vor und hielt Poki die Hand hin, als würde sie einem Hund eine Wurstscheibe anbieten.
„Ist die süß! Schau dir das niedliche Kleid an! Und die wunderschönen Haare. Nein, was hat die Kleine für eine schöne Gesichtsfarbe. Warst du im Süden, Schätzchen?“
„Hör auf Lore! Das ist eine Zigeunerin! Die sind so braun! Und hübsch sehen die Zigeuner nur aus, solange die jung sind“, sagte der Mann und sog an seiner Zigarre. „Musst die aber mal sehen, wenn die älter werden. Dick, faltig, hässlich! Bah“, sagte der Dicke mit grunzendem Lachen.
„Ich bin Poki! Ich verkaufe Streichhölzer. Können Sie mir welche abkaufen?“
„Nein!“, schrie die Frau und zeigte auf Pokis Füße. „Karl! Schau dir das an! Das Kind hat keine Schuhe an!“
„Mein Gott! Was soll denn das werden?“
„Karl, tu doch was! Kauf der Kleinen ein paar Stiefel, oder Schuhe, oder irgendwas! Das arme Kind!“
„Schätzchen! Die Geschäfte sind zu!“, erklärte der Mann mit ruhiger Gelassenheit. „Da müssen wir uns schon was andres einfallen lassen. Wir könnten sie mit rein nehmen; wir haben doch Platz genug am Tisch. Hast du Hunger, Schätzchen?“
„Ja, ich hab Hunger und mir ist kalt. Kaufen Sie mir Streichhölzer ab? Zehn Döschen für eine Mark.“
„Hörst du sie Karl? Ist sie nicht süß. Ich könnte sie glatt adoptieren. Hör mal, Kleine! Möchtest du bei uns wohnen? Hättest du Lust in einem riesigen Haus zu wohnen?“
„Ich hab eine Wohnung, bei Mama und Papa. Kaufen Sie mir Streichhölzer ab?“
„Lore, sollen wir sie mit rein nehmen? Wenigsten zum Aufwärmen! - Vielleicht trinkt sie mit uns um Mitternacht ein Glas Sekt.“
„Karl! Was sollen Bergers dazu sagen? Und Königs erst! Die mögen doch überhaupt keine Leute von niederem Stand. Vielleicht hat die sogar Läuse! Hu! Lass die Kleine lieber da wo sie hingehört. Gib ihr einen Schein, Karl.“
Der Mann fummelte in seiner Rocktasche und zog ein dickes Bündel strubbelig gefaltetes Geld heraus. Er blätterte mit angefeuchtetem Finger und streckte Poki einen Schein hin, nachdem er ihn nochmals befühlt hatte.
„Da, Schätzchen! Kauf dir ne Limo - oder besser nen warmen Kakao dafür.“
„Karl! Du bist und bleibst ein Geizhals! Weißt du, was ein Glas Champus hier kostet? Und da gibst du unserem Schätzchen nur fünf Mark!“, rief die grüne Frau empört, kramte in ihrem silbernen Handtäschchen und gab Poki einen Schein.
„So, Schätzchen! Wir wollen das alte Jahr doch nicht mit schlechtem Gewissen hinter uns lassen. Steck´s schnell weg. Jetzt hast du schon zehn Mark. Grüß deine Mama von uns. - Und wir wünschen dir einen guten Rutsch ins neue Jahr.“
Damit drehten sie weg und verschwanden im Eingang des Cafes, aus dem leise Musik ertönte.

Auf der Hohen Straße fegte der Wind so stark, dass er Poki manchmal leicht anheben konnte. Im Eingang eines großen Musikgeschäftes stellte sich Poki unter. Sie musste sich einen Augenblick ausruhen und hier war keine Wind. Sie hockte sich wieder auf den Rucksack und versteckte die steif gefrorenen Füße unter dem dünnen Kleid. Sie wusste nicht, warum sie traurig war; etwas war nicht richtig mit ihr und mit ihren Hölzern. Niemand wollte die Streichhölzer kaufen; lieber schenkten sie ihr Geld. Sie musste mit Papa sprechen, ganz vorsichtig, denn Papa war empfindlich.
„He, Kleine! Na, biste auch alleine unterwegs?“
Der Mann sah verdreckt und schmuddelig aus. Er trug mindestens fünf Röcke übereinander; seine zweite Hose schaute unten raus. Sein Bart war strubbelig, grau und sehr lang. Die kleinen runden Augen erinnerten Poki an die Schweine auf dem Bauerhof im Allgäu.
„Möchten Sie Streichhölzer kaufen? Zehn Döschen für eine Mark!“
„He! Du bist Geschäftsfrau? Hast schon etliche Märker in der Tasche, was? Na, sag schon!“
„Ganz wenig hab ich. Nicht viel, die meisten Leute wollen nicht kaufen.“
„Zeig mal her! Wir zählen´s mal, dann weißt du gleich, was du verdient hast.“
„Nein!“, sagte Poki entschieden und hielt ängstlich die Hand auf der Jackentasche.. Der Mann griff mit seinen klobigen Fingern blitzschnell in die Tasche ihrer Jacke, zog mit grellem Auflachen die wenigen Scheine heraus.
„Lass mal gucken! Also, - das ist ja ganz schön was!“, rief der schmuddelige Penner, Dann ging alles blitzschnell. Sie bekam einen Stoß vor die Brust, fiel nach hinten, stieß sich den Kopf an der Tür. Poki schrie vor Schreck und Schmerzen auf.
Der Mann war weg und mit ihm ihr Geld. Sie suchte zitternd den ganzen Boden ab, aber da lag nichts. Die Tränen liefen ihr pausenlos herunter; sie fühlte nichts mehr, war wie in einem Traum.
Poki nahm den Rucksack auf und schlich zurück zum Domplatz. Der heftige Eiswind kam jetzt von vorne, ließ die Nasenlöcher zufrieren. Es schneite heftiger; als sie am Dom ankam, konnten die Scheinwerfer ihr Licht nicht mehr durch den dichten Schnee zwingen - der Dom war dunkel. Poki schlich um die kantigen Mauern herum, bis sie den Platz fand, an dem ihre Mama immer saß, wenn sie mit Lajos bettelte.
Sie setzte sich auf die eisigen Steine, lehnte den Rücken an die schorfige Wand. Dann fingen die Glocken wieder an; sie sangen so mächtig, so laut und so durchdringend, dass Poki die Wellen in ihrem dünnen Körper fühlen konnte.
Dann plötzlich barst die Nacht. Durch den dichten Schnee sah Poki die wunderbarsten Lichter zum Himmel hochsteigen. Es rauschte, knallte, zischte, platzte und tausende bunter Sterne flogen umher. Der Dom war plötzlich in bunte Farben gehüllt, sah ganz neu aus. Gelbes Licht löste rote Flammen ab; blaue Sterne folgten auf kreisende grüne Bälle.
„Sie begrüßen das neue Jahr“, flüsterte Poki und griff in den Rucksack. Sie schüttete einige Streichholzdöschen in den Schoß und öffnete eines.
„Ich will´s auch begrüßen, Großmutter. Es soll ein schönes Jahr werden. Ich will mit Lajos und Papa tanzen und ich will - ich will dahin, wo es immer warm ist.“
Sie zündete ein Hölzchen nach dem andren an, hielt es in die Luft und dann waren diese kleinen Flammen schöner und prächtiger als alle großen Raketen. Sie spürte die Wärme und wenn sie ihr Gesicht ganz nah an die brennenden Hölzer hielt, war es fast wie im Sonnenschein auf der warmen Wiese im Allgäu. Es wollte nicht aufhören mit dem Knallen und den freudigen Rufen. Und aus allen Ecken hörte Poki Stimmen, helles Lachen, laute Rufe und knallende Sektkorken.
Dann tauchte Poki in einen großen, weißen Tunnel; die Stimmen auf dem Domplatz hallten ganz komisch – weit weg und wurden langsam immer leiser. Die bunten Lichter verblassten, aber dafür wurde das Licht im Tunnel immer weißer. Warm war es hier; Poki ließ die Hände mit dem letzten Streichholz langsam in den Schoß fallen.

