Das Mal

XRay

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„Wenn ich Sie recht verstehe betrachten Sie das Schicksal eines Menschen lediglich als das Zusammentreffen günstiger oder ungünstiger Umstände mit einer spezifischen genetischen Veranlagung. Wie der Lebensweg eines Menschen verläuft steht demnach nicht in den Sternen, sondern ist ein Spiel von Zufällen?”
Der Doktor sass mir gegenüber in einem Sessel und blickte nachdenklich in das Kaminfeuer. Ohne den Kopf zu wenden antwortete er:
„Richtig. Was wir Schicksal nennen ist meiner Meinung nach nur die Kombination von Erbanlagen und den Zufällen des Lebens“.
Er trank einen Schluck Burgunder und fuhr dann fort.
„Veranlagung und Zufall können sehr glückliche, aber auch extrem fatale Verbindungen eingehen.
Falls es Sie interessiert, könnte ich für die letztere Konstellation ein Beispiel aus meiner früheren Tätigkeit als Hautarzt nennen, eine Geschichte, die sich Anfang der achtziger Jahre ereignete, kurz nachdem ich meine Praxis eröffnet hatte!“
Ich nickte zustimmend
„Es war am letzten Tag vor meinem Urlaub, einem Freitag, als ich Blanca O. zum ersten Mal in meiner Sprechstunde sah, eine hübsche Frau Anfang 30 , trotz ihres Namens ein eher dunkler Typ. Sie suchte mich auf Empfehlung, man kann auch sagen auf Druck, ihrer Tante auf, die wegen einer Schuppenflechte schon länger in meiner Behandlung stand. Es ging um die Beurteilung eines Muttermals, das sie zwar schon immer gehabt habe, das aber in den letzten Monaten deutlich dunkler geworden sei.
Die Tante hatte mir bereits von der Krebsangst ihrer Nichte berichtet, dem einzigen Kind ihrer Schwester, die mit 35 Jahren an Brustkrebs gestorben war. Ihre Schwester war schon bald nach Blancas Geburt Witwe geworden, als ihrem Mann bei Montagearbeiten an einem Starkstrommast ein Trafo auf den Kopf fiel.
Das Mädchen war zum Zeitpunkt der Diagnose des Mammakarzinoms der Mutter zehn Jahre alt gewesen und erlebte den qualvollen Verlauf der Erkrankung durchaus schon bewusst. Nach dem Tod ihrer Mutter lebte Blanca bis zu ihrer Hochzeit bei ihrer unverheirateten Tante. Ihr gegenüber hatte sie wiederholt geäußert, wenn sie einmal selber an Krebs erkranke würde sie sich eher umbringen, als die Torturen der Erkrankung und der Behandlung, der Bestrahlungen und Chemotherapien mitzumachen, die am Ende doch nichts genützt hätten.
Blanca arbeitete als Lektorin bei einem auf medizinische Publikationen spezialisierten Verlag. Sie war seit anderthalb Jahren mit Professor O. verheiratet, dem Leiter des Instituts für Verhaltensforschung an der Universität. Ihr Mann hatte aus erster Ehe zwei Söhne, die inzwischen im Studium waren und nicht mehr im gemeinsamen Haushalt lebten.
Das Muttermal habe sie schon immer gehabt, es sei in den letzten Monaten nicht größer aber deutlich dunkler geworden. Meine Fragen, ob sie intensiver Sonnenbestrahlung ausgesetzt war, zum Beispiel im Urlaub, ob Behandlungen mit Cortison oder Östrogenen gemacht worden seien, ob eine Schwangerschaft vorliegen könne, verneinte sie. Sie habe lediglich in den letzten Wochen gelegentlich Zwischenblutungen gehabt, das aber nicht weiter beachtet.
Beim Stichwort „Schwangerschaft“ hatte ich offensichtlich einen Nerv getroffen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als eigene Kinder zu haben, denen sie das Aufwachsen in der Geborgenheit einer intakten Familie geben wollte, das sie selbst nicht erlebt hatte.
Ich hatte den Eindruck, dass dieser Wunsch nach eigenen Kindern geradezu obsessiv war, zumal gezielte Bemühungen des Paars bisher nicht zu einer Schwangerschaft geführt hatten. Sie hatte deshalb ihren Mann bedrängt, dass auch er sich auf seine Zeugungsfähigkeit untersuchen lassen müsse, trotz seiner beiden Söhne aus der ersten Ehe.
Derzeit befinde er sich auf einer Reise nach Japan und Australien, wo er sich über die neuesten Entwicklungen der Neurobiologie informieren wolle. Sie habe aber bereits Termine beim Gynäkologen und Urologen gleich nach seiner Rückkehr in etwa 2-3 Wochen vereinbart.
