Das multikulturelle Kleinbürgertum

Marcus Soike

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Im Treppenhaus wird dem Sauerkrautgestank die Zukunft bestritten. Eine Fertigpizza riecht nach Karamell, eine Fertiglasagne brennt vernehmlich an, mariniertes Gammelfleisch empfiehlt sich, eine Raviolidose verschimmelt bis zum nicht mehr zumutbaren, der Knoblauchgestank der Türken ist da fast erträglich (Im Haus wohnen keine Türken, aber es stinkt nach Knoblauch. Also doch!) ... Eine deutsche Hausfrau macht das Fenster zu, das kommt alles von draußen rein, schlimm mit denen. ... Eine oberschlesische Familie freut sich auf ihren Weisskrautgulasch, den Gestank kann man den Deutschen in die Schuhe schieben, endlich mal.
Ansonsten: Der Staubsauger im Dritten ist zu laut, fünfter Stock spielt E-Gitarre, siebter Stock bellt ständig und ist nicht treppenhausrein, zweiter Stock hasst alle, oder liegt schon seit einem halben Jahr tot in der Badewanne, die Bulgaren aus dem Achten nerven mit Knoblauch, alte Dame im Elften führt Lärmtagebuch.
Für diese Konflikte gibt es dann Mediatoren, Schlichter, Sozialarbeiter, ein neu hinzugezogenes Pärchen, das vermittelt: "Wir möchten hier gut miteinander auskommen."
Sie sind weder alt noch jung, keinen Zentimeter größer, umfangreicher, als der Durchschnitt. ihre Kleidung ist grau, zumindest unbunt, so gewählt, dass sich keiner an sie erinnert.Ihre Frisuren sind alles, nur keine Glatzen, sie sind weder dumm noch schlau, keine Normdenker, eben deshalb genau in der etablierten Norm. Sie haben einen Migrationshintergrund wie alle, geht man nur weit genug hinter Westfälischen Frieden, Völkerwanderung zurück. Ihre Gesichter, ihre Haarfarbe, ihre Hobbies, ihr Körpergeruch, penetriert niemanden. Sie bieten keine Angriffsfläche... doch!
Sie werden gehasst für das, was sie nicht sind. Ihre Durchschnittlichkeit ist eine weiße Leinwand, ein Klumpen Lehm, ein Zeitraum Stille, und der niederträchtige Nachbar erkennt nun sein Künstlertum, bespritzt das weisse Leinen, modelliert den Lehm und greift dabei tief ins Klo, brüllt in die Stille Tiraden ohne Pausen.
Der erste Abend des Pärchens in der neuen Wohnung. Die Bücherkartons sind ausgepackt, das Bücherregal muss aufgebaut werden, könnte Lärm machen, aber so ist das am ersten Abend, die netten Leute werden schon Verständnis dafür haben.
Im Haus wird nachbarschaftlich gelauert. Was sind das für Leute, werden sie auch die Treppe putzen, haben sie Kinder, einen bellenden Hund, eine Katze, wenn ja, welches der Tiere wird geruchsvoll sein Revier markieren? Beide? Was für Leute werden diese Leute besuchen? Bringen die wiederum auch ihre Leute mit? Hören sie Musik, wenn ja, wie laut, wenn nein, wie laut, sind sie laut?
Der Objektträger wird von allen Seiten angestrahlt, das Skalpell ist geschärft, der paranoide Blick geschult. Unser Pärchen hat die Spotlight-Existenz eines überraschten Kakerlaken-Pärchens. Dies ist die Stunde der Querulanten, Denunzianten, Beschwerdepoeten, Leserbriefschreiber, Blockwarte, Hauswarte, Etagenwarte, Weltverpester, Kleingeistbürger...
Die verbrauchen zuviel Wasser! Denen ihre Waschmaschine stinkt! Die hören zu laut Musik, und immer dann, wenn alle arbeiten sind... Die sind den ganzen Tag zuhause, was sind das für Leute, da? Die da sind Pkk Nazis Linke Salafisten Pfeilkreuzler Freimaurer Zigeuner Argonauten... Die haben unsere Katze systematisch vergiftet... Deren Hund wird immer frecher...
Sich zu lieben. Jetzt. Gelegenheit ist günstig: im Haus laufen zwei Waschmaschinen, ah, da auch der Wäschetrockner aus dem Vierten, viele Nachbarn schlafen schon, einer älteren Frau sind die Brunftgeräusche egal, einer weiteren älteren Frau sind sie nicht egal, aber sie ist dement und würde am nächsten Morgen wieder ganz freundlich sein.