Als es stiller wurde in dieser wüsten Sylvesternacht, als die übermütigen Rufe verhallt waren, als die letzte Rakete verloschen war, als die Menschen wieder zurück in die warmen Gasthäuser und Wohnungen gegangen waren, da saß Poki in einem Meer abgebrannter Hölzer. Ihre dünnen Arme lagen auf dem quittegelben Kleid. Eine dicke Schneeschicht legte sich beschützend über Poki. Ihre Augen waren weit geöffnet, blickten in die Nacht, die wieder Dunkel war.

Am Tag nach Neujahr, als die Menschen ihren Kater schon wieder vergessen hatten, schrieen fünf Zentimeter große Buchstaben auf der Titelseite eines Kölner Boulevardblattes die erste Botschaft des neuen Jahres heraus:
„Unbekanntes Kind in der Sylvesternacht erfroren! Wer kennt dieses Mädchen (siehe Foto)? An der Mauer des Doms fanden frühe Kirchgänger ein kleines Mädchen. Sie scheint in der Silvesternacht unbemerkt aus dem Haus gelaufen zu sein und ist im Schneesturm erfroren.
Wieso ist das in unsrer liebenswerten Stadt möglich? Hat niemand dieses Kind gesehen? Oder hatte man keine Zeit, um das Kind nach Hause zu bringen? Wir sollten uns schämen, dass so ein kleines Mädchen alleine und unbemerkt in der Kälte herum irren musste. Wo waren ihr Eltern? Wenn Sie dieses Mädchen kennen, dann rufen Sie bitte die örtliche Polizeistation an.“

Es gab keinen Anruf. Der Parkplatz am Rhein war wieder leer, die Promenade zeigte sich den Spaziergängern wieder ohne Makel. Nur ein hässlicher Ölfleck hatte sich auf dem Platz ausgebreitet, färbte den Schnee in schillernden Farben; - etwa an der Stelle, wo auf der gegenüberliegenden Fahrbahn ein schmutziger, unansehnlicher einzelner Pantoffel im Schneematsch lag.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
das ist

der helle wahnsinn! ich habe diese geschichte verschlungen wie sonst kaum etwas. weißt du, ich mache am samstag ein abendfüllendes programm mit geschichten und liedern aus meiner kindheit, da kommen auch traurige küchenlieder drin vor, und als ich das programm vorhin übte, kamen mir immer wieder die tränen wegen deiner geschichte, die die küchenlieder überdimensionierten. nur eines ist nicht stimmig - ein zigeunerkind mit dieser erziehung wird niemals einem fremden sein geld geben. da hör dich mal um. die geschichte kommt auf alle fälle in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 

lara_star

Mitglied
Märchen

Hallo Breimann,

also ich muß ehrlich gestehen, mir war die Geschichte etwas zu lang.
Mein Vater hat sie mir früher als gute Nacht Geschichte erzählt, drum hat es mich auch sehr gerührt, weil sie mich so eben doppelt sentimental werden läßt...
Ich fand auch die Leute in Deiner Geschichte zu brutal.
Ich glaub einfach nicht, daß sie alle so scheiße und verachtend sind.
Nunja.
Wie Du schreibst mag ich allerdings ganz gern sonst.
So long,
Lara
 

Breimann

Mitglied
Märchen

Hallo flammarion und lara star,
erst einmal Danke für die Kritik - und für das Lob. Das gegenseitige Vortragen von Geschichten und Liedern war früher bei uns im Hause auch üblich; warum macht man so etwas nur nicht mehr?
Übrigens ist mir die Idee zu diesem angepassten Märchen gekommen, als ich in einem Kölner Blatt den etwas süffisant geschriebenen Bericht las, nach dem sich die Bettler nun schon gegenseitig bestehlen würden; als Beispiel wurde die Beraubung eines kleinen Bettlermädchens gebracht.
Diese Geschichte ist böse, soll böse sein - sie ist mein Beitrag zur globalen Verhetzung aller Sinti und Roma - gerade in Köln. Es ist keine "Gute-Nacht-Geschichte" mehr; das war einmal - leider.
Mit ganz lieben Grüßen
eduard
 

Kyra

Mitglied
auch aus Köln

Hallo Eduard,

es ist mektwürdig gerade bei so einer Geschichte, wenn man die beschriebenen Orte so genau kennt. Es ist keine Gutenachtgeschichte mehr, es ist bittere Realität. Wobei ich nicht genau weiß, wie die beste Lösung für diese Kinder und ihre Eltern aussehen sollte.

Danke für die Geschichte

Kyra
 

Breimann

Mitglied
Antwort an Kyra

Hallo Kyra,
ja das ist das Problem. Ich bin Kölner (nahe dran) und Münchnener (oft, siehe die Geschichte "Angst"). Ich glaube, die Lösung hat nur jeder Einzelne. Wir delegieren das aber nur zu gerne an die Politik und an die Justiz. Gleich welche Farbe diese Politik vor sich herträgt, sie haben einfach kein Herz. Sie wollen nur (wiedere)gewählt werden. Es geht um Einfluss, Pfründe und Geld. Darunter leiden die Ärmsten und manche von uns leiden mit.
Viele Grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

lieber breimann! da deine geschichte zu den anrührendsten zählt, die ich je gelesen habe - ich finde, du stellst hier sogar das original in den schatten - habe ich mir erlaubt, ein wenig darin hZurück

