Das Meisterwerk

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Sonkl Hanja

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Das Meisterwerk

Ganz hoch oben auf dem Hügel eines Hügels stand ein altehrwürdiges Anwesen erbaut aus kältestem Stein. Aus seiner linken Seite wuchs ein Turm mit spitz zulaufendem Dach, der berührte zart die Wolken, wenn sie schwer waren und tief hingen. Das Anwesen hob sich kaum von dem grauen Hintergrund ab, den der November mit sich brachte und blieb von da an den ganzen Winter hindurch fast unsichtbar für das menschliche Auge. Das Grundstück um das Anwesen herum war vernachlässigt und verwildert und jetzt, wo der Herbst langsam Lebewohl sagte und der Winter schon auf der Türschwelle stand, konnte man nur noch erahnen wie prachtvoll der große Garten um das Anwesen in den wärmeren, sonnigeren Monaten zu blühen vermochte. Im Frühling und Sommer boten die Blumen, Bäume und Büsche, überlaufend mit Farbe, Nektar und Früchten, so vielen Lebewesen ein Zuhause. Legte man sich in das hohe Gras, konnte man den Garten atmen hören. Der Herbst nahm den Blumen die Farben und schenkte sie den Blättern der Bäume, bis der November alle Farben aufsaugte, sie zu einem kalten, grauen Brei vermischte und damit den Horizont anstrich. Der Garten erstarb und mit ihm das blühende Leben. Von diesem Zeitpunkt an beherbergte das Anwesen nur noch ein einziges Lebewesen.
Ein Künstler lebte bescheiden und abgeschieden hinter den Wänden aus kältestem Stein, denn zum Leben brauchte er wenig Materialistisches und auch wenig Gesellschaft. Er brauchte die Nähe der Menschen genauso wenig, wie die Menschen seine Nähe brauchten. Die eine Sache aber, die er dringend brauchte, fehlte ihm, war ihm abhandengekommen irgendwann in letzter Zeit. Er erinnerte sich nicht daran wie er war zu der Zeit, wer er war. Er wusste nur, dass ihm etwas fehlte. Seither verbrachte er seine Tage alleine im großen Saal vor dem Kamin und trank bernsteinfarbene Getränke aus transparenten Behältnissen. Sie mischten sich gut mit melancholischen Gedanken, führten aber zu Kopfschmerzen, wenn sich Eis in dünnen Schichten über die Oberfläche zog.
In seinem Kopf hörte er, als säße es hinter ihm, ein Quartett von Cellisten. Mit geschlossenen Augen saß er tief versunken im samtenen Sessel, das warme, orange züngelnde Feuer tauchte sein Gesicht in Licht und Schatten. Den linken Ellbogen auf der Armlehne aufgestützt und sein halb volles Behältnis in der Hand haltend, zeichnete er mit den Fingern der Rechten die Töne als dem Herzen entspringende Formen in die Luft. Dort verharrten sie kurz, brachen dann und fielen zu Boden, wo sie bald unter einer Schicht aus Staub vollends in Vergessenheit gerieten.
Jede Nacht, kurz bevor der Künstler den Kampf gegen die Müdigkeit verlor und das letzte Glühen im Kamin unter einem leisen Knacken langsam verlosch, streckte er seinen Arm in die Dunkelheit, als würde er nach etwas greifen, ließ ihn dann wieder auf die Armlehne sinken und hielt mit einem hohlen Gefühl in der Brust eine unsichtbare Hand, während er dem Schlaf verfiel.

Viele Wochen vergingen in immer demselben Trott. Doch die bernsteinfarbene Flüssigkeit, anfangs das Hohle noch füllend, trug wie ein Fluss nach langer Zeit auch das härteste Material ab, höhlte den Künstler stetig weiter aus, bis auch die größte Menge nichts mehr zu füllen vermochte.
An einem der ersten klirrend kalten Tage des Winters, an dem der Schnee wie feinstes Pulver auf den Skeletten der Bäume glänzte, zog mit dem frühen Untergang der Sonne ein Sturm auf, der alleine dem Künstler galt. Wie immer trank er im Sessel sitzend seine Flüssigkeit, hielt die unsichtbare Hand und sank zu gegebener Zeit langsam in einen unruhigen Schlaf, während draußen der Wind um die Ecken und Kanten des Anwesens brauste und an den hölzernen Fensterläden rüttelte. Die Melodie des Windes gefiel ihm so sehr, dass er das Cello-Quartett für diese Nacht pausieren ließ. Es klang wie etwas Mächtiges, Unbekanntes, das um Einlass bat und dieses Ungewisse hinterließ eine Gänsehaut im Innern. Prickelnd füllte es ihn aus, dann wiegte es angenehm, wie sanfter Wind in zerbrechlichen Ästen, den Künstler in den Schlaf. Und alle Geräusche erstarben für eine Weile.
