Das Marmorschloss in K. (2. Überarbeitung)

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flammarion

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Das Marmorschloss in K.

Ich hatte so viel von diesem Schloss gehört, dass ich es unbedingt besichtigen wollte. Besonders im Sommer sollte es dort wunderschön sein und eine herrliche Badegelegenheit gab es auch. Das habe ich auf einer Postkarte gesehen.
Leider bin ich das jüngste von sieben Kindern, da ist das Taschengeld wirklich nicht üppig. Aber mein bester Kumpel Frank, der ist ein Einzelkind und hat relativ wohlhabende Eltern. Er hat ausreichend Taschengeld und könnte sogar für einen Tagesausflug zusätzliches erbitten. Er macht sich zwar nichts aus Marmorfiguren und sonstigen Künsten, er isst lieber, aber genau damit konnte ich ihn nach K. locken. Ich sagte einfach, dass es dort das beste Brathuhn und die leckerste Schokoladentorte der Welt gibt.
An einem Sommerferientag fuhren wir vor Sonnenaufgang los. K. liegt leider nicht gleich um die Ecke. Frank wollte die Schinkenbrote, die seine Mutter uns in eine Frischhaltedose eingepackt hatte, gleich zum Frühstück essen, aber ich konnte ihn überreden, zuerst die Schokoriegel zu futtern, die würden ja sonst in seiner Hosentasche zu schmelzen anfangen. So hatten wir das leckere Schinkenbrot zum Mittag. Eigentlich wollte Frank in einer Gaststätte zu Mittag essen, aber ich meinte, dass er die Moneten lieber für das Eintrittsgeld zum Schloss aufheben soll. Ich wollte ihn doch nicht völlig pleite machen.
Voller Ungeduld lief ich in Richtung Schloss. Es steht in der Nähe des Badesees und ist von einem kleinen, sehr gepflegten Park umgeben. Eine freundliche Dickmadam saß im Kassenhäuschen. Sie säuselte mit einer Rotweinfahne: „Na, ihr Buben, wollt ihr euch unser schönes Schloss ansehen?“ Innerlich prustete ich: Klar, du dickes Ding, was meinst du, warum wir sonst hier sind!
Sie ermahnte uns, hübsch brav auf die Führung zu warten und nicht allein durch das Gebäude zu schlendern. Das hatten wir vergessen, ehe wir es hörten.
Nachdem Frank ihr das Geld zugeschoben hatte, öffnete sich knarrend das schwere Holztor. Wir durchschritten einen düsteren Gang mit Kopfsteinpflaster. Ich stellte mir vor, wie hier früher wohl eine Kutsche gerumpelt haben musste. Die armen Insassen!
Dann breitete sich der Park vor uns aus. Schöne, alte Bäume standen dort, aus aller Welt zusammengesammelt und hier heimisch gemacht. Jede dieser Raritäten war mit einem Hinweisschild versehen. Und viele Blumen gab es hier! Besonders beeindruckend war die riesige Rosenhecke dicht am Schloss.
Die Zufahrt war mit gestutzten Bäumen gesäumt. Jeder Baum hatte sich durch den Beschnitt in eine Figur verwandelt, Menschen und Tiere. Das war früher mal hochmodern und erforderte gewiss einen guten Gärtner. Wir zwölfjährige Bengels empfanden es als reinen Kitsch. Frank betitelte K. gleich als Kitschhausen.
Zwei Marmorritter, bestimmt mehr als drei Meter hoch, bewachten das gotische Portal. Die Gotik setzte sich noch bis in die dritte Etage fort, darüber protzte Barock. Ein überwältigender Anblick! Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg Frank zu überreden, ein Poster von der Schlossfront zu kaufen, damit seine Eltern wissen, wo wir waren. Dass meine Geschwister das Bild auch zu sehen bekommen, dafür würde ich schon sorgen.