Das kleine Mädchen mit den Streichhölzern

Veröffentlicht von Breimann am 11. 07. 2001. 19:48
Das kleine Mädchen mit den Streichhölzern
Ein Märchen?
Es war entsetzlich kalt; es schneite, und es war bereits vollständig dunkel an diesem letzten Abend im Jahre 1999 - Silvesterabend. In dieser Kälte und Finsternis ging Poki zaghaft auf die erleuchteten Häuser der Stadt zu.
Poki war ein kleines, sehr dürres Mädchen mit langen schwarzen Haaren, in die zwei gelbe Flatterbänder geflochten waren, mit hellbrauner Haut und großen braunen Augen in einem schmalen Gesicht. Mit der hellroten, dünnen Jacke, die sie schon an kühlen Sommerabenden getragen hatte, dem quittegelben Kleid, das an einen sonnenüberfluteten Strand gehörte - und den nackten Füßen war Poki viel zu leicht bekleidet.
Sie fror am ganzen Körper, war völlig verkrampft, zitterte und dachte ständig an ihren Papa, der sehr ärgerlich gegrunzt hatte, als sie am Morgen ihre Winterschuhe und die dicke Jacke anziehen wollte.
„Kannst auch gleich im Pelzmantel gehen! Feine Dame spielen, was? Mitleid musste wecken; musst ärmlich aussehen. Zieh das da an!“ hatte er geschrieen und ihr die Sommersachen hingeworfen. „Heut ist Silvester, da geben die Leute, wollen ein gutes Zeichen setzen für das neue Jahr. Musst sie traurig ansehen! Verstanden, mein Engel?“ hatte er versöhnlich und viel leiser hinzugesetzt.
Sie hatte ursprünglich Pantoffeln angehabt, als sie am frühen Morgen von zu Hause fortging, aber einer war schon weg! Es waren sehr große Pantoffeln, die früher ihre Großmutter getragen hatte. Man konnte in jedem von ihnen zwei Kinderfüße verstecken, so groß waren sie. Den linken rosafarbenen Pantoffel hatte Poki verloren, als sie vorhin über die Rheinuferstraße rannte, während zwei Wagen in rasender Eile vorüberjagten. Er war hoch in die Luft geflogen, vom nächsten Auto erfasst worden und dann im Schneegestöber verschwunden. Sie hatte sich nicht noch einmal auf die Straße getraut. Dann hatte sie den zweiten Pantoffel in die Hand genommen, denn mit einem nackten und einem Pantoffelfuß kann man nicht laufen.
Der rappelige Wohnwagen ihrer Familie stand unterhalb der Rheinmauer auf dem Parkplatz eines noblen Restaurants, der Bastei, das jetzt geschlossen hatte, direkt am Rheinufer.
„Ist verboten – na und? Geht´s euch was an?“ hatte Papa mürrisch gesagt, als sich ein Passant beschwerte.
„Ruiniert mit seiner Dreckskiste das ganze schöne Bild unserer Promenade. Drecksvolk!! Zigeunerpack! Macht, dass ihr dahin verschwindet, wo ihr herkommt. Wenn Adolf noch da wäre, dann . . .“ hatte der Mann zu seiner Frau gesagt, drohend die Hand gehoben und war wütend weggegangen.
Sie waren in der Woche vor Weihnachten angekommen, nach einer langen Fahrt. Sie kamen aus Süddeutschland, wo sie seit dem Sommer gelebt hatten. Der klapperige Mercedes hatte es noch bis zur Rheinuferstraße geschafft, dann war er rülpsend und stotternd liegengeblieben. Der Wohnwagen war auch nicht mehr in Ordnung, die Bremsen versagten ständig. Eigentlich hatten sie direkt nach Köln-Ossendorf gewollt, wo viele Sinti und Roma wohnten – auch ihre zahlreichen Verwandten. Aber jetzt mussten sie erst einmal Geld haben, denn, das wusste Poki, ohne Geld gab es kein Essen und keine grüne Flasche für Papa.
„Musst Geld besorgen, Kind! Wir haben nichts zu essen und Papa muss den Wagen reparieren – Benzin fehlt auch“, hatte ihre Mama am frühen Morgen gesagt. „Musst heut alleine gehen. Weißt ja, Lajos ist noch nicht gesund; ich muss ihn doch pflegen. Kannst du?“ Poki hatte genickt, - sie war stolz darauf, dass man ihr das zutraute.

Sie schlidderte hastig über das glatte Kopfsteinpflaster, in einer Hand den rosaroten Pantoffel und auf dem Rücken einen verschlissenen Rucksack, der ständig von den schmalen Schultern rutschen wollte.
Sie lief immer in Richtung Dom, dessen nadelspitze Doppeltürme sie über alle Häuser hinweg sehen konnte. Hastig überquerte sie die öde große Rheinwiese und als sie endlich zwischen den hohen, hell erleuchteten Häusern war, flaute der böige Ostwind ab. An einem wuchtigen roten Gebäude blieb Poki stehen. Sie hörte Musik; die so schön war, so herrlich melodisch, dass sie gebannt lauschte. Sie liebte Musik sehr, diese hier war nicht zum tanzen, dennoch bewegten sich ihre Füße.
„Steckt dir im Blut! Kommt von meiner Seite!“ hatte Großmutter erkennbar stolz erklärt.
Durch eine große Glastür sah sie eine riesige, menschenleere Halle mit prächtigen Blumengebinden. An der Wand neben der Tür hing ein großes Plakat mit vielen Namen und einem Bild, das eine große Musikkapelle zeigte.
„Silvesterkonzert“, las Poki langsam. Oh ja, sie konnte lesen – ein wenig. Das hatte ihr die Großmutter beigebracht, denn mit Schule war nichts. Sie waren ja ständig unterwegs.
„Alles nicht wichtig. Was du kannst, ist gut, mehr muss nicht sein. Wer soll Geld verdienen, he?“ hatte Papa gesagt; und was Papa sagte, war immer richtig.
Poki besann sich, erinnerte sich an ihre Aufgabe. Hier waren alle Leute im Haus, hörten Musik; da konnte man nichts verkaufen. Also stieg sie die steile Treppe neben der Philharmonie hoch, ging vorbei am dunklen Museum und erreichte, völlig außer Atem, den großen Domplatz.
Der mächtige, kunstvoll getürmte Steinhaufen war wie üblich angestrahlt von versteckten Lampen und Scheinwerfern, die auf den Nachbarhäusern montiert waren. Im Licht tanzten unzählige Schneeflocken, zeigten die genauen Umrisse der Strahlen.
„Da, wo soviel Licht ist“, dachte Poki, „muss auch Wärme sein“. Aber auf der Domplatte pfiff der Ostwind heftig, wirbelte den feinen Schnee wild in die Luft, ließ große Schneekringel auf dem Boden im Kreis tanzen.
Menschen waren keine zu sehen, deshalb flüchtete sie schnell in einen beleuchteten Eingang. Sie hockte sich auf den Rucksack und schob ihre kleinen eiskalten Füße in den plüschigen Pantoffel. Erst, als sie einige Minuten darin steckten, bemerkte sie die Schmerzen in den Füßen - besonders die Zehen stachen und brannten, der Schmerz trieb ihr das Wasser in die Augen.
Ein großer Junge mit einer dicken Pelzjacke, die Hände in riesigen Handschuhen, sauste mit seinem Skateboard über den Platz. Er machte große, mutige Sprünge und scharfe Wendungen. In der Schneestille hallten die heftigen Klickgeräusche des Skateboards wie Pistolenschüsse.
Poki beobachtete ihn, sah ihn in weitem Bogen auf sich zufahren. Plötzlich, als der Wind eine kleine Pause einlegte, als die Schneewolken sich ermattet senkten, entdeckte der Junge das Mädchen, das mit angezogenen Knien in der Einfahrt des exquisiten Handtaschengeschäftes hockte. Er stellte sich auf sein Brett und rollte auf Poki zu, die sich ängstlich verkrampfte.
„He! - Was treibst du denn da? Willste klauen? Oder bettelst du die Leute an?“ fragte er scharf, überheblich klingend.
Poki sagte lieber nichts, schaute aus ihren großen braunen Augen auf den riesigen Jungen, der sie kalt anlachte.
„Bist von den Zigeunern, was? Kommste aus deren Scheißlager? Sag was, sonst muss ich dich bei der Polizei melden!“
Aber Poki blieb still, sie spürte eine zittrige Angst vor dem großen Jungen. Der bückte sich, nahm sein Skateboard hoch und griff blitzschnell ihren Pantoffel. Er zerrte ihn von ihren Füßen und lachte laut, als er die plüschige Umrandungen des rosafarbenen Pantoffels sah.
„Zigeunerkram! Klasse! Weißt du was? Den klebe ich mir auf mein Skateboard fest. Was glaubst du, was meine Kumpel sagen? Die schießen vor Spaß ne Runde Kölsch! Kannste mir glauben!“
Poki streckte beide Hände aus und sah den Jungen verzweifelt an. „Bitte, gib ihn mir. Mir ist kalt. Bitte!“
„Tschüß, Zigeunerin!“ rief der Junge, schwenkte seine Beute und verschwand im Schneegestöber.
Poki besah ihre nackten schmalen Füße, die im Schnee noch brauner aussahen als sonst. Sie konnte nicht sehen, dass ihre Zehen schon eine weißblaue Färbung angenommen hatten. Sie mochte ihre Füße, die bei jeder Musik sofort den richtigen Takt fanden und ihren leichten Körper wie eine Feder wirbeln ließen.
Sie tanzte so gerne, konnte lange auf den schmalen, zierlichen Zehen stehen und träumte davon, eines Tages eine gefeierte Tänzerin zu werden, die zu den Liedern ihres Volkes die Hüften schwang, die Beine im Rhythmus der heißen Melodien so schnell setzte, dass den Zuschauern schwindelig wurde. Poki hatte bei ihren Festen die brennenden Augen der Männer gesehen, die den Tänzerinnen gierig folgten.
„Hoffentlich erfriere ich mir nicht meine Zehen“, dachte sie ängstlich und rubbelte die Füße mit den kalten Händen.
Dann stand sie entschlossen auf. Sie musste sich beeilen, musste sehen, dass sie ihre Waren los wurde. Sie hatte Angst davor, ihren Papa zu enttäuschen; sie hatte Angst vor den Schlägen, die sie immer bekam, wenn sie faul oder nachlässig gearbeitet hatte.
In ihrem alten Rucksack trug sie eine Menge Schwefelhölzer. Die Döschen waren je zu zehn mit einem kleinen Bändchen zusammengeschnürt. Sie öffnete den Rucksack und nahm ein Bund in die Hand.