Als sich gerade ein Traum zu formen begann, weckte ein lautes Klopfen den Künstler auf recht unangenehme Weise. Etwas Mächtiges, das zu lange ungehört um Einlass gebeten hatte, trat ungebeten ein. Der Wind zerschmetterte zuerst die hölzernen Fensterläden, um dann, noch einmal kräftig ausholend, das Fenster in tausend Scherben zu zerschlagen. Dann kroch er zu dem Künstler in den großen Saal. Und noch etwas war mit dem Wind herein gekommen. Es war nichts fassbares, nichts sichtbares, aber es kroch ihm unter die Haut wie der Stich einer Mücke, den man toleriert des Schlafes wegen. Dort schlug es Wurzeln.
Des Künstlers Herz schlug wild, als ihn, während er zu fliehen versuchte, eine Böe erfasste und zu Boden schleuderte, wo er schmerzhaft mit dem Rücken aufschlug. Als er nach Luft schnappte, stieg sein Atem als Wolke in die mittlere Troposphäre auf. Durch das offene Fenster trug der Sturm stetig Schnee hinein, sodass bereits eine recht stattliche Schneedecke den großen Saal zierte und diesen in eine Winterlandschaft verwandelte. Auf Händen und Knien neue Kraft sammelnd, erfüllte den Künstler schnell eine eisige Kälte, die bis in jede einzelne Zelle vordrang und ihn am ganzen Körper zittern ließ. Kriechend versuchte er voranzukommen, der Wind fauchte ihm wild um die Ohren und wirbelte den Schnee so wild umher, dass er keinen Meter weit sehen konnte. Eine weitere Böe erfasste eines der vielen Gemälde welche die Gedanken und Gefühle des Künstlers portraitierten. Gebannt auf Leinwand pflasterten ihre Erinnerungen das Innere der kalten Mauern. Und dann, mit dem schweren Rahmen voran, entglitt das Gemälde dem Nagel und versetzte beim Fallen dem Kopf des Künstlers einen harten Schlag. Und alle Geräusche erstarben für eine Weile.
Dem Sturm, währenddessen, war der große Saal nicht groß genug gewesen, Tür um Tür verschaffte er sich nun Zugang zu jedem Zimmer des Anwesens, zuerst im gesamten Erdgeschoss und dann auch im Obergeschoss und auf dem Dachboden. Raum für Raum eroberte der Sturm das Anwesen, füllte es mit Schnee und der Schnee absorbierte alle Geräusche der Vergangenheit und begrub sie unter sich. Dann, langsam, legte sich der Sturm, die Nacht wich dem Tag und nur noch einzelne Flocken sanken als Nachzügler wie Watte zu Boden.
Die weiße Decke, auf der der Künstler lag, reflektierte das Licht der aufgehenden Sonne, die durch den leeren Fensterrahmen schien, in einem derartigen Winkel, dass sie seine Augen durch die Lider hindurch blendete. Er wachte pochenden Schädels und blinzelnden Auges auf und erblickte ein Feld aus glitzernden Schneekristallen. Für eine Weile wiegte ihn dieser Anblick in einer seltsamen Sicherheit, doch schnell bemerkte er die Kälte als Absenz von Gefühl in einigen Körperteilen. Dann erfüllte ihn das ganz starke Verlangen sich in eine Badewanne voller dampfend warmem Wasser sinken zu lassen, bis dieses die Kälte aus jedem Winkel seines Wesens vertrieben haben würde. Die Vorstellung von Wärme spornte ihn an. Zuerst versuchte er die starren Gliedmaßen anzuwinkeln, hatte aber Angst, sie würden brechen, wenn er sie zu weit bog und ließ es deswegen langsam angehen. Winkel um Winkel, wie die Schenkel eines Zirkels wanderte er von stumpf zu spitz, dann zu einhundertachzig Grad und er stand. Etwas zittrig zwar, doch der Künstler war wieder auf den Beinen. Leicht taumelnd besah er sich Raum für Raum den Schaden, den der Sturm angerichtet hatte. Es war merkwürdig leise, der Schnee schien nicht nur die Geräusche der Vergangenheit absorbiert zu haben, sondern auch die der Gegenwart zu verschlucken. Durch all die absorbierten Geräusche zu stapfen machte den Künstler recht schnell müde und wo er auch hinkam gab es keinen Ort, um sich auszuruhen und aufzuwärmen. Schließlich betrat er, am anderen Ende des Anwesens angekommen, das Treppenhaus des Turmes. Bis dorthin war der Sturm nicht vorgedrungen und so fing er an die beinahe unendlich vielen Stufen der Wendeltreppe hinaufzusteigen, nachdem er sich die Öllampe angezündet hatte die immer an einem Haken neben der Tür hing.