Das kunstvoll mit Eisen beschlagene Portal öffnete sich wie durch Zauberhand. Wir kamen in eine hohe Halle. In der Mitte lag ein billiger roter Teppich, der von roten Kordeln begrenzt war, ungefähr in Hüfthöhe. Ich wusste gleich: Aha, man soll sich nur auf diesem Teppich bewegen und nicht den Marmor betreten, der an einigen Stellen auch schon ein bisschen schadhaft war. Na gut. Man muss ja nicht alles aus allernächster Nähe sehen. Die Bleiglasfenster waren ja hoch genug und die Marmorputten an den Wänden groß genug, um ihren Anblick von hier aus genießen zu können.
Auf einem Schild am Eingang war zu lesen, dass dies die „Gobelin-Halle“ war. Tatsächlich hingen zwischen den Fenstern drei gewaltige Gobelins in allerfeinster Stickerei. Der eine zeigte eine Jagdszene, der andere ein Seestück und der dritte, der über der Tür zum nächsten Raum, einen riesigen Blumenstrauß. Er wirkte so natürlich, dass ich den Duft der Rosen zu riechen glaubte. Kein Wunder, war doch eine voll erblühte Hecke ganz in der Nähe.
Die Halle war oval, der nun folgende Raum von normaler Zimmerhöhe war wesentlich kleiner und rechteckig. An den Wänden sah man sehr viele Gemälde und an der Decke hingen herrliche Kristalllüster. Ihr Licht reichte nicht aus, um die Gemälde wirken zu lassen, darum waren einige Halogen-Strahler geschickt zwischen ihnen angebracht. Frank entdeckte sie, weil er sich nicht so auf die Bilder konzentrierte wie ich.
Der nächste Raum war etwas größer. Hier dominierten mittelalterliche Spiegel und Möbel, vieles aus dunkel glänzendem Ebenholz, breit und schwer. Ich war begeistert, dass sich all das in alter Pracht erhalten hatte, wenn man auch kaum sein Gesicht in einem der matten Spiegel erkennen konnte. Ein Wunder, dass im Laufe der Zeit nicht schon das ganze Quecksilber verdampft ist! Ich machte Frank darauf aufmerksam, aber er hatte, wie immer, kein Interesse an Bildung.
Danach betraten wir einen Raum, den man eigentlich nur als Korridor bezeichnen konnte. Auf der einen Seite Fenster, auf der anderen rosafarbener Marmor mit silbern funkelnden Einschlüssen, eine ganz große Rarität, wie am Eingang zu lesen war. Ich freute mich, dass Frank nicht an dem Silber herum polkte. Aber vielleicht hatte er es übersehen.
Nun kamen wir in die Bibliothek. Hier war die Liste am Eingang sehr lang, denn es waren alle berühmten Werke aufgelistet, die in den Regalen stehen. Als ich näher an eines der Regale herantrat, bemerkte ich, dass man vorsichtigerweise statt dieser berühmten Werke eine Plast-Kopie hingestellt hatte. Jaja, Langfinger gibt es überall!
Die Folianten beeindruckten mich nicht allzu sehr und Frank schon gar nicht, so wollten wir rasch weiter.
Aus der Bibliothek führten vier Türen hinaus. Da ich mich mehrmals umgedreht hatte, wusste ich nicht, aus welcher wir die Bibliothek betreten hatten und welche uns geradlinig weiter leiten würde. Also öffnete ich einfach die zunächst liegende Tür.
Sie führte in ein Boudoir, so stand es jedenfalls auf der Tafel neben der Tür. Hier war alles in blau und gold gehalten. Es sah entzückend aus. Hier soll die letzte Tochter des Fürsten gelebt haben. Wie sie wohl ausgesehen hatte? Sie schien ein fleißiges Mädchen gewesen zu sein, denn auf dem kleinen Tisch lag eine angefangene zierliche Häkelarbeit.
Die Gemälde an den Wänden wiesen zu meinem größten Erstaunen keinerlei Alterungsspuren auf. Rasch sah ich sie mir noch einmal an. Alle ganz neu! Ich wollte Frank auf diese Ungereimtheit hinweisen und als ich mich nach ihm umsah, bemerkte ich, dass das Zimmer keine Türen hatte. Auch die, durch welche wir gekommen waren, war verschwunden! Ebenso die Tafel. Dafür stand jetzt neben der Häkelei ein Glas Rotwein auf dem Tisch.