Sie war schon seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen, hatte an einem Imbisstand auf der Schildergasse zwei weggeworfene Brötchen und ein halbes Würstchen aus dem Abfalleimer geholt. Das Würstchen war sogar noch warm gewesen. Zwischendurch hatte sie sich im Kaufhof gewärmt, war die Rolltreppen rauf und runter gefahren. Sie vergaß, dass sie verkaufen musste, fand nur Freude an den vielen Sachen, die in dem warmen Haus auslagen. Mittags, als die Geschäfte schlossen, waren die Menschen weg gewesen, die Straßen lagen wie verwaist.
Sie hatte während des ganzen Tages nur zwei Bündel Streichhölzer an eine alte Frau verkauft - und niemand hatte ihr ein Almosen gegeben. Durstig und verfroren war sie in der frühen Dunkelheit zum Wohnwagen gegangen, um sich aufzuwärmen und etwas Milch zu trinken. Im Wagen brannte ein kleiner Ofen, an den sich ihr Papa, ihre Mama und ihr kleiner Bruder Lajos gesetzt hatten. Lajos hatte gelächelt, als er Poki sah.
Lajos war erst drei Jahre alt und brauchte noch nicht alleine raus. Er wurde von Mama in einem langen Tuch zum Betteln getragen. Mama setzte sich immer an die Kirchenmauern und bettelte. Lajos musste vorher Milch trinken, die komisch schmeckte, das machte ihn sehr müde; er schlief dann während der ganzen Zeit tief und fest.
Als Poki in den warmen Wagen kam und ihre leere Tasche zeigte, war ihr Papa wütend geworden und hatte sie sofort wieder rausgeschickt. Also war Poki schnell gegangen, denn Papa hatte so richtig böse Augen gemacht. Und in der Hast, mit der sie unbedacht die stark befahrene Rheinuferstraße überquerte, war das Missgeschick mit dem Pantoffel passiert.

Poki war verzagt und unschlüssig; sie wusste nicht recht, wie sie ihre Hölzer verkaufen konnte - sie hatte Angst vor den fremden Menschen, mochte sie nicht ansprechen. Die Blicke der Menschen, die sie ansahen, als wäre sie ein ekliges Ungeheuer, ängstigten sie. Die Schneeflocken fielen auf ihr langes schwarzes Haar, das schön gelockt über ihren Nacken hinabfloss; die weißen Flocken blieben auf den Haaren liegen, schmolzen nicht.
Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz, und aus manchen Küchenventilatoren wirbelte der Geruch von köstlichem Gänsebraten. Es war ja Silvesterabend, und dieser Gedanke erfüllte alle Sinne des kleinen Mädchens. Im vorigen Jahr hatte sie mit der Großmutter das Feuerwerk am Sylvesterabend angesehen.
„Wenn sich das alte, müde Jahr ins Totenbett legt, gebiert es das neue Jahr. Es weiß, dass es sterben wird, dass die Menschen seinen Tod feiern und nur noch „Hosianna! Es lebe das neue Jahr!“ rufen werden. Aber es tut seine Pflicht, schenkt uns das Neue und lässt uns hoffen, dass es besser wird als das Alte“, hatte sie dabei erklärt.
Ja, Großmutter wusste viel vom Leben. Als sie im letzten Herbst starb, war Pokis Leben ärmer geworden. Sie konnte sich keinen schnellen Trost mehr holen, den sie doch oft so dringend brauchte. Großmutters weiche Hand auf dem Kopf hatte immer die Schläge vergessen lassen.
„Nicht traurig sein, Poki-Mädchen. Denk an die Geschichte vom Jahreswechsel, kleine Poki“, hatte ihr Großmutter auf dem Sterbebett gesagt. „Ich bin wie das alte Jahr, ich muss bald gehen. Hab viele Sachen nicht so gut gemacht wie ich wollte, aber ein paar Dinge sind doch ganz ordentlich geworden. Ich bin das alte und du bist das neue Jahr. Mach es besser als ich, meine Kleine.“

