Das Netz

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Viele vor dir haben versucht, sich zu befreien. Das weiße Netz umspinnt dich mit fein aneinander liegenden, bei genauem Hinsehen glänzenden Fäden, aus denen sich an mancher Stelle bebender Tau schält, dessen Ursprung fragwürdig scheint. Unwahrscheinlichste Winkel und Kreuzungen ziehen sich wie Straßen über den seidenen Teppich, der unregelmäßig im Wind zittert. Feine, schimmernde Splitter stehen hier und da bedrohlich, aber ebenso fragil ab. Die zarteste aller Bewegungen an einer Stelle mag unbemerkt bleiben, das Gefüge in unmittelbarer Nachbarschaft leicht verschieben oder an anderer Stelle größte Verschlingungen und Verzerrungen auslösen. Was heute noch Halt gibt, kann morgen strangulieren und übermorgen zerfallen. Zu dicken Adern sind einige Fäden ineinander gewachsen und verschmolzen. Andere wurden auseinander gezogen und schwingen ängstlich verjüngt oder haben sich schüchtern an ihre Nächsten angelegt. Weiß und grau, an besonders dichten Stellen fast schwarz imponiert das Gebilde, reflektiert mal das Licht und verschluckt es dann wieder. Kleine Insekten sind manchmal dabei zu beobachten, wie sie aus Neugier und Nachlässigkeit an den heteromorphen Fäden hängen bleiben. Die wenigsten von ihnen können sich wieder befreien, die große Mehrzahl verendet in den Fängen des abstrakten Ungetüms. Und so sollte der seidene Teppich durchsetzt von und übersät mit kleinen schwarzen Punkten und Krümeln sein, sollte dunkler und dunkler werden und schließlich zu einem unappetitlichen Haufen verkommen. Doch aus nicht zu klärenden Gründen verschwinden die zugrunde gerichteten Lebewesen nach kurzer Zeit, als hätte es sie nie gegeben. Es scheint, als würden sie behutsam abgebaut, aber nachvollziehbar ist weder der Vorgang noch der Verbleib der Überreste. Ein seidener Hauch liegt manchmal über jeder Faser, der alles dem Gefüge Fremde abweist. Nichtigster Staub umspielt schwebend die gleißenden Stränge, tänzelt im diesigen Licht. Jede Bewegung zeugt spielerisch tausende Klänge, die das Gefüge bald bricht. Suchen die zierlichen Splitter am Ungetüm Nähe, das ihnen Zuflucht verspricht, weist sie das Ungetüm ab mit zerberstender Jähe; kurzum: es duldet sie nicht. 'Neutral ist die Farbe der Beständigkeit', steht in schwarzen Lettern am unteren Ende einer Treppe, die du hinabblickst, ohne dich regen zu wollen. Das Netz befreit dich, denkst du in seltenen Momenten, in denen du dich gerade nicht vom Netz befreien willst. Etwas Beständiges. Das weiße Netz duldet keine Einschübe und vermutlich gibt es kein Erwachen. Wie ein Schneesturm projiziert sich weißes Gestöber auf die Fasern und Stränge. Du bist nicht frei. Im Netz versiegt ein Gedanke.
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe(r) zurückhaltbar,

der erste Teil ist eine unglaublich schöne Beschreibung eines Spinnennetzes - trotz der 'bedrohlichen' einleitenden Worte - bis in die zwölfte Zeile hinein, und dann kippt es weg und vergröbert die Zusammenhänge als solle unbedingt der einleitende Gedanke wieder aufgenommen werden und das Netz nicht mehr nur als poetisch inspirierendes Bild wahrgenommen werden, sondern in seiner Funktion und auf einmal ist auch das LyrI wieder da und steht am Ende einer Treppe, es wird surreal.
Vielleicht würde ich das Ensemble besser finden, wenn der poetische Teil nicht so schön wäre ...

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,
vielen Dank, dass du dich mit meinem Text auseinandergesetzt hast. Verstehe ich dich richtig, dass der erste Teil in deinen Augen zu ansprechend ist für das, was sich dann ab Zeile 12 entfaltet? Siehst du hier daher das Potential für zwei unterschiedliche Texte oder würdest du zumindest einen der beiden Teile anpassen?
Liebe Grüße!
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo zurückhaltbar,

habe ich doch in der Flut der E-Mails Deine Rückfrage übersprungen - das soll nicht sein.

Also ... ja und nein. Ich habe mit meiner Antwort schon versucht zu erklären, was mich stört. Zum einen ist das ja eine individuelle Sicht und andere störte es gar nicht, zum anderen müssen 'Schönheit' und das 'Surreale' nicht unvereinbar sein. Die Sprache fällt ja nicht ab, oder so.
Vielleicht ist meine Irritation ja Teil der beabsichtigten Wirkung :)

Liebe Grüße
Petra
 

Scal

Mitglied
1 Viele vor dir haben versucht, sich zu befreien.

2 Das weiße Netz umspinnt dich mit fein aneinander liegenden, bei genauem Hinsehen glänzenden Fäden, aus denen sich an mancher Stelle bebender Tau schält, dessen Ursprung fragwürdig scheint.

3 Unwahrscheinlichste Winkel und Kreuzungen ziehen sich wie Straßen über den seidenen Teppich, der unregelmäßig im Wind zittert.

