Das Meer

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G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Hallo Lastro,

ich sag mal so: ich finde deinen Text benötigt eine sprachliche Überarbeitung. Trotzdem bin ich überrascht, dass
dein Text trotz der m.E. vorhandenen sprachlichen Mängel eine Atmosphäre, eine Stimmung erzeugt, die mir
gefällt.

Der größte Knackpunkt sind für mich die ersten drei Absätze:

Der Wind zerrt an der offenen Jacke. Er steckt die Hände in die Hosentaschen und zieht die Arme an den Körper. Sein Blick wandert von den Ausläufern der gischtenden Brandung über das weite, aufgeraute Meer. Mit flatternden Haaren steht Hartmut vor den heranrollenden Fluten.

Ohne sich zu wenden, tritt er einige Schritte zurück, bis er die ansteigende Düne spürt. Er hockt sich hin, umschlingt die Knie, birgt sein Gesicht darauf und schließt die Augen. Umfangen von Brandungsrauschen, Luftstrom und Sand gibt er sich seinem inneren Dunkel hin. Doch findet er keine Ruhe.

Er erhebt sich und lässt sich vom Wind auf den trockenen Strandstreifen treiben. Geleitet vom Wellen schmetternden Meer, von den hohen Dünen und dem kalt-blauen Himmel mit den ausgefransten Wolken, bewegt sich Hartmut auf das Schiffswrack zu, das ihn dort in der Ferne erwartet. Schritt für Schritt erscheint es größer.
In diesen drei Paragraphen werden durchgehend dieselben Bilder bemüht: Wind, Luftstrom, Wind - Brandung, Meer, Fluten, Brandungsrauschen, Wellen, Meer - Düne, Sand, Dünen, Strandstreifen

Es scheint, als seiest du besorgt, dass es dem Leser an bildlicher Vorstellungskraft mangeln könnte, anders kann ich mir die m.E. redundante Wiederholung der genannten Bilder nicht erklären.

"Hartmut stand am Meer. Der Wind wehte ihm ins Haar. Die gischtende Brandung im Ohr, starrte er in die endlose Weite des Ozeans. Dann wandte er sich ab und lief auf das Schiffswrack zu."

Nehmen wir an, du begännest so. Was würde dir fehlen?

In der Folge wird dein Text besser, aber die Sprache ist allgemein zu pathetisch, zu bedeutungsschwanger.

Meine persönliche Meinung.

LG,

CPMan
 

Lastro

Mitglied
Hallo CPMan,

vielen Dank für deine Reflexion über den Text.

Hier meine Gedanken dazu.
Begänne ich den Text nach deinem Vorschlag, verlöre er entscheidende Teile seiner inneren Struktur. Es beträfe z.B. die emotionale Dynamik und den Aufbau der Stimmung.

Hartmuts anfängliches Zögern (sich klein Machen, Schließen der Augen, bis er aufsteht und sich vom Schicksalswind auf den Weg bringen lässt), sich dem Thema des Abschieds, des Todes zuzuwenden, auch wenn es (nur) unterbewusst stattfindet, deutet auf das Überwinden innerer Widerstände hin.
Die Kraft aus dieser Überwindung ermöglicht ihm die spätere Konfrontation mit dem menschlichen Verlust am Schiffswrack. (Unangenehmes geht man mitunter etwas zögerlich an, ein Entschluss reift unsichtbar.)

Die wiederholte Ausbreitung und Beschreibung der umgebenden Szene (Meer, Wind, Himmel, Sand) liefert den notwendig stabilen szenischen Hintergrund für Hartmuts innere Bewegung.

Inwieweit du persönlich die Sprache als zu pathetisch und bedeutungsschwanger empfindest, knüpft u.U. an die vorangegangene Diskussion über die Verwendung von Adjektiven an.

Die Befürchtung, es mangele dem Leser an bildlicher Vorstellungskraft, begleitet mich bei der Gestaltung eines Textes überhaupt nicht.

LG,
Lastro
 

Lastro

Mitglied
In meinem letzten Kommentar sind leider Fehler. Ich hatte die nicht korrigierte Version kopiert.