Mein Puls raste. Was war hier los? Sollte es wahr sein, was uns die alte Frau in der Bahn erzählt hatte? Als wir auf ihre Frage antworteten, dass wir das Marmorschloss besichtigen wollten, sagte sie, dass es da spuken würde. Ihrer Rede nach hatte die alte Fürstin seinerzeit ihre Familie und fast den gesamten Hofstaat mit vergiftetem Rotwein umgebracht und findet nun keine Ruhe, muss immer im Schloss umherlaufen und irre kichern. „Wenn ihr wen kichern hört“, schloss sie, „dann ist es die alte Fürstin.“
Ich hielt den Atem an und lauschte. Es war totenstill. Ich besann mich und schob den Unsinn von mir. Aber ich wollte schnellstmöglich hier raus.
Vorsichtig und zugleich hastig tastete ich die Wand ab auf der Suche nach einer verborgenen Tür. Es musste eine Tür geben, wenigstens eine!
Da, ein kaum spürbarer Ritz! Schon hatte ich die Fingernägel hineingekrallt und es bewegte sich etwas. Leider war es nur eine sehr kleine Tür, die sich da öffnete. Wahrscheinlich der Familiensafe, denn hinter der Tür befand sich noch eine mit einem Zahlenschloss. Mutig probierte ich eine Kombination aus, und zu meinem großen Erstaunen stimmte sie. Die kleine Eisentür sprang mit einem kurzen, harten Knacken auf.
Aber ich bekam weder Gold und Juwelen, noch wertvolle Papiere zu sehen. Nur ein kleines, beinahe rechteckiges Loch kam zum Vorschein, aus welchem uns ein eiskalter Wind durch die Haare fuhr. Schnell knallte ich die Tür wieder zu, aber sie ließ sich nicht schließen. Der Wind pfiff durch den Raum, ich konnte direkt sehen, wie er sich an der gegenüberliegenden Wand brach. Durch den Staub, den er in sich aufgesogen hatte, hatte er nahezu körperliche Gestalt angenommen und die Gewalt, mit der er auf die Wand traf, riss kleine Fetzen von der Tapete ab.
Mein Grauen legte sich sofort, denn ich erkannte die Umrisse einer Tür in der angepusteten Wand. Natürlich lief ich sogleich hin und drückte die Klinke nieder. Doch meine Freude über den endlich gefundenen Fluchtweg währte nicht einmal eine Sekunde, das Grauen überfiel mich mächtiger als vorher. Ich blickte in ein Zimmer, wo drei Damen an einem Tisch saßen und Karten spielten. Ähnlich große und bunte Karten hatte ich einmal in einem Museum gesehen. Die hier waren funkelnagelneu. Wir waren doch nicht etwa ins Mittelalter versetzt worden?
Trotz meines Schreckens brannten sich mir die drei ins Hirn. Es schienen Vertreterinnen dreier Generationen zu sein. Die Älteste war schon ziemlich runzlig und trug ein lilafarbenes Kleid aus Musseline und Taft, tief ausgeschnitten. Die mittlere trug ein lindgrünes Kleid aus Musseline und Leinen mit dezentem Ausschnitt, sie sah übrigens der Frau im Kassenhäuschen zum Verwechseln ähnlich, die jüngste trug ein zitronengelbes Seidenkleid mit goldenen Borten. Die Haare der drei „Grazien“ schimmerten in unterschiedlichen Rottönen und sie waren zu abenteuerlichen Frisuren aufgetürmt. Die drei sahen zwar nicht richtig hässlich aus, aber auch nicht richtig hübsch, nicht einmal die Jüngste. Alle hatten ein mit Rotwein gefülltes Glas bei sich zu stehen und sahen mich mit böse funkelnden Augen an. Ich stand in der Tür wie festgenagelt.
Endlich sprach die Älteste mit Donnerstimme: „Was willst du hier, du kleiner Wicht? Störe unsere Kreise nicht!“
Errötend und am ganzen Leibe zitternd zog ich die Tür zu. Ich spürte, dass keine der drei uns zum Ausgang führen würden. Aber andererseits konnte, wer in Reimen sprach, nicht wirklich böse sein. Glaubte ich wenigstens.
Ich drehte mich wieder in das Boudoir und sah zu Frank. Er trank gerade das Glas Rotwein vom Handarbeitstisch leer. „Mensch“, rief ich, „das kannste doch nich machen, das gehört dir doch nich!“
Er antwortete verlegen: „Ich hatte Durst. Und außerdem wollte ich endlich mal wissen, wie das Zeug schmeckt.“