Es war schon wieder Nacht, als er endlich das Ende der Treppe erreichte und durch eine Dachluke das Zimmer unter dem Dach des Turmes betrat. Auf einem runden, hölzernen Tisch stellte er die Öllampe ab, löschte die Flamme und legte sich in das ungemachte Bett, das gleich daneben stand. Noch immer fröstelnd wickelte er sich in mehrere Decken ein und fiel wenige Augenblicke später in einen tiefen, traumlosen Schlaf, den sein erschöpfter Körper einforderte.
Durch die zehn Fenster des zehneckigen Raumes, der als Kopf auf dem zylindrischen Turm saß, fiel, wenn die dichten Wolken es zuließen, das weiche Licht des Mondes und verfing sich in einer dicken Staubschicht, wo es als matt silbernes Schimmern liegen blieb.
Überall im Raum verteilt lehnten zahlreiche Leinwände, Tuben und Dosen voller Farbe standen herum, Pinsel ragten mit dem haarigen Ende nach oben aus bunt gefärbten Einmachgläsern. Es roch nach Ölfarbe und Terpentin, gemischt mit dem modrigen Geruch alter Möbel, der einem rot gepolsterten Sofa entsprang. Inmitten all des Chaos stand neben einem hüfthohen, kleinen Tisch, auf dem eine Palette lag, auf einer Staffelei eine weiße Leinwand. In einem Halbkreis um die Leinwand herum waren die Dielen des Holzes mit Farbe besprenkelt. Hier stand und malte der Künstler für gewöhnlich, wenn er denn malte. Denn seit er sich vor einiger Zeit in den großen Saal zurückgezogen hatte, wartete die Leinwand tagein tagaus vergeblich auf den ersten Pinselstrich.
Durch eine kleine Lücke in der Wolkendecke fiel kurz wie ein Morsezeichen das letzte Licht des Mondes für diese Nacht durch das Fenster und streifte sanft das schlafende Gesicht des Künstlers, bis die nachrückenden Wolken den Lichtstrahl abschnitten und den Raum in einer grauen Dunkelheit zurückließen. Von einem Loch in der Spitze des Daches tropfte stetig Wasser in das Zentrum des Raumes. Einzelne aufgewirbelte Staubkörner fielen langsam wieder zu Boden und schwammen in den geschmolzenen, wässrigen Geräuschen vergangener Erinnerungen, die die schweren Stiefel des Künstlers als Fußabdrücke hinterlassen hatten. Dann erstarben alle Geräusche für eine Weile. Drei Nächte und drei Tage schlief der Künstler vergraben unter den vielen Decken, bis er zu Beginn der vierten Nacht zur Musik des an die Fenster klopfenden Schneeregens vorsichtig darunter hervorkroch. Zwei Tropfen schlugen fortwährend und sich abwechselnd den gleichen Takt an, während einzelne zwischendurch eine Art Melodie erzeugten. Mal zögernd, mal eilend entstand einbStück und der Künstler hörte in seinem Kopf, als säße er hinter ihm, einen Pianisten, der dem Regen als Dirigenten folgte. Er setzte sich an den Rand des Bettes und schlüpfte in seine Stiefel. Dann stand er auf und streckte ausgiebig seinen steifen Körper, während er ausgelassen gähnte. Die Nacht war klar und das helle Licht des Vollmondes erhellte den Raum in einem grau schimmernden Schein. Kalt war es, sodass der Künstler seinen Atem als Nebel entweichen sehen konnte und in der Mitte des Raumes vor der Staffelei hatte sich durch das stetige Fallen der Tropfen durch das Dach ein Eisblock gebildet, der dem Künstler in Höhe und Breite fast glich. Er trat näher an ihn heran, um ihn zu betrachten, zu berühren. Glatt und weich fühlte sich das Eis unter seinen Fingerspitzen an und wärmer als erwartet. In perfekten Winkeln standen die Flächen rechteckig zueinander, sich gegenüberliegende waren aufeinander bezogen derart parallel, dass sie sich, hätte man sie unendlich verlängert, niemals hätten schneiden können.
Von diesem Eisblock geometrischer Perfektion angezogen wie eine Motte vom Licht, verbrachte der Künstler einige Stunden damit im Schneidersitz davor zu hocken und ihn, möglichst wenig blinzelnd, als würde er sonst etwas verpassen, von oben bis unten zu beäugen. Dann, plötzlich, aus einem Impuls heraus, sprang er auf und suchte fieberhaft nach etwas Bestimmtem in dem ganzen Chaos, das ihn umgab. Er warf Leinwände um, kramte in Holzkisten und wurde schließlich in einem Werkzeugkasten fündig.