Ich sagte, aus medizinischer Sicht sei es unwahrscheinlich, dass ihr Mann zeugungsunfähig sei, da dieser ja schon zwei Kinder aus erster Ehe habe.
Sie erwiderte, das habe er auch sofort gesagt, aber schließlich - und hier lachte sie mich mit einem Blick auf meinen Kopf schelmisch an - haben viele Männer in ihrer Jugend einen Wuschelkopf und mit Anfang 30 bereits nur noch ein paar Haare hinten herum.
Bei der Untersuchung fand ich ein tiefschwarzes Mal an der linken Wade, etwa 1 cm im Durchmesser. Ich hatte keinen Zweifel, dass es sich um ein Melanom handelte, einen sogenannten schwarzen Hautkrebs“.
Er wandte sich kurz zu mir.
„Melanome gehören zu den bösartigsten Tumoren, die wir kennen, da sie schon früh Metastasen bilden und dann oft in kurzer Zeit zum Tode führen“.
Er trank er einen Schluck Rotwein, dann fuhr er fort:
„Meinen Verdacht durfte ich nicht verheimlichen. In Kenntnis ihrer Angst vor einer Krebserkrankung bemühte ich mich aber um eine unbefangen wirkende Ehrlichkeit, redete um den Brei herum; sagte, dass aufgrund der äußeren Betrachtung allein nicht entschieden werden könne, ob die Veränderung gutartig oder bösartig sei; das könne man nur durch eine mikroskopische Untersuchung einigermaßen sicher feststellen; ich rate deshalb zu einer Entfernung des Males, zumal dann auch die Möglichkeit einer späteren Entartung ausgeschlossen sei; das müsse aber keineswegs sofort sein, da komme es auf einen Tag nicht an.
Sie fragte, wie die Operation ablaufe, falls sie sich dazu entschließe und ich erklärte ihr, dass der Eingriff in örtlicher Betäubung ambulant gemacht werde, eine stationäre Behandlung sei nicht nötig. Die Fäden würden nach 8-10 Tagen entfernt, das Ergebnis der Untersuchung liege nach 4-5 Tagen vor. Ich selbst sei aber in den nächsten zwei Wochen in Urlaub und könne deshalb das Mal nicht in meiner Praxis entfernen, und empfahl ihr eine Kollegin in der Uniklinik.
Sie hatte mich ruhig angehört und wirkte in keiner Weise verängstigt. Nach kurzer Überlegung stimmt sie meinem Vorschlag zu und ich vereinbarte einen Termin mit der Klinik für die folgende Woche.“
‚Es ist vielleicht ganz gut, dass es mit unserem Nachwuchs noch nicht geklappt hat, man weiß ja nie, was noch kommt‘, sagte sie, als sie die Praxis verließ. Ich stimmte insgeheim zu, wenn auch aus einem anderen Grunde als sie.“
Der Doktor füllte unsere Gläser.
„Nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub war in der Post ein Bericht der Hautklinik über die Patientin. Der Tumor an der linken Wade war in Lokalanästhesie entfernt worden. Die Untersuchung hatte ein gutartiges Pigmentmal ergeben, ein Melanom wurde ausgeschlossen. Beigefügt waren der Befund der mikroskopischen Untersuchung und Laborwerte. Diese waren unauffällig, bis auf einen positiven Schwangerschaftstest, den die Kollegin rot unterstrichen hatte.
Ich stutzte. Lag hier die Erklärung für meine Fehldiagnose? Pigmentmale können während der Schwangerschaft dunkler werden, gelegentlich sogar neu entstehen, das war bekannt. Trotz meiner Fehldiagnose war ich erleichtert. Besonders freute ich mich über die Schwangerschaft der Patientin, und rief sie gleich an, um ihr die Ergebnisse mitzuteilen.
Auf die erwiesene Gutartigkeit ihres Mals ging sie nur kurz ein, vor allem freute sie sich über die endlich eingetretenen Schwangerschaft. Damit habe sie überhaupt nicht gerechnet, zumal sie zwei Tage vor der Operation noch eine starke Blutung gehabt habe.
‚Das ist die schönste Nachricht, die ich je in meinem Leben erhalten habe‘, sagte sie, ‚ich bin so glücklich.‘
Der Doktor schob die Glut im Kamin zusammen und legte Holz nach.
„Es waren die letzten glücklichen Stunden ihres Lebens.“
Ich schaute ihn fragend an.
„Ja, es waren tatsächlich die letzten glücklichen Stunden ihres Lebens. Wir hatten am Morgen miteinander telefoniert. Am Abend desselben Tages kam ihr Mann aus Japan zurück, und sie erzählte ihm sofort von ihrem positiven Schwangerschaftstest.