Ich dachte kopfschüttelnd noch, dass der Rotwein vielleicht schon ein paar Hundert Jahre dort gestanden haben könnte, dann winkte ich ab: „Wir müssen hier raus, Frank. Es geht hier nicht mit rechten Dingen zu.“
Er lachte: „Du meinst wirklich, dass es hier spukt? Das ist doch Spinne!“
Innerlich raufte ich mir die Haare. Sah Frank denn nicht, was los war? Oder war er von dem einen Glas Wein schon betrunken? Das wird es wohl sein.
Der Sausewind fuhr noch immer durch die Luft und zeigte mir abermals die Umrisse einer Tür. Sogleich hatte ich die Klinke in der Hand. Und wurde wieder enttäuscht, denn diese Tür führte in ein Schlafzimmer. Wahrscheinlich das der Ältesten, denn hier war alles in lila, weinrot und braun gehalten. Langsam zeichnete sich die Gestalt des alten Fürsten auf dem breiten Bett ab. Er schien groß und schlank zu sein. Aber er bekam kein Gesicht, und wenn ich noch so intensiv hinstarrte. Nur ein paar graue Augen hingen blicklos in den Höhlen des Totenschädels.
Mich überlief ein kaltes Grausen. Schnell und leise schloss ich diese Tür. Nicht auszudenken, wenn der Vergiftete zum Leben erwachen würde! Aber hätten wir Buben denn etwas zu befürchten? Er könnte doch höchstens sauer auf seine Angetraute sein.
Ich sah halbwegs beruhigt nach dem Wind, ob er mir vielleicht noch eine Tür zeigen wird. Er war nicht mehr da. Stattdessen kamen die drei Damen kichernd zu uns. Sie sagten: „Schaut euch ruhig noch eine Weile um im Schloss. Eines Tages werdet ihr dann so aussehen.“
Dabei hielten sie uns zwei Hologramme hin. Wenn das Frank und ich sein sollten, dann müssten wir uns in der nächsten Zeit ganz schrecklich verändern!
Ich fixierte die Alte und versuchte, meiner Stimme enorme Festigkeit zu verleihen. „Sagen Sie uns bitte, wie wir zum Ausgang finden. Wir möchten nach Hause zu unseren Eltern und Geschwistern.“
Auch Frank sagte, den Tränen nahe: „Ich will zu meiner Mutter!“
Die Weiber höhnten: „Ach, zur Mama wollen die Muttersöhnchen! Na, dann lauft doch, lauft!“
Frank heulte nun wirklich los. Die Kassenfrau zog ihn an ihren fetten Leib, um ihn zu trösten. Ich aber nahm die Beine in die Hand und rannte blindlings los. Im Weglaufen vernahm ich noch etwas von Brathähnchen und Schokoladentorte. Damit konnten sie mich nicht ködern, aber Frank. Ich würgte die aufsteigenden Tränen hinunter und stürmte voran.
Wunderbarerweise kam ich unbeschadet durch die Wand und in einen langen Korridor hinein. Ich spähte in rasender Flucht links und rechts nach einer Türklinke, die zu einer Tür ins Freie gehört. Aber nichts war da, nur der halbdunkle Flur.
Nach einer Krümmung führte der Korridor steil nach oben. Ich musste mich sehr anstrengen, um mein Tempo zu halten und erreichte eine Galerie. Hier gab es viele Türklinken, aber nicht eine gab nach. Wie von Furien gejagt hetzte ich von einer zur anderen.
Nach der nächsten Biegung ging es noch einmal steil nach oben. Jetzt kam ich durch eine Reihe von Zimmern, deren Türen aufsprangen, kaum, dass ich die Klinke auch nur ansah. Alle Räume waren museumsartig ausgestattet. Alte Gemälde, Gerätschaften, Kleider, Musikinstrumente, Schmuck und Pergamente waren dekorativ ausgestellt. Normalerweise wäre ich begeistert davon, aber jetzt hatte ich keinen Blick dafür, ich wollte nur raus hier.
Nach dem letzten Zimmer kam ich zu einer sehr ausgetretenen, schmalen Treppe aus ungestrichenem, altem Holz. Bei jedem Schritt knarrte es, und wenn ich noch so vorsichtig ging. Es sollte doch niemand wissen, dass ich diese Treppe erreicht hatte! Ich hörte die drei Weiber verhalten kichern und wurde wütend. Ich stürmte die Treppe hinauf. Sie schien kein Ende nehmen zu wollen.