Hier die neue Versuchsversion, die dem Leser mehr inneren Spielraum für eigene Bilder geben soll.
Die Geschichte heißt nun „Gero“ (vorher „Das Meer“).

Ich hoffe, dass die Stimmung sich nicht entscheidend verändert hat und deutlich spürbar geblieben ist.

Kommentare und Kritik sind willkommen.

LG, Lastro
 

Lastro

Mitglied
Gero

Der Wind zerrt an seiner offenen Jacke. Hartmut steckt die Hände in die Hosentaschen und zieht die Arme an den Körper. Sein Blick wandert über das aufgeraute Meer. Mit flatternden Haaren steht er vor der heranrollenden Brandung.

Ohne sich umzuwenden, tritt er zurück, bis er die ansteigende Düne spürt. Er hockt sich hin, umschlingt die Knie, birgt sein Gesicht darauf und schließt die Augen. Umhüllt vom Rauschen des Meeres gibt er sich seinem Inneren hin. Doch findet er keine Ruhe.

Er erhebt sich und lässt sich vom Wind auf den trockenen Strandstreifen treiben. Geleitet von Wellen und Dünen bewegt er sich auf das Schiffswrack zu, das ihn in der Ferne erwartet. Schritt für Schritt erscheint es größer.

Gero, sein Freund aus Kindertagen, wurde Matrose. Das Reisebündel über der Schulter, verkündete er: „Ich fahre zur See. Lebt wohl! Ich werde euch schreiben, wie es ist,“ und ging davon. Zu Fuß zum nächsten Städtchen, von dort mit dem Überlandbus drei Tage in die große Hafenstadt, um anzuheuern.

Ein paarmal hat Gero geschrieben. Seine kleine Schwester lief, die Wangen rot, mit dem von der langen Reise zerknitterten Brief hoch in der Hand durchs Dorf: „Post von Gero! Post von Gero! Post von Gero!“

Bald darauf saßen sie in der Stube seines kleinen Elternhauses beisammen. Die Schwester las vor, alle hörten zu, mit aufmerksam gesenkten Köpfen. Seine Mutter bedeckte die Augen halb mit einer Hand, die andere hielt ein besticktes Taschentuch, und sein Vater stand aufrecht neben ihr, mit drei Fingerspitzen auf der Tischplatte abgestützt.
Sie hörten von fernen Ländern und fremden Völkern aber auch von Stürmen und harter Arbeit, von lieben Mädels und süßen Früchten, die sie niemals essen würden. Und immer wieder: „Macht euch keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich denke an euch. Ich komme wieder!“

Bis eines Tages die Briefe ausblieben, und stattdessen die Frage im Dorfe umherging: „Lange nichts gehört von unserem Gero, wie es ihm wohl geht?“, und man senkte den Blick. Eines Tages kam sein Vater zu Hartmut und bat ihn, einen Brief zu schreiben, an das Hafenamt in der großen Stadt: „Wisst ihr was über Gero? Seine Familie macht sich Sorgen“. Eine Antwort haben sie nie erhalten.

Hartmut nähert sich dem Schiffswrack und tritt heran an diesen einst stolzen, hölzernen Segler, dessen Mast auf halber Höhe weggesplittert ist, das löchrige Deck in Schräglage. Wie vom Meeresgrunde hochgespült liegt es da.

Durch die Lücken zwischen den Planken späht er in das dämmrige Innere. Es knarrt und wispert wie Stimmen im Wind. „Gero?“

Kein vertrautes „Hallo Hartmut!“ schallt aus dem düsteren Gerippe, kein Lachen, bei dem man seine Zahnlücke sah, kein Schluchzen. Keine Spur von ihm, kein Taschentuch, keine Mütze. Nur Sand, spärlich Gras und ein paar Schnecken auf moderndem Holz.

Auf der zerbrochenen Takelage sitzen Möwen. Darunter schichtet sich ihr Dreck. Von hier fliegen sie zum Fischen hinaus, kehren zurück und ruhen oder schwatzen. Das Wrack ist ihr Heim.

Hartmut wendet sich ab. Er schließt seine Jacke und geht weiter. Die Schultern eingezogen, die Hände in den Hosentaschen. Den Blick dorthin gerichtet, wo er seine Spur tritt.
 



 
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