Er reagierte er völlig anders als erwartet: er wurde bleich, geriet in starke Erregung; behauptete, das Kind sei nicht von ihm; er habe ihr nie geglaubt, dass sie ihn betrügen könne, aber das sei offensichtlich hier der Fall; damit habe sie sein ganzes Leben zerstört; alles sei umsonst gewesen.
Blanca und ihre Tante, die gerade zu Besuch war, waren von diesem Verhalten völlig überrascht, fragten immer wieder, was denn mit ihm sei, seine Vorwürfe seien doch absurd, es müsse ein Missverständnis vorliegen.
O.´s Erregung steigerte sich immer mehr, er schien völlig von Sinnen, warf Tische und Stühle um und stieß schließlich heftige Drohungen gegen seine Frau und ihre Tante aus.
Die beiden waren entsetzt über die plötzliche Veränderung des ruhigen und gütigen Mannes, den sie kannten. Sie schlossen sich im Schlafzimmer ein und riefen die Polizei, die eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik veranlasste.
Blanca erlitt einen Nervenzusammenbruch und verbrachte die Nacht bei ihrer Tante. Als am nächsten Morgen heftige Blutungen bei ihr auftraten brachte man sie in die Frauenklinik.
Ich war völlig überrascht, als mich im Laufe dieses Tages ein Kollege der Gynäkologie anrief und fragte, was es mit der Operationsnarbe am linken Bein der Patientin auf sich habe. Ich erklärte die Sache, und fragte dann meinerseits, warum sie in der Gynäkologie sei. So erfuhr ich, was in der vergangenen Nacht geschehen war.
‚Der ganze Fall ist auch aus unserer Sicht sehr unglücklich‘, sagte der Kollege, ‚denn es hat gar keine Schwangerschaft vorgelegen.‘ Frau O. habe ein Chorionepitheliom am linken Eierstock. Der Tumor sei nicht operabel, man werde aber trotz der ungünstigen Prognose eine Strahlentherapie versuchen.“
Der Doktor erläuterte:
„Es handelt sich dabei um einen seltenen bösartigen Tumor der Eierstöcke, der Hormone produziert wie in einer Schwangerschaft. “
Wir schwiegen eine Weile, dann sagte ich:
„Sie erzählen mir diese Geschichte, um die Bedeutung der Vererbung für das Schicksal der Menschen darzustellen. Unter dieser Prämisse scheint mir dieser Fall bisher nicht überzeugend. Oder wollten Sie etwa wirklich nur sagen, dass die Neigung zu bösartigen Erkrankungen vererbbar ist, und - mit leicht ironischem Unterton - dass Ärzte sich gelegentlich in ihren Diagnosen irren?“
„Sie haben recht”, antwortete der Doktor, „das Thema war die fatale Verknüpfung von Erbanlagen und Zufällen auf den Verlauf eines Lebens. Meine Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Bis hierhin könnte man alles mit dem Zusammentreffen unglücklicher Zufällen erklären. Die fatale Auswirkung der Gene wurde aber erst jetzt, nach dem Zusammenbruch von Herrn O., sichtbar.“
Er reichte mir 3 Zeitungsausschnitte. Zwei waren am selben Tag erschienen, der dritte datierte einige Wochen später.
Bei den ersten handelte es sich um eine Todesanzeige, die den tragischen Tod von Blanca O. bekannt gab, und den Bericht über die entsetzliche Tat des in psychiatrischer Behandlung stehenden Psychologen O. Der Vorfall hatte sich am Bahnsteig der S-Bahn in E. zugetragen. Der Mann hatte bei der Einfahrt des Zuges seine dort wartende Frau auf die Geleise gestoßen und war mit ihr vor den Zug gesprungen.
Im späteren Artikel wurde über die Gerichtsverhandlung gegen O. berichtet. Der Richter ging in Anbetracht seiner Erkrankung von O.´s Schuldunfähigkeit aus und ordnete einen Maßregelvollzug an, d.h. sein Verbleiben in stationärer psychiatrischer Überwachung.
„Zurück also zur Vererbung und ihrer in diesem Fall tödlichen Auswirkung für zwei Menschen“, setzte der Doktor seine Erzählung fort, nachdem ich die Artikel gelesen hatte. „Ich muss dabei vorausschicken, dass ich das weitere nur aus Gesprächen mit Blanca O.´s Tante weiß, die weiterhin in meiner Behandlung stand.