Bewaffnet mit Hammer und Meißel kehrte er zurück zu seinem kostbaren Eisblock und fing an diesen mit seinen Werkzeugen zu bearbeiten. Die ganze Nacht hindurch hörte man das Schlagen von Metall auf Metall und das Knirschen und Brechen von Eis. Mit den ersten Sonnenstrahlen am Morgen fiel der Künstler erschöpft ins Bett, um seine Arbeit nach Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen. Das Ganze wiederholte sich über viele Wochen hinweg. Nachts über arbeitete der Künstler an seinem Eisblock, am Tage schlief er. Schnell hatte er sich an die ständig anwesende Kälte gewöhnt und Freundschaft mit ihr geschlossen. Was außerhalb des Turmes vor sich ging interessierte ihn nicht und zeigte sich des Nachts kein Mond, so arbeitete er einfach im Schein der Öllampe.
Langsam schleichend verging so der Winter bis in der Nacht vor Frühlingsbeginn der Künstler schließlich sein Kunstwerk vollendete. Kniend und mit von sich gestreckten Armen ließ er Hammer und Meißel zu Boden fallen. Jetzt, wo er fertig war, überkam ihn eine ausgereifte Erschöpfung, aber ein wenig würde er noch wach bleiben müssen. Die schon leicht gefärbten Wolken kündeten das Grauen des Morgens an und der Künstler zählte die Sekunden, bis er sein Meisterwerk endlich im Schein der Sonne betrachten konnte. Zwar war es in der sicheren Dunkelheit der Nacht entstanden, doch erst im vollständigen Spektrum der Farben würde es seine wahre Gestalt offenbaren. Mit dem Wissen um den besonderen Moment, zogen sich alle Wolken zurück und hinterließen einen klaren Himmel gestrichen in den zwielichtigen Farben der aufgehenden Sonne. Wenige Momente später schon spannte sich ein azurblaues Tuch über die Erde.
Die Strahlenbündel der Frühlingssonne betraten endlich auch den Turm des Künstlers und schmiegten sich wie Honig an das Meisterwerk, sodass es in allen möglichen Farben funkelte wie der wertvollste Edelstein. Die vielen Ecken und Kanten, die scheinbar willkürlich auf der Oberfläche eingearbeitet wurden, reflektierten das Licht derartig, dass es den Künstler umrahmte, wo er sich auch befand. Die Farben des reflektierten Lichtes ergaben ein Negativ der Farben des Künstlers, sodass es alles Hohle in ihm füllte. Von dem Gefühl der Vollständigkeit und Schönheit überwältigt, begann der Künstler aus einem erfüllten Herzen heraus vor lauter Wohlsein zu weinen. Er legte sich auf den Boden, denn die Sonne war warm, und fiel, sich seiner Erschöpfung hingebend, in einen vollständigen Schlaf, während seine Tränen das Licht auffingen, langsam verdunsteten und weit oben die ersten Grundbausteine neuer Wolken legten.
Als einen Tag später am Morgen der Künstler wieder erwachte, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Das hohle Gefühl in seiner Brust war zurück und strahlte wie ein pochender Schmerz in alle Körperbereiche aus. Er richtete sich auf und rieb seine Augen. Der Morgen war ebenso wolkenlos sonnig, wie am Tag zuvor, doch als er sich seinem Meisterwerk zuwandte, stellte er erschrocken fest, dass es nicht mehr war, als ein Klumpen in Form und Größe eines menschlichen Herzens, der in einer Pfütze seiner ehemaligen Gestalt lag. Die Frühlingssonne war so kräftig gewesen, dass sie den Eisblock zum Schmelzen gebracht hatte. Verzweifelt drückte der Künstler nun das Herz aus Eis an das seine und rollte sich in der Pfütze liegend ein, in der Hoffnung das Meisterwerk würde in einem anderen Aggregatzustand dieselbe Wirkung zeigen wie zuvor und wieder alles Hohle in ihm füllen. Von seinem Körper gewärmt, schmolz das Herz in seinen Händen an seiner Brust. Je fester er es hielt, desto schneller. Und zusammen mit dem Rest des Meisterwerkes schmolz der Künstler im warmen Licht der Frühlingssonne. Langsam verdunstete die vollständige Pfütze und erschuf weit oben ein Anwesen erbaut auf den Grundbausteinen ehemaliger Tränen. Dann erstarben alle Geräusche für eine Weile und das Anwesen machte sich bereit für das Erwachen neuen Lebens mit dem Beginn des Frühlings.
 



 
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