Poki zuckte zusammen, als die Glocken dumpf anschlugen. Dann, nach der Überraschung, kam die Freude. Die Glockenklänge überschlugen sich, wetteiferten miteinander. Helle und dunkle, leichte und schwere Töne wirbelten durcheinander, spielten ein unbekanntes Lied; Poki war wie berauscht und lief auf den Dom zu. Da waren Menschen; viele Menschen; schwarz gekleidet, dicht vermummt, Hüte ins Gesicht gezogen, Hände in den Manteltaschen, hasteten sie durch den wirbelnden Schnee, eilten auf die rettende Tür im Dom zu.
Poki stellte sich an die breite Pforte, durch die die Menschen eilig verschwanden; sie suchten Wärme und Schutz vor dem wieder aufgelebten Wind. Poki hielt ein Bündel Streichhölzer hoch, sah den Leuten ins Gesicht und rief leise immer wieder den gelernten Spruch: „Bitte! Zehn Döschen Streichhölzer - für eine Mark. Bitte helfen sie mir!“
Aber die Hutränder rutschten noch tiefer, die Mantelkrägen stiegen bis vor die Augen; niemand hielt an. Nur ein ärgerliches „zzzzz!“ hörte Poki einmal. Dann hörten die Glocken zögernd auf und nur noch zwei einzelne Männer hasteten an Poki vorbei. Sie steckte den Kopf in den Dom, spürte die warme Luft, die nach Weihnachten roch und trat zwei kleine Schritte vor ins Halbdunkel.
„Na, mein Fräulein? Wo wollen wir den hin?“
Ein dicker, großer Mann mit einem roten bodenlangen Gewand stand plötzlich vor Poki. Vor seinem mächtigen Bauch trug er ein großes Holztablett, auf dem Heftchen und Blätter lagen. Fast wäre Poki vor Angst und Schreck umgefallen, aber die Augen in dem runden Gesicht lächelten. Da blieb sie stehen und hielt dem Mann ihre blau gefrorene Hand mit den Hölzern entgegen.
„Gehört dir dieses große Haus? Hast du gerade die Glockenmusik gemacht?“
„Oh nein!“
„Bist du der Papst?“
Da musste der Mann lachen, was seinen Bauch wabbeln und die Prospekte auf seinem Bauchladen tanzen ließ.
„Oh, das wär was! Nein, nein! Ich arbeite hier nur. Kirchenschweizer nennen mich manche Leute. Ich muss diese Blätter verkaufen“, sagte er und hielt Poki einen bunten, kleinen Prospekt hin.
„Ich muss auch verkaufen. Hier! Das muss ich verkaufen!“
„Aha! Weißt du was? Wir könnten doch einen Tausch machen. Ich gebe dir so ein schönes buntes Blatt mit dem Hl. Christophorus und du gibst mir ein Päckchen Hölzer. Damit zünde ich dann unsere Kerzen im Dom an und denk dabei immer an dich - mit einem guten Gebet.“
Poki nickte und der Tausch war blitzschnell vollzogen. Sie starrte das bunte, glänzende Bild an, das ihr vorkam, als wär es eine heimliche Nachricht – nur für sie. Auf dem Bild trug ein bärtiger Riese ein pummeliges, nacktes Kind auf dem Rücken. Er überquerte, gestützt auf einen langen Stab, einen breiten Fluss. „Silvester“ war mit schwarzer Schrift in den Fluss geschrieben worden. Am linken Ufer stand auf einer Tafel: 1999. Am anderen zeigte ein zweites Schild die Zahl 2000.
„Der Hl. Christophorus soll uns gut vom alten ins neue Jahr bringen. Verstehst du das?“
„Ja, so was hat Großmutter auch immer gesagt. Nur von dem Riesen wusste sie nichts. Sie hat immer gesagt, dass es eine weise Frau wäre, die uns dabei hilft.“
Der Mann sah ihr lange nach, als sie in Gedanken versunken, über den leeren Platz ging. Da erst entdeckte er ihre nackten Füße und wär ihr um ein Haar nachgelaufen.

Von oben, von der Domplatte, hatte der Bahnhof gar nicht so riesig ausgesehen. Aber als Poki vor der riesigen gläsernen Schwingtür stand, musste sie den Kopf doch weit in den Nacken legen, um die Uhr zu sehen. Noch mehr als zwei Stunden bis Mitternacht!
Vielleicht konnte sie hier ihre Hölzer loswerden und Papa glücklich machen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einen lachenden Papa. Im Sommer, als ein Bauer im Allgäu ihnen Unterkunft und Verpflegung gewährt hatte, da hatte sie mit dem glücklich lachenden Papa auf der Blumenwiese getanzt; das würde sie nie vergessen.
Warme Luft schlug ihr ins Gesicht und ihr wurde schwindelig. Die große Eingangshalle und der lange Durchgang zu den Bahnsteigen waren leer und still. Sie schlich langsam vorwärts, schaute in die großen, mit Luftschlangen, Ballons und Konfetti geschmückten Schaufenster, bewunderte die bunten Glückwunschschilder und Sektgläser. Alle Geschäfte waren festlich geschmückt, aber menschenleer - die Türen waren geschlossen.
„Na, Kleine? Was machst du hier?“
Diesmal saß Poki aber wirklich auf dem Boden; der Schreck war groß und sie machte einfach die Augen zu.
„Na, na! Keine Angst, mein Mädchen. Ich tue dir nichts. Wer bist du denn? Wie heißt du?“
Die Stimme war nicht böse und deshalb machte Poki die Augen wieder auf. Vor ihr stand ein junger Mann mit einer Uniform und einer schicken Mütze auf den langen, blonden Locken. Und auch seine Augen waren gut; sie lächelten und blitzten.
„Poki! – Ich bin Poki.“
„Aha! Und ich bin Nico. Was machst du alleine hier?“
„Ich will – ich möchte – Streichhölzer verkaufen. Papa und Mama sind im kaputten Wohnwagen - mein Bruder Lajos ist krank.“
„Und? Hast du Erfolg?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich kann´s nicht gut. Papa wird schimpfen.“ Sie wusste nicht, warum sie das alles diesem fremden Mann erzählte, aber sie fühlte sich wohl dabei.
„Na, hier wirst du auch nicht viel verkaufen; die Leute wollen lieber in das neue Jahr feiern, als mit einem öden Zug ins Jahr 2000 fahren.“
„Dann geh ich wieder.“
„Du siehst ja schrecklich verfroren aus! Und nackte Füße hast du! Mein Gott! Wie kann man nur so ein kleines Mädchen in diesem eisigen Wetter barfuss ins Freie schicken? Unmenschen! Warte! Ich schau mal, ob wir nicht ein paar alte Socken in der Wachstube haben.“
Er rannte los und Poki stand auf, lehnte sich an die dicke Säule. Der Mann, der Nico hieß, kam schnell zurück.
„Nichts! Leider nichts da! - Und die Geschäfte sind alle zu, sonst hätten wir dir sicher was besorgen können. Aber warte mal“, sagte er, griff in die Gesäßtasche, zog eine Geldbörse raus und gab ihr einen Schein.
„Sind nur zwanzig Mark, aber es hilft dir sicher etwas, kleine Poki. Ich hab auch ein kleines Mädchen, ungefähr so alt wie du. Wenn ich daran denke, dass sie barfuss im Schnee herumlaufen müsste!“
„Danke, Herr Nico“, flüsterte Poki und zuckte zusammen, als eine harte Stimme ertönte: „Was ist, Herr Brunner? Gibt´s Probleme?“
„Nein, nein! Alles klar, Chef! Hab alles im Griff!“ rief Nico und schob Poki zum Ausgang.
„Mein Boss! Der duldet keine Bettler hier im Bahnhof. Ich muss dich leider wieder in die Kälte jagen, sonst schmeißt der mich raus. Ich brauch doch die Arbeit.“
Als die Tür sich öffnete, blieb Poki die Luft weg. Eisige Kälte schlug ihr entgegen, die jetzt, nach der Wärme im Bahnhof, entsetzlich war.

