Das Märchen vom Nichts

wirena

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Das Märchen vom Nichts

Vor langer, langer Zeit als es weder Zeit noch Märchen gab, war das Nichts. Nichts war Nichts und das Nichts hatte Nichts. Dieses vollkommene Nichts langweilte sich für Nichts in seinem Nichts. Nichts füllte Nichts und Leere fühlte Nichts oder anders erzählt, Nichts fühlte Leere – und da geschah es.

Nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn
Ich
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Nichts staunte und wunderte sich ob so viel nichtssagenden Gedanken und erschrak fürchterlich. Der Schreck verdrängte die Leere und Nichts geschockt zerplatzte in seine Vollkommenheit, hörte auf Nichts zu sein und wurde das was es ist. Ein im Nichts Vollkommenheitsuchendeswerdendesstreben nach dem was es ursprünglich war. Doch es gab keine Rückkehr mehr in dieses vollkommene, ursprüngliche, wahre Nichts. Denn was ist, ist. In aber-aber-Milliarden Teilwahrheiten war nun das Nichts aufgesplittert.

Abertausendmilliarden von Jahren vergingen. Es begann die Zeit der Zeit. Vollkommenheitstreben, Werden, Vergehen, Vollkommenheitstreben, Werden, Vergehen. Immer und immer wieder und immer mehr wurde das Nichts, und es entfernte sich weiter und weiter weg von seinem Nichtsein. Und so entstanden und entstehen noch heute aus diesem nicht mehr Nichtsein Sterne, Planeten, Monde, Sonnen, Kometen. Die Erde mit Wasser, Pflanzen, Tieren, Menschen war und ist nach Menschensicht, vermutlich die vom ursprünglichen Nichts am weitesten entfernte Teilwahrheit. Obwohl auch hier Nichts alles durchströmt und ausfüllt auf der Suche nach seiner Vollkommenheit.

Die ersten Menschen nahmen Nichts, sich in dieser Teilwahrheit nicht wahr. Denn sie waren das, was sie waren und wussten nichts vom Nichts. Überall wo sie hinschauten, hinhörten war Etwas. Sie konnten mit ihren Händen greifen, Etwas ergreifen und mit der Zeit begreifen. Langeweile kannten sie nicht, denn es gab viel zu tun, um nicht hungern, frieren zu müssen. Vieles gab es zu entdecken und auch zu fürchten. Vor Donner und Gewitter mussten sie genauso Schutz suchen wie vor Tieren. Dass Pflanzen wachsen, blühen und oft auch Körner, Beeren, Früchte reifen liessen, war einfach so und darüber machten sie sich keine Gedanken. Erst später erkannten sie und wunderten sich darüber, dass aus winzig kleinen Samen, die ihnen tot, wie die Sandkörner schienen, essbare Köstlichkeiten wuchsen. Sie säten, pflanzten und bauten Häuser, um die Ernte abzuwarten. Sie wussten nun, dass es Etwas gibt, das sie nicht sehen, hören, riechen, tasten, greifen konnten, das aber dennoch auf geheimnisvolle Weise farbenfrohes Blühen aus den toten Samen zauberte. Dieses Etwas schleuderte sicher auch die Blitze aus den Wolken, hielt die Sterne am Himmel zusammen, damit sie nicht auf ihre Köpfe fielen, schickte Krankheiten und schenkte mancher Frau ein Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs. So dachte ein grosser Teil der Menschen und fürchteten sich vor diesem Mächtigen, Unbegreiflichen, Unsichtbaren, für das sie keine Worte fanden. Um sich weniger fürchten zu müssen, gaben die Menschen diesem Etwas Namen. Berge, Bäume, Plätze sowie der Sternenhimmel mit Sonne und Mond erkannten und ernannten die Menschen zu dessen Wohnstätten. Sie opferten, baten und dankten. Immer mehr nahm das Unbegreifliche, Unsichtbare Gestalt an. Die Menschen bauten Tempel, formten Statuen und malten Bilder. Auf unterschiedliche Weise gaben sie so ihrem Erleben, für das sie keine Worte hatten, Ausdruck, um Worte dafür zu finden.

