Das Märchen vom freien Willen

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TaugeniX

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Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie morgen mit uns tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling erstaunt an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will vor dem alten Mann nicht als Feigling dastehen. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - dieses Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei werden überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Soll ich es Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und treuherzig in die Augen schaut? Ich hab ihm dann einen Stock geworfen und er ging ganz langsam hinkend ihn zu holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mir auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einen Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, wofür Sie da sind, wissen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass Gutes geschieht mit Ihnen.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



***



Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinem Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, dass er diese Grausamkeit überlebt, dass er nicht gebrochen wird? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei war, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke, Du Armer!" Er ringt nach Atem, schluckt die Tränen runter und sagt es noch einmal: "Ich danke Dir!“ So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bleibt er mit dem offenen Mund stehen…
 

TaugeniX

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Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie morgen mit uns tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling erstaunt an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will vor dem alten Mann nicht als Feigling dastehen. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - dieses Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei werden überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Soll ich es Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und einem treuherzig in die Augen schaut? Ich hab ihm dann einen Stock geworfen und er ging ganz langsam hinkend ihn zu holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mir auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einen Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, wofür Sie da sind, wissen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass Gutes geschieht mit Ihnen.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



***



Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinem Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, dass er diese Grausamkeit überlebt, dass er nicht gebrochen wird? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei war, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke, Du Armer!" Er ringt nach Atem, schluckt die Tränen runter und sagt es noch einmal: "Ich danke Dir!“ So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bleibt er mit dem offenen Mund stehen…
 

TaugeniX

Mitglied
Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie morgen mit uns tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling erstaunt an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will vor dem alten Mann nicht als Feigling dastehen. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - dieses Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei werden überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Soll ich es Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und einem treuherzig in die Augen schaut? Ich warf ihm dann einen Stock und er ging ihn langsam hinkend holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mich auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einem Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, weshalb Sie da sind, kennen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass etwas Gutes mit Ihnen geschieht.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



***



Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinen Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar sich nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, um diese Grausamkeit zu überleben, um nicht gebrochen zu werden? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei ist, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke, Du Armer!" Er ringt nach Atem, schluckt die Tränen runter und sagt es noch einmal: "Ich danke Dir!“ So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bleibt er mit offenem Mund stehen…
 



 
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