Das Märchen vom Leben

Jou Maveken

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Eine Blume, vollkommen weiß, mit zarten Ansätzen von Blättern am dünnen, saftig grünen Stängel, blüht verloren an einem wolkenverhangenen Morgen in einem Wald, der sich über einen riesigen Berg erstreckt. Sie ist die letzte Schneerose weit und breit. Um sie herum wachsen viele Tollkirschen und Disteln. Das Landschaftsbild wird von umgeknickten Bäumen bestimmt, die vom letzten Sturm zeugen. An einer der spitzen Bruchstellen klebt Blut von dem Dachs, der sich daran verletzt hat. Er selbst liegt tot daneben. Verblutet. Es herrscht beißender Gestank von dem verschmutzten Bach neben der kleinen Lichtung. Es ist ein recht verlassener Ort, noch keiner hat die kleine Rose je entdeckt, dabei blüht sie Jahr für Jahr, jeder lässt sich von der Masse an Hässlichem, Giftigem abschrecken, anstatt nur einmal dieses zarte Wunder zu betrachten.

Ein Schuss knallt und die wenigen Vögel, die sich hierher verirrt haben, kreischen und fliegen erschrocken auf. Da prescht ein junger Hirsch durch das Unterholz. Hinter ihm laufen Männer, in Tarnfarben gekleidet und mit Gewehren ausgestattet. Das Tier versucht, die andere Seite der Wiese zu erreichen, doch plötzlich erscheinen auch dort Jäger. Man sieht die Todesangst in den weit aufgerissenen Augen. Der erschöpfte Hirsch ist verdreckt und der Schweiß tropft ihm vom schneeweißen Fell, er zittert vor Furcht und seine Ohren bewegen sich willkürlich und unkontrolliert. Sein Keuchen wird vom Gejohle der Männer übertönt, die sichtlich Spaß daran haben, ihn von einer Seite zur anderen zu jagen und mit den vereinzelten Schüssen in die Luft zu erschrecken. Einer von ihnen, scheinbar der Anführer, tritt vor und begutachtet ihn mit einem fiesen Grinsen. Er zückt eine Machete und stapft zu dem hilflosen Tier. Es versucht noch ein letztes Mal zu entfliehen, als der Mann das gewaltige Messer in den Körper des prächtigen Hirsches rammt. Dieser stößt einen Schmerzensschrei aus, wirft den Kopf in den Nacken und fällt zu Boden. Anstatt ihn von seinem Leiden zu erlösen, hacken sie ihm mehrere Gliedmaßen ab, bis der Anführer mit einer großen Axt ausholt und dem wunderschönen Tier den Kopf abtrennt. Es ist tot und die Männer schreien vor Freude über einen solchen Fang. Als sie gehen, lassen sie alles zurück bis auf den Kopf. Den trägt einer von ihnen in der Hand. Er zieht ihn hinter sich her an dem kleinen Geweih, mit dem das Tier wohl erst seit kurzer Zeit angeben konnte. Seine Augen sind erstarrt und leer, man kann sich in ihnen versenken wie in einem großen See und man würde nie wieder auftauchen.

Es ist still. Doch wer kann von dieser Tat berichten? Mensch und Tier vor diesen Bestien warnen? Alles mit angesehen hat eine Blume, vollkommen weiß, mit zarten Ansätzen von Blättern am dünnen, saftig grünen Stängel. Doch sie schweigt, betroffen von den Grausamkeiten der Männer. Noch am selben Tag verblüht sie und als die Vögel wiederkehren und sehen, was passiert ist, da schweigen auch sie und kurz darauf lebt kein Wesen mehr in dieser Gegend, Kilometer weiter ist das Land von einem Tag auf den anderen unfruchtbar geworden, Flüsse sind ausgetrocknet und Pflanzen sind verdorrt. Sie alle schweigen und zeugen doch von den Taten, die sie gesehen haben. Und als die Männer nach vielen Jahren zurückkamen und in einem Dorf in der Nähe auf dem Marktplatz standen, da erblühte vor ihren Füßen eine einzelne Schneerose und alle Bewohner des Landes, die das sahen und die Männer erblickten, die wussten über deren Taten und die Männer kamen nirgends unter und als sie in die nächste Stadt zogen, da wussten es auch alle, denn Menschen, die schweigen nie. Dann aber, nach einigen Monden, waren die Männer erschöpft und wussten nicht weiter, sie hatten nichts zu essen und waren hungrig. Da trat ein Hirsch vor sie, wunderschön und prächtig und die Männer wollten ihn jagen, um ihn zu essen, doch der Anführer hielt sie zurück. „Nein, wir bezahlen für unsre Schuld! Dieses Tier ist ein Zeichen. Nur wenn wir es nicht jagen, werden wir frei.“ Keiner der Männer widersprach und so verschwand das Tier unbehelligt wieder. Und am nächsten Tag, da waren die Männer verhungert.
 
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