Das Meer blieb ruhig

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Vera-Lena

Mitglied
Das Meer blieb ruhig

Es warst nicht du,
der seine Schmerzen
auf ein Tablett gelegt
und weltweit
herumgereicht hatte.

Dennoch blieben es
die deinen.

Sie luden nicht ein,
verkostet zu werden,
kehrten dir zurück,
verwandelten dich
in ein Jo-Jo.

Du hörst deinen Angstschreien zu,
Menschenbündel,
schlussendlich
eingekerkert
in diese Schwärze,
die zuvor
hoffnungsgrün
schimmerte.

Für eine Weile noch
wirst du auf dem Wasser
dahintreiben,
dass ein Wolkenweiß
dir ein weltfremdes
Lebewohl
auf die Stirn
drücke.
 
O

orlando

Gast
Liebe Vera-Lena,

für mich arbeitet das Gedicht auf drei Ebenen:
Das Meer blieb ruhig

Es warst nicht du,
der seine Schmerzen
auf ein Tablett gelegt
und weltweit
herumgereicht hatte.
Zunächst wird das Meer selbst auf poetische Weise angesprochen, gleichsam als Behältnis oder Auffangbecken der Drangsal von Bootsflüchtlingen. In einem zweiten Anlauf wird ein Fliehender beschrieben, einer, der sich nicht mehr mitteilen konnte und vieleicht auch nicht mehr wollte.

Dennoch blieben es
die deinen.
Das Schreien des Opfers bleibt zwar nicht ungehört, doch ändert sich wenig.

Sie luden nicht ein,
verkostet zu werden,
kehrten dir zurück,
verwandelten dich
in ein Jo-Jo.
Die Pein bleibt bestehen und wirft den Gequälten hin und her, zwingt ihn zur Umkehr, zwingt ihn in ein Zurück ohne jedweden Hoffnungsschimmer.

Du hörst deinen Angstschreien zu,
Menschenbündel,
schlussendlich
eingekerkert
in diese Schwärze,
die zuvor
hoffnungsgrün
schimmerte.
Hier schilderst du auf beklemmende Weise den Tod durch Ertrinken.

Für eine Weile noch
wirst du auf dem Wasser
dahintreiben,
dass ein Wolkenweiß
dir ein weltfremdes
Lebewohl
auf die Stirn
drücke.
Gab es schon kein Willkommen, so doch ein Lebewohl, ein Nachruf in ARD und ZDF. - Deine Verse klingen hier fast zynisch, was so gar nicht zu dir passen will, aber eben der Grausamkeit des tagtäglichen Geschehens um Lampedusa geschuldet ist. Und unserem Zusehen.

Auf einer zweiten Ebene öffnet sich mir eine Parallele zu Golgatha, eine Kreuzigung gleichsam auf das Meer verlegt.
Aber das ist vielleicht zu weit hergeholt?

Herzliche Grüße
orlando
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Heidrun,

danke für Deinen ausführlichen Kommentar!

Dass Du hier ARD und ZDF erwähnst, ist einleuchtend, werden wir wir doch über Vieles ausführlich informiert.

Ich dachte aber eher an das weltweit herumgereichte Tablett dabei.

Leider nützte es nichts. Innenminister de Mazière sagte:" Schleuser können nicht ausfindig gemacht werden und auch nicht bekämpft werden." Das hat er sich ja nicht ausgedacht. Man wird Versuche gestartet haben und sich beraten haben. Leider kam nichts weiter dabei heraus.

Ich denke mir, ein Flüchling, der genau weiß, dass er den Grausamkeiten seiner Heimat entrinnen kann oder gerade auf diese Weise zu Tode kommen könnte, wird sich das hin und her überlegen, was er tun soll. Es muss qualvoll sein, sich wie ein Jo-Jo zu empfinden, das sich heute so und morgen wieder anders entscheidet.

Im beschriebenen Falle führte die Entscheidung in den qualvollen Tod des Ertrinkens.

Dass man die letzte Strophe als Zynismus empfinden könnte, ist mir auch aufgefallen. Aber so hatte ich es nicht gemeint.

Mit dem Wolkenweiß wollte ich wieder an das ruhig gebliebene Meer anknüpfen und die Aussage machen, dass die Naturgewalten unberührt ihren Gesetzmäßigkeiten folgen, gleichviel was Menschen, die am höchsten entwickelten Wesen dieser Erde, einander zufügen. Auch deshalb hatte ich das "Lebewohl" als "weltfemd" bezeichnet und wollte das unglaubliche Geschehen in die Mitte einer kosmischen Ruhe einbetten, um den Kontrast stärker hervor zu heben.

An Golgatha dachte ich nicht. Hier war es ja umgekehrt. Das Lamm ließ sich zur Schlachtbank führen, während in meinem Text der leidende Mensch den Gräueln zu entfliehen hoffte.

Nur am Rande: Eines haben Kreuzigung und Ertrinken gemeinsam: Der Tod tritt durch ersticken ein.
Dieser Text hat mich selbst so aufgewühhlt, als hätte ich ihn gar nicht geschrieben, sondern irgendwo gelesen. Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht fassen; und zur Zeit ist die Welt voll davon.

Danke, dass ich Dich durch Dein Mitlesen und Mitdenken an meiner Seite wissen darf.

Auch Franke und xxandros danke für Eure Bewertungen, die mir auch das Gefühl geben, mit diesem Text nicht allein dazustehen.

Euch Dreien liebe Grüße
Vera-Lena
 
O

orlando

Gast
Liebe Vera-Lena,
ich meinte mit der Erwähnung der Kreuzigung etwas anderes, gleichsam (s)einen "Nachklapp."

Jesus von Nazareth wollte in Bescheidenheit und Demut vornehmlich predigen; seine Umwelt aber - und auch Teile der Jüngerschar - verlangten zunehmend nach Beweismaterialien, nach Mirakeln, die Größe bezeugen könnten.
Am Ende forderten seine Häscher bekanntlich ein letztes Wunder: Er möge vom Kreuz hinabsteigen und sein Königtum mit Leben füllen, also dem Schmerz und seinem Opfergang entfliehen, die sich später zur Erlösungshoffnung der Christenheit gestalten sollten.

Dem Sinne nach ([blue]kein[/blue] Veränderungsvorschlag!):

Es warst nicht du,
der seine Schmerzen
auf ein Tablett gelegt
weltweit
herumgereicht [und viel Aufhebens
davon gemacht hatte]
Insofern schoss mir auf einer Drittebene auch ein Gespräch mit dem Propheten / Gottessohn selbst durch den Kopf.

Aber, wie ich ja schon eingangs einräumte: Das ist wohl zu weit hergeholt ...

Bedenkt man aber, dass die ersten Berichte über das Leben und Sterben Christi erst ca. 70 Jahre nach seinem Tod niedergeschrieben wurden und dies auf recht unterschiedliche Weise, so ist ein kleines Nebengleis vielleicht verständlich ... Beharren muss ich darauf nicht. ;)
Herzliche Grüße
Heidrun
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Heidrun,

danke für Deine Erklärung!

Jetzt verstehe ich Deinen Gedankengang schon besser.

Jeder hat ja beim Lesen Assoziationen, die von anderen nicht unbedingt geteilt werden und das ist sein gutes Recht. Ja, wenn Lyrik dergleichen in Bewegung setzt, ist das eine Bereicherung und eine gute Sache.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 



 
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