„Noch zwei Stunden! – Die werden wir auch noch schaffen, dann haben wir das Jahr und das Jahrhundert gekillt!“ hörte sie einen Mann über sich reden. Sie saß eng an die Wand gepresst, hatte den Rucksack unter sich geschoben. Die Stimme klang seltsam, wie Papas Stimme, wenn er mit den Tageseinnahmen zufrieden war und sich die grüne Flasche in den Mund gesteckt hatte. Dann konnte er lachen – wie der Mann da oben, am offenen Fenster, aus dem gelbes Licht auf das Pflaster fiel.
Und er sprach wie Papa, ganz langsam, als müsse er über jedes Wort nachdenken, es abwiegen, untersuchen und dann erst freigeben für die still sitzenden Zuhörer.
Und dann gab es Streit. Sie redeten alle durcheinander. Es ging wohl um die Frage, ob das neue Jahrtausend in diesem, oder im nächsten Jahr anfangen würde.
„So ein Quatsch“, dachte Poki. „Erst war vorne eine Eins und nachher ist da eine Zwei. Das ist doch klar genug, das sieht man doch.“
Auf der anderen Seite, etwas tiefer gelegen, war ein großes Cafe, mit sicher mehr als tausend Glasfenstern. Sie konnte tanzende und trinkende Menschen sehen. Wuchtige Leuchter hingen über ihren Köpfen und tauchten alles in glitzerndes Weiß, ließen die Kleiderfarben prächtig leuchten.
Soviel Licht!“ staunte Poki und stellte sich vor, dass es dort auch warm sein müsste. In ihrem Wohnwagen brannten immer nur eine oder zwei Kerzen, die aber dafür gut dufteten.
Poki war noch nicht ganz sechs Jahre alt. Wenn sie zehn war, brauchte sie das nicht mehr zu machen, hatte Papa gesagt, dann hätte er was Besseres mit ihr vor. Die Menschen hätten mit einer beinah Erwachsenen nicht mehr genug Mitleid, dann müsse ihr Bruder Lajos ran. „Lajos“, dachte sie, „Lajos, mein kleiner zarter Lajos würde eine Nacht in dieser Kälte kaum überleben.“
„Komm, mach das Fenster zu! Es ist saukalt! Da friert uns der Champagner ein!“ rief über ihr eine Frauenstimme und lachte dann lange. Die Stimme klang warm und ruhig, selbst jetzt, wo sie doch laut gerufen hatte. Der Streit hatte aufgehört; sicher hatten sie das mit den Zahlen entdeckt.
Mamas Stimme war anders - sie war grell, tat manchmal weh in den Ohren, und wenn sie Poki schlagen musste, weil zu wenig Geld in der Tasche von Poki war, dann überschlug sich ihre rauchige Stimme. Mama konnte nichts dafür. Sie war zuständig für die Kinder, musste sie zur Arbeit anhalten. Mama hatte Angst vor Papa, der sie schlug, wenn sie die Kinder nicht streng genug strafte. Es war schon alles richtig so; wie sollte es auch anders gehen? Mama und Papa hatten es nicht leicht. Immer wieder mussten sie ihre Kinder zur Arbeit ermahnen und besonders Lajos war schwierig, wollte immer draußen spielen.
Vorige Woche war es ganz schlimm gewesen. Sie waren gerade einen Tag in Köln, Mama saß mit Lajos am Dom auf der Platte. Sie bettelten schon lange an diesem ersten eisigen Wintertag, aber in der Zigarrenschachtel waren erst ein paar Groschen und etliche Knöpfe. Zuerst hatte der eisige Wind Lajos zittern gemacht, dann war er bewusstlos geworden. Mama hatte ihn quer auf dem Schoß gehabt und nicht gesehen, dass der ganze Unterkörper frei lag. Erst als sie aufstehen wollte, hatte sie gemerkt, dass mit Lajos was nicht stimmte. Er hatte kaum noch geatmet und selbst, als sie ihm auf den Kopf geschlagen hatte, war er nicht wachgeworden.
Mama hatte ganz laut um Hilfe geschrieen und die Leute hatten sofort die Polizei gerufen. Lajos war ins Kinderkrankenhaus gekommen und erst nach einer Woche durften sie ihn abholen. Die Polizei hatte Mama verhaftet, aber sie war noch am gleichen Tag nach Hause gekommen und hatte Prügel vom Papa bekommen - sehr viel Prügel. Es war, weil sie nichts erbettelt hatte, weil sie nicht aufgepasst hatte und weil Lajos durch ihre Unaufmerksamkeit so lange ausfiel. Und das war ja auch schlimm. Papa wusste schon, was er tat. Dann hatte Papa vor Kummer die ganze grüne Flasche ausgetrunken. Und heute war Lajos noch immer etwas krank und sie musste alleine in die Stadt.
„He! Guck dir die da an! Ist die bescheuert, oder was?“
Vor ihr standen zwei junge Leute. Der Junge trug einen langen, hellen Parka, der fast bis zu den Knien reichte, schlenkerte eine geöffnete Bierflasche mit der einen und die Hand des Mädchens mit der andren Hand. Er trug einen flauschigen, durchsichtigen Ziegenbart, der vom Wind geschüttelt wurde. Das Mädchen war sehr blond, hatte eine dicken roten Skianorak an und rauchte hastig.
„Lass die doch in Ruhe. Das ist Zigeunerpack; die sind gefährlich. Nachher sticht dich einer mit dem Messer. Komm, hauen wir ab!“
„Warte! Das kann spaßig werden. – Wie heißt du, he?“
„Poki.“
„Poki und was weiter? Hast du keinen richtigen Namen? Heißt du vielleicht Pokemon?“
„Poki, nur Poki. Möchten Sie Streichhölzer von mir kaufen?“
„Was soll ich von dir kaufen? Hab ich richtig gehört? Hast du das geschnallt? Streichhölzer! Ich krieg die Krise! He, bist du von Gestern? So´n Scheißzeug kauft dir doch kein Aas ab. Hier! Guck´s dir an! Das ist ein Wegwerffeuerzeug! Das kauft man heute, und nicht so´n blödes Hölzerzeug! Na? Haste das schon mal gesehen?“
Er zündete und eine lange, bläulichweiße Flamme schoss heraus, direkt auf Pokis Gesicht zu.
Poki starrte das Feuerzeug an; sie konnte ihre ängstlichen Augen erst lösen, als die Flamme mit einem leisen „Klick“ verlosch.
„Und wieder und wieder!“ rief der Junge und knipste bestimmt zehnmal sein gelbes Plastikfeuerzeug an.
„Komm, lass das arme Ding in Ruhe. Unsere Leute warten schon - ist doch langweilig hier! Mann! Mach voran, oder willste anwachsen?“ fragte das Mädchen, hob fröstelnd die Schultern.
„Halt die Klappe, Alte. Erst bin ich dran!“ sagte er lässig, ließ das Mädchen los und ging auf Poki zu. Er ließ sich in die Hocke herunter, konnte das verängstigte Mädchen jetzt direkt ansehen. Er grinste, musterte ihre braune Haut, die pechschwarzen Haare und das durch die markante Nase fremdartig wirkende Gesicht.
„Biste aus Rumänien?“
„Nein, ich wohne im Wohnwagen.“
„Aha! Zigeunerpack, ja? Klaubande? Fresst ihr immer noch Kinder? Kannste mir mal zeigen, wie man ein Portemonnaie aus der Tasche zieht? “
Poki schwieg und wünschte sich in den Wohnwagen, an die Füße ihrer Großmutter, wollte die schützende Hand auf dem Kopf fühlen. Sie fror entsetzlich und ihre Füße schmerzten.
„Zeig mal dein Zeug her! - Vielleicht kauf ich dir was ab“, forderte der Junge.
Poki stand langsam auf, öffnete den Rucksack und griff hinein. Bevor sie mit ihren kältesteifen Fingern ein Bündel greifen konnte, hatte der Junge ihr den Rucksack aus der Hand gerissen.
„Lass man! Mach ich selber!“ rief er, hielt den Rucksack mit der Öffnung nach unten, schwenkte ihn wie eine Fahne und schüttelte kräftig.
Die Streichholzschachteln purzelten heraus, flogen weit verstreut in den Schnee. Erst als kein Bündel mehr im Rucksack war, warf er ihn vor ihre Füße, hob eines der Päckchen hoch und betrachtete es genauer.
„Zehn Stück – he? Was willste dafür haben, sag!“
„Eine Mark soll ich fordern“, flüsterte Poki und sah nur die Streichholzschachteln an, die im Schnee lagen.
„Was? Ich hör wohl nicht richtig? Eine ganze gute deutsche Mark für so einen Scheiß? Willst du mich verarschen?“
„Nein, bitte, bitte! Ich muss doch eine Mark dafür nehmen. Papa hat das gesagt.“
„Gib der Kleinen die Mark und komm. Mir frieren die Füße an!“
Der Junge wühlte in seiner Jackentasche und zog dann einen Geldschein heraus.
„Na gut, is ja Sylvester! Hier! Ich nehm zwei Päckchen. Wenn ich das auf der Party erzähle, bin ich King! Eh, das gibt Spaß! Hier, kannste den Hunni wechseln?“
„Hunni? Was ist das?“
„Mensch, bist du blöd, oder was? Das ist ein glatter, frisch gepresster Hunderter! Kannste den wechseln oder nicht?“
„Hundert Mark? Nein, ich hab kein Geld.“
„Hast kein Geld? Na dann nicht!“ sagte er grinsend, zog den Schein zurück, ließ ihn mit zwei Streichholzpäckchen in der Jacke verschwinden und griff die Hand seines Mädchens.
„Prosit Neujahr!“ rief der Junge, trank mit verdrehten Augen aus der Bierflasche - und das Mädchen lachte, als sie wegliefen.
Poki sah ihnen nach, bis sie im Schneegestöber verschwunden waren. Dann griff sie den Rucksack und sammelte die Streichhölzer ein. Die Reklamepapiere auf den Döschen waren nass und die dünne Pappe der meisten Schachteln wellte sich bereits.
Poki weinte, sie war todunglücklich, denn sie wusste, was sie erwartete. Während sie mit den klammen Händen den Schnee von den Schachteln abwischte, hörte sie gegenüber am Cafe übermütiges Lachen und schnelle, laute Stimmen.
Ein älterer dicker Mann mit weißen Haaren wischte sich ein paar Schneeflocken von seinem schwarzen Anzug. Er stand vor der Tür des Cafes, schaute in den Schneehimmel und lachte laut. In seiner Hand qualmte eine lange Zigarre; sie sah aus, wie die langen braunen Dinger, die Großmutter so gerne geraucht hatte.
„Die im Laden stibitzten schmecken besser als alle geschenkten und tausendmal besser als gekaufte Zigarren!“ hatte Großmutter oft lachend gesagt und dabei schöne Kringel in die Luft geblasen, damit Poki sie fangen sollte.
Die Frau war viel jünger, trug ein langes grünes Kleid und eine Kette, die schnelle weiße Blitze abschoss. Alle Lampen des Cafes spiegelten sich in dem glitzernden Schmuck. Die Frau war richtig schön, fand Poki, die sie in Gedanken mit ihrer Mama verglich. Mama war von oben bis unten rund und hatte tausend Falten im Gesicht. Aber ihr Augen waren wunderschön, besonders wenn sie zornig blitzten.
Poki stapfte auf die beiden lachenden Menschen zu, die sie erst im letzten Augenblick bemerkten.
„Schau dir das an! Wenn Weihnachten wär, würde ich denken, ein Christkind sei vom Himmel gestiegen!“ rief der Mann belustigt.
„Schätzchen! Komm her. Komm zu uns, komm. Wir tun dir nichts!“ rief die Frau, beugte sich vor und hielt Poki die Hand hin, als würde sie einem Hund eine Wurstscheibe anbieten.
„Ist die süß! Schau dir das niedliche Kleid an! Und die wunderschönen Haare. Nein, was hat die Kleine für eine schöne Gesichtsfarbe. Warst du im Süden, Schätzchen?“
„Hör auf, Lore! Das ist eine Zigeunerin! Die sind so braun! Und hübsch sehen die Zigeuner nur aus, solange sie jung sind“, sagte der Mann und sog an seiner Zigarre. „Musst die aber mal sehen, wenn sie älter werden. Dick, faltig, hässlich! Bah“, sagte der Dicke mit grunzendem Lachen.
„Ich bin Poki! Ich verkaufe Streichhölzer. Können Sie mir welche abkaufen?“
„Nein!“ schrie die Frau plötzlich und zeigte auf Pokis Füße. „Karl! Schau dir das an! Das Kind hat keine Schuhe an!“
„Mein Gott! Was soll denn das werden?“
„Karl, tu doch was! Kauf der Kleinen ein paar Stiefel oder Schuhe oder irgendwas! Das arme Kind!“
„Schätzchen! Die Geschäfte sind zu!“ erklärte der Mann mit ruhiger Gelassenheit. „Da müssen wir uns schon was andres einfallen lassen. Wir könnten sie mit rein nehmen; wir haben doch Platz genug am Tisch. Hast du Hunger, Schätzchen?“
„Ja, ich hab Hunger und mir ist kalt. Kaufen Sie mir Streichhölzer ab? Zehn Döschen für eine Mark.“
„Hörst du sie, Karl? Ist sie nicht süß? Ich könnte sie glatt adoptieren. Hör mal, Kleine! Möchtest du bei uns wohnen? Hättest du Lust, in einem riesigen Haus zu wohnen?“
„Ich hab eine Wohnung, bei Mama und Papa. Kaufen Sie mir Streichhölzer ab?“
„Lore, sollen wir sie mit reinnehmen? Wenigsten zum Aufwärmen. Und vielleicht trinkt sie mit uns um Mitternacht ein Glas Sekt.“
„Karl! Was sollen Bergers dazu sagen? Und Königs erst! Die mögen doch überhaupt keine Leute von niederem Stand. Vielleicht hat die sogar Läuse! Hu! Lass die Kleine lieber da, wo sie hingehört. Gib ihr einen Schein, Karl.“
Der Mann fummelte in seiner Rocktasche und zog ein dickes Bündel strubbelig gefaltetes Geld heraus. Er blätterte mit angefeuchtetem Finger und streckte Poki einen Schein hin, nachdem er ihn nochmals befühlt hatte.
„Da, Schätzchen! Kauf dir ne Limo - oder besser nen warmen Kakao dafür.“
„Karl! Du bist und bleibst ein Geizhals! Weißt du, was ein Glas Champus hier kostet? Und da gibst du unserem Schätzchen nur fünf Mark!“ rief die grüne Frau empört, kramte in ihrem silbernen Handtäschchen und gab Poki einen Schein.
„So, Schätzchen! Wir wollen das alte Jahr doch nicht mit schlechtem Gewissen hinter uns lassen. Steck´s schnell weg. Jetzt hast du schon zehn Mark. Grüß deine Mama von uns. Und wir wünschen dir einen guten Rutsch ins neue Jahr.“
Damit drehten sie sich weg und verschwanden im Eingang des Cafes, aus dem leise Musik ertönte.

