Das Leben ist schön

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich werde wach, tauche aus dem Dämmern des Schlafes auf, sehe die ehemals weiße Gardine, habe wieder gestern Abend den Rollladen nicht heruntergelassen und weiß: Ich brauche sofort etwas zu trinken. Sofort. Morgens ist es immer am schlimmsten. Ich muss trinken, sonst läuft gar nichts bei mir. Die Zunge klebt pelzig am Gaumen. Ich wälze mich aus dem Bett, lasse mich beinahe auf den Boden fallen und schlurfe ins Bad. Klappe den Toilettendeckel auf und stütze mich schwer auf die Brille. Ich würge, würge, aber es kommt nichts. Kotzen auf leeren Magen ist schlimm, noch schlimmer ist aber der Teufel, der in meinem Kopf sitzt und sein Recht fordert. Wodka. Jetzt. Sofort. Ich quäle mich hoch, sehe mein Gesicht im Spiegel und erkenne mich nicht. Das bin nicht ich, das ist der andere. Der vor dem Wodka. Und jetzt weiß ich nicht, wo ich den hernehmen soll.

Ich könnte zum Büdchen um die Ecke gehen, das hat schon seit sechs Uhr geöffnet. Ich habe es länger gemieden, damit sie mich dort nicht allzu gut kennen lernen. Aber selbst das schaffe ich heute nicht, nie und nimmer. Im Prinzip gelang mir das früher schon nicht. Aber da war ich noch irgendwie gesellschaftsfähig. Jetzt nicht mehr. Ich glaube, ich stinke. Wann habe ich mich zuletzt gewaschen, rasiert, die Zähne geputzt? Ich erinnere mich nicht. Schaue an mir herunter, an meinem ausgeleierten Unterhemd und meiner verwaschenen Boxershorts vorbei auf meine schmutzigen Füße. So kann ich mich nicht sehen lassen. Ist nicht irgendwo noch etwas, was Wodka am nächsten kommt? Ich tapse in die Küche, sehe die vielen leeren Flaschen und nuckele wie ein Baby an ihnen. Lecke die Rillen der Ränder ab, um die letzten Tropfen zu ergattern. Schließlich reiße ich die Schränke auf, wühle in Schachteln, Tüten, schiebe Essig und Öl beiseite, schaue in den Kühlschrank, sehe Ketchup und faules Obst, öffne den Unterschrank der Spüle und da steht sie.

Die eiserne Reserve.

Eine Flasche billiger Weinbrand, zwischen den Putzmitteln und Spüli, welches schon lange nicht mehr benutzt wurde, deshalb weiß ich das gar nicht mehr. Ich angele nach der Flasche. Meine Finger zittern so stark, dass es mir kaum möglich ist, den Verschluss zu öffnen. Beim fünften Versuch bekomme ich es endlich hin. Ich setze an und nehme einen tiefen Schluck.

Ich schmecke Wasser.

Scheiße. Noch einen Schluck. Wieder Wasser. Wer hat hier Wasser reingefüllt? Meine Ex, diese Hure? Meine Kinder, diese verlogenen Biester?

Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich jetzt irgendwie etwas zu trinken auftreiben muss. Schlurfe zurück ins Schlafzimmer, suche im Kleiderschrank und finde eine Kiste, die meine Ex zurückgelassen hatte. Hab ich noch nie reingeschaut. Ich öffne den Deckel und meine Augen hasten fieberhaft von einem Gegenstand zum anderen: Haarspangen, Modeschmuck, zerdrückte Cremetuben. Meine Finger wühlen am Boden der Kiste und ertasten ein Fläschchen. Ich zerre es heraus und sehe Klosterfrau Melissengeist. Das muss ja uralt sein, aber jetzt ist es mir egal. Ich schnuppere an der Flaschenöffnung, atme tief den bekannten Duft ein und dann trinke ich ohne Nachzudenken einen Schluck.

Er brennt wie Feuer.

Noch einen. Der zweite brennt noch mehr, aber der Teufel wütet schlimmer denn je in meinem Kopf, seine langen Finger tasten sich bis in meine tiefsten Gehirnwindungen und ich höre seine hämische Stimme: „Komm, du Weichei, du Schlappschwanz, gib's mir!“ Ich schlucke, fühle meinen Magen rebellieren und gleichzeitig drohen mir die Sinne zu schwinden. Das ist doch Wahnsinn hier! Kurz schwappt die Erinnerung an Tante Martha durch mein Hirn, die sich bei jeder Migräne das Zeug auf die Schläfen tupfte … der Teufel zerrt weiter an seinen Ketten und ich trinke wieder, bis ich mich aufs Bett fallen lasse. Die Flasche entgleitet mir und ich spüre, wie ich ruhiger werde.

Der Teufel scheint fürs Erste zufrieden.

Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen habe, als ich mich irgendwann aufraffe. Ich prüfe im Bad mein Aussehen. Ja, jetzt bin ich menschenähnlich. Ich werde mein letztes sauberes T-Shirt anziehen, ein Kaugummi in den Mund schieben und zum Büdchen gehen, um mir mein Frühstück zu besorgen.

Die Welt ist wieder in Ordnung. Das Leben ist schön.
 

Paloma

Mitglied
Hallo DocSchneider,

schon als diese Story als Kommentar unter Ironbiber stand, hatte ich so ein kleines Problem damit, aber da war es ja noch nicht deine Geschichte.
Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass ein Alkoholiker, der morgens mit nem Riesenbrummschädel aufwacht und nichts anderes im Kopf hat als den ersten, so wichtigen Schluck, bemerkt, dass die Gardinen mal weiß waren.

