Das letzte Gespräch

Bo-ehd

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Das letzte Gespräch



Gregor Hanft fühlte, wie der Tag, sein vermeintlich letzter, tonnenschwer auf seinen Schultern lastete. Der 48jährige Büroleiter, der auf den heutigen Betriebsausflug verzichtet hatte, saß mit kummervollem, leichenblassem Gesicht an seinem Schreibtisch in dem verwaisten Büro und ließ Stunde für Stunde die verschiedenen Stationen seines Lebens mit seiner Ehefrau Rita Revue passieren. Und mit jeder Episode, mit jedem Vorfall in seinem Eheleben, mit jeder Gemeinheit und Rücksichtslosigkeit seiner Person gegenüber, mit jeder Erniedrigung, die er sich hatte gefallen müssen, wurde die Last der Erinnerungen erdrückender und ihm bewusster, wie zauberhaft angenehm sein Leben hätte verlaufen können, wenn …

Aber es lief eben nicht so, und so hatte er vor Tagen bereits den Entschluss gefasst, dieser Anhäufung von Frust, Entbehrung, Rat- und Hilflosigkeit und letztendlich dem unerträglichen Leid, das ihn auszuzehren drohte, ein Ende zu setzen. Die Gedanken in ihm reiften und reiften, und als er entschieden hatte, dass sein Vorhaben endgültig und unumkehrbar sein soll, bereitete er den tödlichen Cocktail vor, indem er die Wochenration seiner Herztabletten zerbröselte und in einem gut gefüllten Wasserglas feinsten kanadischen Bourbons aufzulösen versuchte. Voller Entschlossenheit, das Ungeheuerliche jetzt durchzuziehen, starrte er auf den Grund seines Glases und beobachtete, wie sich die Tabletten langsam auflösten. Da klingelte sein Telefon. Er schaute auf das Display und erkannte die Nummer seines Anschlusses von zu Hause. Das konnte nur Rita sein. „Wie passend!“, kommentierte er das Läuten so eisig wie ironisch.

„Du wirst mich nicht aufhalten!“, fauchte er ins Telefon. „Das Fass ist übergelaufen. Ich habe ein und allemal genug von deinen Gemeinheiten. Vom ersten Tag unserer Ehe an hast du nur an dich gedacht. Du hast nicht einmal Bescheid gesagt, wenn du unser gemeinsames Geld ausgegeben hast. Und was für einen verdammten Luxus hast du dir geleistet! Die teuersten Klamotten, einen Sportwagen zum Angeben, einen Pool und Reisen, Reisen, Reisen. Und den teuersten Schmuck, der einen Tag, nachdem du ihn gekauft hast, nur noch ein Drittel wert war. Und ich Idiot musste mich vor dir rechtfertigen, wenn ich etwas Taschengeld haben wollte. Deine Gier und dein Luxusgehabe kotzen mich an!“

„Gregor, bitte, hör mir …“

„Warum sollte ich dir zuhören? Nein, du hörst mir zu! Du bist nicht nur egoistisch, sondern auch rechthaberisch. Wie oft habe ich dich gebeten, dass wir Probleme ausdiskutieren sollten, wie es in einer Ehe üblich ist! Leider haben wir es nicht ein einziges Mal hinbekommen. Und willst du wissen warum? Weil du in deinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal zurückgesteckt hast. Du hast ja immer Recht gehabt! Da gibt es natürlich auch keinen Grund, etwas auszudiskutieren. Du bist doch zerfressen von Intoleranz und Rechthaberei. Du hast dich nicht einmal aufraffen können, mir auch nur einmal richtig zuzuhören. Was ist das denn für eine Scheiß-Ehe? Kannst du mir das mal erklären?“

„He, Gregor, mach mal langsam. Ich …”

“Ich bin noch nicht fertig, das Schlimmste kommt ja noch. Weiß du, was das Übelste von allem ist? Es ist deine Rücksichtslosigkeit. Erinnere dich mal! Wenn du etwas vorhattest, musste ich spuren. Wie damals, als du unbedingt über Pfingsten nach Rom wolltest. Ich hatte von meinem Unfall noch die schlimmen Schmerzen in meinem Bein und konnte kaum laufen. Du hast nicht zurückgesteckt und den Termin verschoben, nein, ich musste dich die tausendfünfhundert Kilometer auch noch chauffieren.