In der Familie von Herrn O. war eine bestimmte Form von Schizophrenie erblich, die üblicherweise bereits im Kindesalter sichtbar wird. Bei seiner Mutter und deren Vater war die Erkrankung aber erst relativ spät ausgebrochen, ausgelöst jeweils durch persönliche Schicksalsschläge. O. hatte die berechtigte Befürchtung, ebenfalls zu erkranken und liess sich noch während seines Studiums sterilisieren. Einige Jahre später heiratete er eine ältere Kollegin. Sie hatte zwei Kinder aus einer früheren Ehe, die von O. adoptiert wurden.
Als O. und Blanca sich kennenlernten war es für beide die Liebe ihres Lebens. Er hatte vor der Heirat intensiv mit ihr über die unglückliche Veranlagung in der Familie diskutiert, aber Blanca sah darin kein Hindernis für die Ehe mit ihm. Die Gene der Kinder würden ja von beiden Elternteilen geliefert, und in ihrer Familie habe es nie psychische Erkrankungen gegeben.
Warum er ihr verschwieg, dass er sterilisiert war und es sich bei den Kindern aus erster Ehe um Adoptivkinder handelte, darüber kann man nur spekulieren. Möglicherweise fürchtete er, sie könne sich von ihm abwenden und hoffte, sie werde sich im Laufe der Jahre mit der Kinderlosigkeit ihrer Ehe abfinden. Vielleicht war es aber auch schon die Erkrankung, die sich wie ein Vulkan auf den Ausbruch „vorbereitete“, der erfolgte, als Blanca ihm an diesem Abend ihre „Schwangerschaft“ mitteilte.
Als Blanca die Zusammenhänge erfuhr brach in ihr eine Welt zusammen. Die Veranlagung zur Psychose in seiner Familie hatte sie akzeptiert, aber seine Unehrlichkeit, die Lüge, seinenBetrug, der schlimmer war, als wenn er ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt hätte, das alles hatte die Basis für ein weiteres Zusammenleben mit ihm für immer zerstört.
O. hatte auf die medikamentöse Behandlung überraschend gut angesprochen. Nach zwei Jahren wurde der Maßregelvollzug aufgrund eines Gutachtens aufgehoben und man vermittelte ihm eine Stelle als Pförtner an einer karitativen Einrichtung.
Blanca hatte noch am Abend des Zusammenbruchs ihres Mannes die gemeinsame Wohnung verlassen und war zu ihrer Tante gezogen. Sie teilte ihm noch vor seinem Verfahren in einem Brief mit, dass sie sich von ihm scheiden lassen werde. Zu einer persönlichen Begegnung der beiden kam es nicht mehr, obwohl er immer wieder darum gebeten hatte.
O. hatte nach seiner Entlassung aus der stationären Behandlung gelegentlich noch Schübe von Wahnvorstellungen. Sie äußerten sich in aggressivem Verhalten, z.B. Beschimpfungen anderer Fahrgäste in Bahn und Bus, oder lautstarken Selbstgesprächen in der Öffentlichkeit, es verlief aber immer relativ harmlos. - Bis zu diesem Tag“, er wies auf die Zeitungsausschnitte, „als er zufällig seine Frau am Bahnsteig traf und sie mit sich in den Tod riss.
Wenn Sie sich übrigens das Datum vom Blancas Tod ansehen werden Sie feststellen, dass die Diagnose ihres Tumors da bereits über 10 Jahre zurücklag. Nach medizinischen Maßstäben galt sie damit als geheilt.“
Wir verharrten eine Weile in Schweigen.
„Ursprünglich hatte sie sich ja umbringen wollen, falls sie an einem Krebs erkranken sollte “, sagte ich dann.
Der Doktor runzelte die Stirn.
„Wollen Sie sagen, dass es besser gewesen wäre, wenn sie sich selbst umgebracht hätte als, wie es tatsächlich passierte, ihr Mann sie umgebracht hat?“
Ich schüttelte den Kopf. Als er mir ein Glas Remy Martin und eine Havanna aus seinem Humidor anbot lehnte ab und stand auf, um mich zu verabschieden.
„Haben Sie Frau O. wirklich nur einmal persönlich getroffen, an dem Tag, als sie mit ihrer Tante in ihrer Sprechstunde war?“
„So ist es“, antwortete er.
Beim Hinausgehen drehte ich mich noch einmal um.
„Das eigentlich Fatale an dieser Geschichte, lieber Doktor, scheint mir die Unehrlichkeit des Mannes zu sein. Und das betrachte ich, mit Verlaub, weniger als das Zusammentreffen von Zufällen mit einer Erbanlage, sondern einfach nur als Charakterfehler.“
„Da bin ich anderer Meinung,“ antwortete er. „O. hat sich seine Gene nicht ausgesucht, und erst recht nicht die Umstände, die das Schicksal für ihn und seine Frau zusammenwürfelt hatte.“
 
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