Auf der Hohen Straße fegte der Wind so stark, dass er Poki manchmal leicht anheben konnte. Im Eingang eines großen Musikgeschäftes stellte sich Poki unter. Sie musste sich einen Augenblick ausruhen und hier war keine Wind. Sie hockte sich wieder auf den Rucksack und versteckte die steif gefrorenen Füße unter dem dünnen Kleid. Sie wusste nicht, warum sie traurig war; etwas war nicht richtig mit ihr und mit ihren Hölzern. Niemand wollte die Streichhölzer kaufen; lieber schenkten sie ihr Geld. Sie musste mit Papa sprechen, ganz vorsichtig, denn Papa war empfindlich.
„He, Kleine! Na, biste auch alleine unterwegs?“
Der Mann sah verdreckt und heruntergekommen aus. Er trug mindestens fünf Röcke übereinander und seine zweite Hose schaute unten raus. Sein Bart war strubbelig, grau und sehr lang. Die kleinen runden Augen erinnerten Poki an die Schweine auf dem Bauernhof im Allgäu.
„Möchten Sie Streichhölzer kaufen? Zehn Döschen für eine Mark!“
„He! Du bist Geschäftsfrau? Hast schon etliche Märker in der Tasche, was? Na, sag schon!“
„Ganz wenig hab ich. Nicht viel, die meisten Leute wollen nicht kaufen.“
„Zeig mal her! Wir zählen´s mal, dann weißt du gleich, was du verdient hast.“
„Nein“, sagte Poki entschieden. Der Mann griff mit klobigen Fingern in die Tasche ihrer Jacke und zog die wenigen Scheine heraus.
„Lass sehn! Also, - das ist ja ganz schön was.“
Und dann ging alles blitzschnell. Sie bekam einen Stoß vor die Brust, fiel nach hinten, stieß sich den Kopf an der Tür und schrie vor Schreck und Schmerzen auf.
Der Mann war weg und mit ihm ihr Geld. Sie suchte zitternd den ganzen Boden ab, aber da lag nichts. Die Tränen liefen ihr pausenlos herunter; sie fühlte nichts mehr, war wie in einem Traum.
Poki nahm den Rucksack auf und schlich zurück zum Domplatz. Der heftige Eiswind kam jetzt von vorne, ließ die Nasenlöcher zufrieren. Es schneite heftiger, und als sie am Dom ankam, konnten die Scheinwerfer ihr Licht nicht mehr durch den dichten Schnee zwingen; der Dom war dunkel. Poki schlich um die kantigen Mauern herum, bis sie den Platz fand, an dem ihre Mama immer saß, wenn sie mit Lajos bettelte.
Sie setzte sich auf die eisigen Steine, lehnte den Rücken an die schorfige Wand. Und da fingen die Glocken wieder an. Sie sangen so mächtig, so laut und so durchdringend, dass Poki die Wellen in ihrem dünnen Körper fühlen konnte.
Und dann barst die Nacht. Durch den dichten Schnee sah Poki die wunderbarsten Lichter zum Himmel hochsteigen. Es rauschte, knallte, zischte, platzte und tausende bunter Sterne flogen umher. Der Dom war plötzlich in bunte Farben gehüllt, sah ganz neu aus. Gelbes Licht löste rote Flammen ab; blaue Sterne folgten auf kreisende grüne Bälle.
„Sie begrüßen das neue Jahr“, flüsterte Poki und griff in den Rucksack. Sie schüttete die Streichholzdöschen in den Schoß und öffnete eines.
„Ich will´s auch begrüßen, Großmutter. Es soll ein schönes Jahr werden. Ich will mit Lajos und Papa tanzen und ich will - ich will dahin, wo es immer warm ist.“
Sie zündete ein Hölzchen nach dem andren an, hielt es in die Luft und dann waren diese kleinen Flammen schöner und prächtiger als alle großen Raketen. Sie spürte die Wärme und wenn sie ihr Gesicht ganz nah an die brennenden Hölzer hielt, war es fast wie im Sonnenschein auf der warmen Wiese im Allgäu. Es wollte nicht aufhören mit dem Knallen und den freudigen Rufen. Und aus allen Ecken hörte Poki Stimmen, helles Lachen, laute Rufe und knallende Sektkorken.
Dann tauchte Poki in einen großen, weißen Tunnel; die Stimmen auf dem Domplatz hallten ganz komisch – weit weg und wurden langsam immer leiser. Die bunten Lichter wurden blasser, aber dafür wurde das Licht im Tunnel immer weißer. Warm war es hier und Poki ließ die Hände mit dem letzten Streichholz langsam in den Schoß sinken.