Ich wälze mich aus dem Bett, lasse mich beinahe auf den Boden fallen und schlurfe ins Bad.
Klingt als lies er sich absichtlich beinahe fallen. Lieber aktiv schreiben: Ich wälze mich aus dem Bett und falle (beinahe der Länge nach) auf dem Boden … oder hin …

Und weiter diese ganzen Gedanken, wann er sich zuletzt rasiert, gewaschen oder sonst was hat … nee nicht solche Gedanken, solange er auf Entzug ist. Diese Sorgen kommen erst, wenn er seinen Pegel erreicht hat, wenn es ihm „gut“ geht, dann erkennt er seine Misere und nimmt sich vor, es muss sich ändern. Wenn er so abhängig ist, dann wird er einen Morgen wie diesen nicht zum ersten Mal erleben – und braucht deshalb auch nicht suchen oder nur mit der Gewissheit sowieso nix zu finden – oder der falschen Hoffnung etwas übersehen zu haben. Klosterfrau ist ja noch relativ harmlos.

Ich öffne den Deckel und meine Augen hasten fieberhaft von einem Gegenstand zum anderen:
Wohl eher die Blicke?

Der Rest deines Textes, nach: Er brennt wie Feuer finde ich richtig gut. Meiner Meinung nach solltest du ihn umstellen – und erst nach diesem ganzen Abschnitt mit den Gedanken an Gardinen, Sauberkeit etc. beginnen.

Liebe Grüße
Paloma
 

Vagant

Mitglied
Nun mal Vorsicht - dünnes Eis, aber ich denke, die Frau Doc schreibt gut genug und kann Texte gut lesen und manchmal sitzt ihr vielleicht sogar der Schalk im Nacken. Und dann denkt sie sich: gib dem Forum mal etwas, woran es sich abarbeiten kann. Scherzkeks quasi.
Der Ursprung des Textes ist ja bekannt. Ich denke, dass er auf diese Art nicht funktioniert. Mir fehlt da eine Geschichte hinter dem Protagonisten. Etwas, das ihn für mich erlebbar macht, womit er vielleicht sogar meine Sympathie gewinnt (bevor es dann wieder abwärts geht). Der Typ braucht ein bisschen Fallhöhe, denke ich. Ihn einfach nur fallen zu lassen gefällt mir so nicht.
Sorry, Vagant.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Diese Momentaufnahme aus der Welt eines Süchtigen verträgt weder Logik noch Scherz - letzteres schon gar nicht.

Danke für die Meinungen,
lG, Doc
 

Roger Izzy

Mitglied
Good evening Doc

Wie geht's?
Willkommen im Club
der lyrischen Säufer...

Ich war wieder unterwegs. Von einem Zimmer ins andere. Ich hatte vorher in meiner Bruchbude in jedem Zimmer –auch auf dem Scheisshaus – eine gottverdammte Flasche Gin hingestellt und ging auf Kneipentour – ohne Weiber... Man muss sich halt auch in Zeiten des Scheiss Coronas zu helfen wissen...

Doc, Deine Geschichte hat mir gefallen. Sie ist rund und stimmig. Na, ja, sie könnte ein wenig abgefuckter sein...
Du kennst mich ja...
Vier Punkte.

Liebe Grüsse aus Zürich
Roger Izzy
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Roger,

vielen Dank - ich freue mich, wenn Dir diese Geschichte gefallen hat. Rund und stimmig ist gut. Für das Abgefuckte bist eher Du zuständig. :)

Viele Grüße und danke für die Punkte

DS
 

Else Marie

Mitglied
Schönen Abend DocSchneider,

deine Geschichte hat mich ganz schön aufgewühlt und beeindruckt.
Die kurzen, drängenden Sätze in der Gegenwartsform hasten nach vorne.
Alles wirkt dadurch ruckartig und getrieben. Durch die Ich-Form kommen die Gedanken und Gefühle eindringlich rüber.
Und durch die Absätze hebst du einzelne Gedanken hervor. Zwangsläufig entstehen so kleine verzweifelte Pausen.
Am Schluss greifst du dann den Titel auf, der ja so gar nicht zu der Geschichte passen mag, aber am Ende dann doch auf verrückte Weise stimmt, zumindest aus der Sicht eines Süchtigen.

Grüße, Else Marie
 

Roger Izzy

Mitglied
Hallo Doc

Ich habe von Else-Marie eine Rezension zu Deiner Säuferstory 'Das Leben ist schön' erhalten...
Die Lorbeeren darfst Du in Deiner literarischen Ruhmeshalle an die Wand hämmern – nicht ich...
Im Profil unter DocSchneider ist auch mein Profil zu finden. Zufällig? Warum auch nicht – zwei lyrische Trinker, zusammen einsam im Refugium ihre Runden ziehend – verdammt, verflucht, gebrandtmarkt. Letzters gilt wohl nur für mich...

Cheers nach Deutschland

God bless from Zurich

Roger Izzy
 

Else Marie

Mitglied
Mir ist jetzt nicht so ganz klar, was da passiert ist und wie. Ich hab also dir, Roger Izzy, die Nachricht geschickt?!?
Aber sie ist doch and der richtigen Stelle. Ich bin verwirrt. Sorry, bin neu und steh auf dem Schlauch ;)
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Elsa Marie,

vielen Dank für Deine positive Reaktion!

Hallo Roger Izzy,

da Du den Text schon einmal kommentiert hast, bekommst Du eine Nachricht, wenn ein neuer Kommentar erscheint. :)

Was Du mit Profil meinst, verstehe ich leider auch nicht ganz ...

Allen frohe Pfingsttage,

Gruß DS
 



 
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