Endlich stand ich wieder vor einer Tür. Ich drückte die Klinke und erblickte ein Strandcafe. Das war unmöglich! Wie kann hier oben ein Strandcafe sein? Aber vielleicht hatte ich mir ja die Höhe nur eingebildet, war auf schrägen Stufen geklettert. Unsinn. Ich war oben! Aber dann musste das Schloss ja unter der Erde sein. Da gehört es auch hin, dachte ich, und verdammte das Schloss in alle Ewigkeit.
Ich nahm die vielen Menschen, die sich an diversen Tischen bei Rotwein, Bier und Selters angeregt unterhielten, nur im rasenden Vorbeigehen wahr und lief zum Ausgang des Lokals. Hinter dem Zaun lockte die Freiheit!
Ich sah einen fast weißen Strand, auf dem See Segelboote und in Ufernähe planschende Kinder. Links, kurz vor dem Wald, war eine Dampferanlegestelle. Der Dampfer nahm gerade Fahrgäste auf. Ich wollte auch gern dazu gehören. Nur weg, ganz weit weg von hier!
Doch kaum, dass ich das Tor der Gaststätte durchschritten hatte, prallte ich mit dem Knie gegen eine Wand. Der Strand, der Dampfer und das Lokal, alles wich nach unten fort. Ich stand auf dem Schlossdach vor einer Balustrade und kämpfte mit den Tränen. Irgendwo in den unteren Räumen kicherten die drei Weiber. Um keinen Preis wollte ich ihnen in die Hände fallen!
Aber was tun? Springen? Aus dem fünften Stock? Unmöglich! Es musste einen anderen Ausweg geben als den Tod.
Rechts unter mir fiel mein Blick auf die Rosenhecke. Von hier oben stellte sie sich mir als ein Labyrinth mit vielen Ausgängen dar. Da musste ich hin!
Im Dach waren mehrere Luken, die einen Weg nach unten boten. Ich stürzte mich in die nächst beste Luke und siehe da, ich befand mich auf einer Rutschbahn, die mich geradewegs zur Rosenhecke gleiten ließ. Hier riss ich erst mal die Augen auf vor Staunen. Nicht über die Rosen, die waren ganz normal und natürlich, aber zwischen ihnen waren Dutzende von Marmorstatuen aufgestellt. Welche Schönheit! Welche Anmut! Ich konnte mich kaum satt sehen.
Dann rief ich mir das Muster des Labyrinths in Erinnerung, das ich vom Dach aus gesehen hatte und suchte systematisch nach den Ausgängen. Jedes Mal kam ich dabei zu einem Marmorrelief. Exquisite Arbeiten, zweifelsohne. Aber ich wollte hier raus!
Ich fuhr mit den Fingern über die Marmorfiguren und hoffte, dass eine nachgab und sich eine verborgene Tür öffnen könnte. Nichts, nichts! Da konnte ich mir die Finger blutig drücken.
Mich würgte die Ahnung, dass ich nur deshalb so viel schönen Marmor zu sehen bekam, weil Frank den Damen von meiner Leidenschaft für Kunst und Kultur erzählt hatte. Ich ballte in hoffnungsloser Wut die Fäuste, ließ mich auf den Boden sinken und schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, stand ich in dem düsteren Torweg, der zur Straße führte. Freudig erregt schritt ich auf das Tor zu.
Da sah ich Frank, genau in der Gestalt, wie die Hologramme gezeigt hatten. Er war stark gewachsen, nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite. Er hatte feiste Wangen und einen auf und ab wabernden Bauch, was überaus gruselig aussah. Dieser Bauch wirkte wie ein Sack voll Luftballons, die nach allen Seiten davon fliegen wollten. Ich war entsetzt, zu sehen, dass Frank keinen Hinterkopf mehr hatte und ihm am Unterleib das Stück zwischen den Beinen fehlte. Sein Gesicht war so blau wie ein Vergissmeinnicht und trug ein breites, sattes Grinsen zur Schau. Er schien sich mit seiner Situation abgefunden zu haben, daher sah ich es als sinnlos an, ihn anzusprechen.
Er öffnete das Tor, ging zu einem Prellstein und setzte sich darauf. Dann knabberte er genüsslich an einer saftigen Hühnerkeule und trank Rotwein aus einem großen Humpen. Neben sich hatte er einen Furcht erregenden Morgenstern zu liegen und ich begriff, dass er der Wächter des Tores war.