Privatheit ist ein Spiel der Zeit - eine Waschmaschine hat fertig gelärmt, wir müssen um ein Drittel leiser sein, jetzt stoppt auch die zweite Maschine, aber der Trockner läuft noch, vom Geräuschpegel her ist ein Abspritzen deinerseits nicht abseits des Möglichen, mein euphorisches Stöhnen findet auch noch Platz, denn oben im Treppenhaus ist jetzt Palaver - wegen uns? - egal, der Lärm schirmt ab.
Nach zehn Uhr die Dusche zu benutzen, ist dann wieder ein Thrill für sich. Könnte hier nicht ein Spätschichtler wohnen, der gerade seine Klamotten wäscht?
Wohnen in Schubladen, denken in Schubladen. Das normierte Denken muss sich ohne Quietschen ins Größere einfügen lassen, in die kleinen, bösen Vorurteile muss Ordnung kommen, sie müssen sich auch abschließen lassen, denn die Oberfläche muss ein fusselfreies Tuch sauberhalten.
Nun geht es auch mal weniger um Kleinbürger - auch von Kleingeistern ist zu reden, die groß für sich bürgen lassen können... Im Treppenhaus der getunten Wohnmaschine ist die verirrte Erdnuss, die als Stolperfalle auf Treppe Drei liegt, der Stein des Anstoßes, der gallige Stein, der in alle Richtungen rotzende Tumor. Und in so manchem Villenviertel? Da geht es um falsch angestrichene Dreifachgaragen, zu laut dröhnendem Maserati, Nacktbaden im Swimming Pool - Das Kleingeistbürgertum vollendet die nivellierte Mittelstandsgesellschaft.
Der bösartige, aber feingerippte Unterhosen-Mann zum Beispiel: Er schreit seine Beschwerde ins Telefon und trommelt Morsezeichen gegen die Wand, Internet hat er keins. Keine Waschmaschine dröhnt mehr, auch hat es sich ausgestöhnt, so dass diese Message sich im ganzen Haus verbreitet. Die E-Gitarre zieht neue Saiten auf, trommelt zurück, posaunt Gerüchte über die Polin aus. Dann Katzenmusik aus dem Jenseits. Zweiter Stock hasst alle noch mehr oder ist tot, so oder so aber still. Gebelle als Kontrapunkt. Lautstarke Diskussion ganz oben über Katzen und deren Notdurft. Wie als Antwort darauf: eine Toilettenspülung. Aber es kommt noch schlimmer: Die alte Dame, die lautstark ihr Lärm-Tagebuch vorliest! In Fraktur!
Privatheit ist der Enge abgerungen, Abgrenzung einer Existenz in einem Labyritnth von Grenzen, Streicheln, Liebkosen, Tasten muss sich in einem Raum im Stacheldraht behaupten. Eine theatralische Pause mitten in der Kakophonie des Kleingeistbürgertums bedeutet Romantik, muss dafür herhalten.
Die althergebrachte "Deutsche Innerlichkeit" ist keine Einsamkeit, wenn ein Du mit nach innen genommen wird: Gemeinsam einsam. Es heißt dann mit allem Optimismus: "Wir gegen den Rest der Welt", wo es vorher angstvoll hieß: "Der Rest der Welt gegen uns", ja sogar "Der Rest der Welt plus Du gegen mich." Wenn der nächste nachbarschaftliche Anschiss (immer öfter wird das wörtlich zu nehmen sein) stattgefunden hat, wir der Ärger, der seelische Schmerz geteilt; das Reflektieren, Geradebiegen, ins Humorige ziehen, Schwamm drüber wischen (immer öfter wird das wörtlich zu nehmen sein) erfolgt zu zweit, wobei der Gewinn ein doppelter ist.
Es bleibt, ein bisschen Verständnis für das arme, kleingeistbürgerliche autoritäre Würstchen zu vermitteln: Er hat es auch nicht leicht, so aufrecht er seinen Raum einnimmt, denn er hat schwer an seiner verschämt zurückgenommenen Verdauung, zu tragen - sie ist es, die ihn versteift, nachzulesen bei Freud.
Möge er sich davon befreien können (immer öfter ist das wörtlich zu nehmen) - auf dass man ihm seinen Stock im A... irgendwann um die Ohren pfeffern kann.
 



 
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