4 Feine, schimmernde Splitter stehen hier und da bedrohlich, aber ebenso fragil ab.

5 Die zarteste aller Bewegungen an einer Stelle mag (beinahe) unbemerkt bleiben, das Gefüge in unmittelbarer Nachbarschaft leicht verschieben oder an anderer Stelle größte Verschlingungen und Verzerrungen auslösen.

6 Was heute noch Halt gibt, kann morgen strangulieren und übermorgen zerfallen.

7 Zu dicken Adern sind einige Fäden ineinander gewachsen und verschmolzen.

8 Andere wurden auseinander gezogen und schwingen ängstlich verjüngt oder haben sich schüchtern an ihre Nächsten angelegt.

9 Weiß und grau, an besonders dichten Stellen fast schwarz (,) imponiert das Gebilde, reflektiert mal das Licht und verschluckt es dann wieder.

10 Kleine Insekten sind manchmal dabei zu beobachten, wie sie aus Neugier und Nachlässigkeit an den heteromorphen Fäden hängen bleiben.

11 Die wenigsten von ihnen können sich wieder befreien, die große Mehrzahl verendet in den Fängen des abstrakten Ungetüms.

12 Und so (?) sollte der seidene Teppich durchsetzt von und übersät mit kleinen schwarzen Punkten und Krümeln sein, sollte dunkler und dunkler werden und schließlich zu einem unappetitlichen Haufen verkommen.

13 Doch (?) aus nicht zu klärenden Gründen verschwinden die zugrunde gerichteten Lebewesen nach kurzer Zeit, als hätte es sie nie gegeben.

14 Es scheint, (?) als würden sie behutsam abgebaut, aber nachvollziehbar ist weder der Vorgang noch der Verbleib der Überreste.

15 Ein seidener Hauch liegt manchmal über jeder Faser, der alles dem Gefüge Fremde abweist.

16 Nichtigster Staub umspielt schwebend die gleißenden Stränge, tänzelt im diesigen Licht.

17 Jede Bewegung zeugt spielerisch tausende Klänge, die das Gefüge bald bricht.

18 Suchen die zierlichen Splitter am Ungetüm Nähe, das ihnen Zuflucht verspricht, weist sie das Ungetüm ab mit zerberstender Jähe; kurzum: es duldet sie nicht.

19 'Neutral ist die Farbe der Beständigkeit', steht in schwarzen Lettern am unteren Ende einer Treppe, die du hinabblickst, ohne dich regen zu wollen.

20 Das Netz befreit dich, denkst du in seltenen Momenten, in denen du dich gerade nicht vom Netz befreien willst.

21 Etwas Beständiges.

22 Das weiße Netz duldet keine Einschübe und vermutlich gibt es kein Erwachen.

23 Wie ein Schneesturm projiziert sich weißes Gestöber auf die Fasern und Stränge.

24 Du bist nicht frei.

25 Im Netz versiegt ein Gedanke.


Handelt es sich hier um einen literarisch-bildhaft-visionären Beschreibungsversuch assoziativ-neuronaler Vorgänge?, dachte ich mir nach dem Lesen. Gewissermaßen um einen phänomenologischen Sichtungsversuch, von einem inneren Turm aus vollzogen, in dem die bildhafte Logizität allen Beschreibungsvermögens haust, somit also zugleich eine lebendige Metaebene auftritt?
Oder handelt es sich möglicherweise zudem auch um eine bildhafte Charakterisierung von unterschwellig Vorgängigem im Internet-Netz?
Auch die Textform ist ein Netz.

Diese, meine Gedanken, werden im Netz versiegen.
Aber ich habe mich frei dazu entschieden, sie denkend herbei zu bitten, um sie dann - einigermaßen - ausformuliert darlegen zu können.

Lieben Gruß
Scal
 

aliceg

Mitglied
Liebe/r Z,

Gratulation!
Da ist dir ja ein zauberhaftes Gemälde gelungen -
Poesie verwoben mit ganz konträren Andeutungen, vom virtuellen Netz über neurale Netzfunktionen,
von der ursächlichen Biologie des Insektenfangens bis hin zum Sci-Fi Einschub als Schlussakt!

lg aliceg
 
Vielen Dank für eure ausführlichen und aufschlussreichen Kommentare!

[...] zum anderen müssen 'Schönheit' und das 'Surreale' nicht unvereinbar sein. [...] Vielleicht ist meine Irritation ja Teil der beabsichtigten Wirkung
Das ist eine Einschätzung, die meinem Impetus durchaus nahe kommt.

Diese, meine Gedanken, werden im Netz versiegen.
Aber ich habe mich frei dazu entschieden, sie denkend herbei zu bitten, um sie dann - einigermaßen - ausformuliert darlegen zu können.
Deine Antwort stemmt sich vehement gegen alle Absorption, der dich dieser Text aussetzt. Eine wirklich schöne Einordnung, die du wiederum in einem beeindruckenden Bild gefasst hast.

Poesie verwoben mit ganz konträren Andeutungen, vom virtuellen Netz über neurale Netzfunktionen,
von der ursächlichen Biologie des Insektenfangens bis hin zum Sci-Fi Einschub als Schlussakt!
Ich freue mich, dass diese unterschiedlichen Anspielungen Anklang gefunden haben!

Beste Grüße,
zurückhaltbar
 



 
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