Als ich mich auf meine Meisterprüfung vorbereitet habe, musstest du jeden Abend eine Party feiern, deren Vorbereitungen mir bereits ab drei Uhr nachmittags die Nerven geraubt haben. Das Größte aber hast du dir geleistet, als ich ins Krankenhaus musste wegen einer Hepatitis, die du mir von deinem Urlaub in Indien mitgebracht hast. Du warst geimpft, und ich musste zwei Wochen auf die Intensivstation. Und was hast du nicht alles den Ärzten vorgelogen! Du hast ihnen von Infektionen erzählt, die ich nie hatte. Als sie mich dann weitere zwei Wochen in Quarantäne behielten, konntest du endlich deine Urlaubsreise nach Australien antreten. Ohne mich, Hauptsache, ich war festgesetzt.“

„Stopp, Georg! Bitte zuhören, hier ist . . .“

„Nein, du lässt mich jetzt ausreden, denn eines muss ich noch loswerden. Deine Berechenbarkeit und Herzenskälte. Wann bist du das letzte Mal auf meine Bedürfnisse eingegangen? Wann hast du mir mal etwas zugestanden? Hast du mich jemals spüren lassen, dass wir Ehepartner sind? Warum haben wir seit kurz nach unserer Hochzeit getrennte Schlafzimmer? Doch nicht, weil ich schnarche. Du hast kein Interesse am Sex mit mir, ja, du zuckst sogar zurück, wenn ich dich nur mal in den Arm nehmen will. Du lehnst mich ab, Rita, und ich fühle mich bei all den Abweisungen wie ein Masochist. Und deshalb halte ich es nicht mehr aus mit dir. Ich habe keine Lust mehr, so zu leben, und darum werde ich mein erbärmliches Dasein mit einem guten Schluck beenden. Du wirst den Rest meines Vermögens nicht . . .“

„Georg, verdammt nochmal, hier ist Iris, deine Nachbarin. Was erzählst du mir denn da? Komm bitte sofort nach Hause, Rita hat Schlaftabletten genommen, und wir wissen nicht, ob sie durchkommt. Komm bitte schnell!“

„Wer ist wir?“

„Der Notarzt und die Polizei.“

„Gut, ich komme.“ Georg überlegte, ob er den vorbereiteten Whiskey hinunterkippen sollte, stellte sein Vorhaben aber umgehend zurück, um sicher und ohne Alkoholfahne zu Hause anzukommen. Fast wehmütig kippte er den Bourbon in den Topf mit der Azalee. Als er in die Straße einbog, in der er wohnte, kam ihm ein Sankra entgegen. Da wurde ihm der Ernst der Lage schlagartig bewusst.

Als er das Haus betrat, sprach ihn einer der Polizisten an. Er hielt einen Abschiedsbrief in der Hand.

„Sie können ihn selbstverständlich lesen“, räumte der Beamte ein. „Aber ich muss ihn wiederhaben; er gehört vorläufig zu den Akten.“

Gregor nahm ihn entgegen, entfaltete ihn aber zunächst nicht. Stattdessen überkam ihn ein Klagen, dass dem Polizisten ganz anders wurde. „Ach, meine Rita, meine arme Rita. Warum tut sie denn so etwas? Es war doch von Anfang an so viel Liebe zwischen uns, auch wenn wir das nicht immer zeigen konnten. Ein gutes Wort, und wir hätten das schönste Leben haben können. Du weißt gar nicht, wie ich dich tief in meinem Herzen liebe. Was soll ich denn jetzt machen ohne dich.“ Er schien wie ausgewechselt und sah plötzlich nur noch die wenigen schönen Seiten ihrer Ehe. Die neue Situation hatte einen totalen Sinneswandel in ihm bewirkt. Als ihm die Tränen in den Augen standen, entfaltete er den Brief, hielt ihn betroffen in der Hand, als wäre ihm gerade der Totenschein übergeben worden, und fuhr fort zu klagen: „Du und ich, wir haben doch sehr schöne Zeiten erlebt, als wir jung verheiratet waren. Und alle unsere Freunde haben uns als Paar bewundert, weißt du noch, Rita? Gott möge dir helfen, dass du am Leben bleibst!“

Als der Polizist die Hand ausstreckte und wortlos den Brief verlangte, begann Georg zu lesen.

Er setzte sich auf die Truhe unter der Garderobe, in der seine Pantoffeln aufbewahrt waren, und begann zu lesen:

Tu nicht so, als würdest du jetzt trauern, du Waschlappen. Ich habe es mit dir einfach nicht mehr ausgehalten. Du bist so ein Geizhals, lieblos, egoistisch und selbstverliebt, dass ich mich schäme …

Er las nicht weiter, faltete das Papier zusammen, gab es dem Polizisten zurück und wünschte sich, dass der Sankra für den Rest des Tages in einem Stau feststeckte.
 
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