Ich spähte hinaus auf die Straße und erbleichte. Da war keine Straße, nur ein Feldweg. Leute in mittelalterlicher Kleidung huschten eilig vorüber. Aus der Ferne näherten sich vier Reiter, drei Ritter und ein Fräulein. Die jüngste der drei Damen. Mir fiel ihr Name ein: Felicitas. Auch die Namen der beiden anderen waren mir plötzlich gegenwärtig: Adelheid und Kunigunde. Sogar die Namen, die die drei Weiber uns gegeben hatten, kamen mir ins Gedächtnis: Fresssack und Klinkenputzer.
Nein, in diese Welt wollte ich nicht. Ich würde mich nicht ewig dumm stellen können und doch einiges von dem Wissen ausplaudern, was im Mittelalter noch niemand hatte. Und Frank – der würde mich wahrscheinlich gar nicht erkennen und mich nicht hindurch lassen, sondern mit seinem Morgenstern erschlagen.
Ich hatte außerdem das dumpfe Gefühl, dass inzwischen zehn bis fünfzehn Jahre vergangen waren. Und wenn Frank so aussah, wie die Hologramme es gezeigt hatten, dann traf das womöglich auch auf mich zu! Ich blickte kontrollierend an mir herunter und das Entsetzliche offenbarte sich. Mein bestes Stück ragte weit aus der Hose heraus und hatte die Form einer Türklinke!
Ich hörte die drei Weiber lockend rufen: „Steck ihn mir rein! Steck ihn MIR rein! Steck ihn mir R E I N!“
Ich erinnerte mich an ihre entblößten Unterleiber. Sie sahen alle aus wie meine große Schwester, die ich eines Morgens zufällig im Bad gesehen hatte. Schamesröte stieg mir ins Gesicht. Welchen Weg hatte ich gewählt, um aus diesem grässlichen Schloss zu entkommen? Welcher Frau durfte ich mich noch nähern, nachdem ich mit diesen dreien . . . keine Ahnung, was, gemacht hatte?
Ich drosch meinen Kopf gegen die nächst beste Wand. Meine Knochen schepperten. Ich hatte genau so einen Totenschädel wie der alte Fürst . . .
Schon wollte ich mich in einem hemmungslosen Weinen verlieren., da spürte ich einen unsanften Rippenstoß. Franks Stimme drang an mein Ohr: „He, Schlafmütze, wach auf! Wir sind in K.!“
Dankbar blickte ich zu ihm auf. Uns gegenüber saß die Frau, die ich im Kassenhäuschen des Schlosses gesehen hatte. Sie nickte mir freundlich zu und häkelte an einer Filet-Decke. Neben ihr lagen eine Flasche Rotwein und ein großer Rosenstrauß auf dem Sitz.
Das Ziel unseres Ausflugs erwies sich als flaches, niedriges Gebäude, auf dessen Dach einige Marmorputten saßen. An der Vorderfront standen zwei kleine Marmorsäulen und in der Mitte des Weges befand sich ein Rosenspalier, das war alles. Da fahr ich nicht noch mal hin!
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Flämmchen,

wie ich sehe, hast Du Deine Nacht mit Grauen verbracht.
Mir gefällt die Geschichte durch und durch. Witz und Grauen bunt gemischt mit etwas Surrealismus.
Die Handlung verläuft schnell und sprachlich präzise.

Bin bejeistat!

cu
lap
 
Hallo flammarion,

jetzt kam ich doch schon zum Lesen. Ja, so ist die Geschichte gut. Spannend und genau die richtige Mischung. Einzig das Ende erscheint mir zu einfach und abrupt. Natürlich neige ich zu einem hoffnungslosen Ende, aber auch alternativ muss er ja einen Grund vermuten bzw. spekulieren, warum er "abwesend" war, da würde ich nochmal drüber nachdenken.

Bis bald,
Michael
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

danke fürs lesen und kommentieren. ja, die stelle mit den so plötzlich vergangenen jahren liegt mir auch schwer im magen. aber so was geschieht in alpträumen, und ein alptraum ist es ja.
lg
 



 
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