Heilige Zeiten begannen und damit für Nichts und aber Nichts die Zeit des Streites und der Kriege. Denn kein auserlesener Wohnsitz, keine Statue, kein Bild, kein Wort und auch nicht deren viele, konnten all die Teilwahrheiten in sich vereinen, in das ja seinerzeit das ursprüngliche Nichts in seine Vollkommenheit zerplatzte. Doch nichts kann das Vollkommenheitstreben, das Werden, Vergehen um wieder neu zu Werden aufhalten. So gesehen ist dieses Streiten und Kriegen um die Macht der vollkommenen, einzigen Wahrheit lediglich eine Teilwahrheit, die seinesgleichen sucht, um wieder in seine ursprüngliche Urform des Nichtsseins im Nichts zu gelangen. Auf diese Weise nahm die Vorstellung der Auslöschung allen Seins auf der Erde ebenfalls Gestalt an und wurde greifbar, denn einige Menschen verfügten über entsprechende Mittel, um diesem Ziel, mit Zerplatzenlassen von fürchterlichen Bomben, immer näher zu kommen. Doch da geschah es zum zweiten Mal -

Die Menschen begannen nicht nur nichtsagende Gedanken im Sinne von

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zu realisieren, sondern schüttelten den Kopf

und sprachen klar und deutlich:

„Tztztz“

Was soviel hiess:

„ – stopp, nein nein – das wollen wir nicht. Einmalig schön ist unsere Erde mit all dem was ist, das einfach so, aus dem Nichts und mit dem Nichts entstanden ist. Selbst wenn einige von uns diese Bombenkriege überleben sollten, könnten wir kein Gras, keine Blume, keine Beere, keinen Kohl, keinen Baum, kein Tier neu erschaffen. Wir kennen viele Bausteine des Lebens. Wir wissen von Atomen und chemischen Elementen, haben Modelle, mathematische Formeln, die vieles erklären, nützlich sind, doch wir können Nichts aus dem Nichts, mit Nichts, herstellen. Wir verlören unser Leben!“.

Mit diesem „stopp, nein nein“ begann die neue Zeit der Herkunftsforschung. Die Menschen reisen zum Mond, bauen Sonden, die sie zu den Planeten und Sternen schicken, um anhand von Bildern mehr über sich durch andere Teilwahrheiten zu erfahren. Mit Riesenteleskopen verfolgen sie die Spuren der Zeit, so dass Farben vom Fliessen der Vergangenheit, wie auch von Explosionen, die Neues Werden entstehen lassen, erzählen können. Mathematiker, Astrophysiker versuchen die verschiedenen entdeckten und errechneten Teilwahrheiten ohne Worte mit Zahlen und Zeichen auf einen Nenner zu bringen oder in eine Formel zu fassen, was immer wieder zu neuen, heftigen Debatten und Experimenten führt. Die Philosophen fragen nach dem Sinn von dem was ist und denken Gedanken, deren Herkunft sie ergründen möchten und erkennen, dass sie eigentlich nichts Wissen. Dennoch bemühen sie sich um das Zusammensetzen oder Aneinanderreihen von Worten, um ihr Nichtwissen weitergeben zu können.

Doch auch in dieser neuen Zeit, in der die Blitze aus den Wolken längst nicht mehr einem furchterregenden unbekannten Etwas zugeschrieben wird, sondern alle Kenntnis davon haben, dass dies nur Elektrizität ist und sonst Nichts, gibt und gab es wie bereits in früheren Zeiten, vereinzelte Menschen, die für sich erkannten, dass sie das, was sie nicht wissen, und auch nicht das Nichtwissen vom Nichtswissen - dieses Nichts - nicht in Worte fassen können. Mit Worten wussten sie, dass Nichts in allem und alles im Nichts ist. Und diesem Nichts wollten sie näher kommen und zogen sich in die Stille zurück. Das heisst: still und wach sein, ohne zu denken.

Doch dies ist eine andere Geschichte - Nichts kann darüber berichten –

und so folgt das Dichten,
das mir nichts, dir nichts
vergisst das Nichts
und mit Worten
von dem erzählt, was ist,
auch wenn es nicht so ist,
wie es scheint zu sein.


Anno Domini 2010 – auch heute noch -
 
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