Als es stiller wurde in dieser wüsten Sylvesternacht, als die übermütigen Rufe verhallt waren, als die letzte Rakete verloschen war, als die Menschen wieder zurück in die warmen Gasthäuser und Wohnungen gegangen waren, saß Poki in einem Meer abgebrannter Hölzer. Ihre dünnen Arme lagen auf dem quittegelben Kleid. Eine dicke Schneeschicht legte sich beschützend über Poki. Ihre Augen waren weit geöffnet und blickten in die Nacht, die wieder Dunkel war.

Am Tag nach Neujahr, als die Menschen ihren Kater schon vergessen hatten, schrieen fünf Zentimeter große Buchstaben auf der Titelseite eines Kölner Boulevardblattes die erste Botschaft des neuen Jahres heraus:
„Unbekanntes Kind in der Sylvesternacht erfroren! Wer kennt dieses Mädchen (siehe Foto)? An der Mauer des Doms fanden frühe Kirchgänger ein kleines Mädchen. Sie scheint in der Silvesternacht unbemerkt aus dem Haus gelaufen zu sein und ist im Schneesturm erfroren.
Wieso ist das in unserer liebenswerten Stadt möglich? Hat niemand dieses Kind gesehen? Oder hatte man keine Zeit, um das Kind nach Hause zu bringen? Wir sollten uns schämen, dass so ein kleines Mädchen alleine und unbemerkt in der Kälte herumirren musste. Wo waren ihr Eltern? Wenn Sie dieses Mädchen kennen, dann rufen Sie bitte die örtliche Polizeistation an.“

Es gab keinen Anruf. Der Parkplatz am Rhein war wieder leer, die Promenade zeigte sich den Spaziergängern wieder ohne Makel. Nur ein hässlicher Ölfleck hatte sich auf dem Platz ausgebreitet, färbte den Schnee in schillernden Farben - etwa an der Stelle, wo auf der gegenüberliegenden Fahrbahn ein schmutziger, unansehnlicher einzelner Pantoffel im Schneematsch lag.



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Eduard

erumzukorrigieren. hier das ergebnis:
 

Breimann

Mitglied
Erfreut

Hallo,
flammarion,
ich bin auf Reisen, schau nur mal kurz ins Imternet. Hab gerade deine Korrektur! gesehen, nicht gelesen. Ich drucke sie an und lese später, antworte erst nach dem 18. 8.
Liebe Grüße
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

lieber breimann, das sind natürlich alles nur vorschläge! ich bin so begeistert von deiner geschichte, mir kommen jetzt noch die tränen. ganz lieb grüßt
 

Breimann

Mitglied
Hilfe

Hallo flammarion,
ci bin soeben zurück, völlig matt von einer schrecklichen Bahnfahrt und werde mich in den nächsten Tagen melden.
Liebe Grüße
eduard
 

Breimann

Mitglied
2. Version

Jetzt ist eine zweite Version da, die auch einige Vorschläge von flammarion und kyra berücksichtigt.
Ich bedanke mich für die feine, liebevolle Zuarbeit.
Mit Dank
eduard
 



 
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