Das neue Volk

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das neue Volk
Über dem Saal prangte das Motto:

„Das Volk hat
das Vertrauen der Regierung verscherzt.
Wäre es da nicht doch einfacher,
die Regierung löste das Volk auf
und wählte ein anderes?“
— Quelle: Gedicht Die Lösung,
in: Buckower Elegien, 1953.​

Berlin Wandsdorf, Jahr 2045. In der Regierungsanlage der Demokratischen Republik Zukunftsland spiegelt sich das Neonlicht der Bildschirme in den glatten, minimalistischen Möbeln des Beschlussraums. Ein großer, runder Tisch steht im Zentrum, an ihm versammeln sich die höchsten Beamten der Republik.

Der Generalvorsitzende klopft mit der Faust auf den Tisch und lässt seinen Blick über das Motto gleiten. Er sagt bedeutsam: „Das Volk hat erneut unser Vertrauen verspielt. Die Lage ist eindeutig.“

Der Außenminister tippt vorsichtig auf sein Tablet. „Sollen wir nicht zuerst … die Gründe analysieren? Eine Befragung, vielleicht?“

„Warum analysieren?“ spöttelt der Generalvorsitzende. „Wir wissen alles. Das Volk ist unzuverlässig. Ein logistisches Problem.“

Der Militärberater murmelt leise: „Gezielte Aufrüstung, vorsichtige Überwachung – Kontrolle effizient erhöhen.“

Der Vorsitzende nickt strategisch. „Ja. Aber wir brauchen mehr: ein neues Volk. Ein Volk, das uns versteht, das applaudiert. Das mit uns mitdenkt. Unser Volk!“

„Auswählen … oder eher motivieren?“ fragt der Außenminister zögernd.

Der Bürokrat schreibt mit, nickt mechanisch. „… eher motivieren?“

„Auswählen“, sagte der Generalvorsitzende kalt lächelnd. „Wer applaudiert, bleibt. Wer widerspricht, wird gewandelt. Optimiert. Effizient, sauber, unauffällig. Budrifiziert.“

Die digitalen Formulare des Bürokraten stapeln sich wie Türme aus Daten. „Wir könnten bereits Listen erstellen, Loyalität prüfen, Optimierung starten …“

Der Generalvorsitzende blickt zufrieden auf das Motto über dem Saal. „Sehen Sie die Zukunft: Ein Volk, das uns vertraut. Das nie enttäuscht wird. Wir sind das Volk!“

Der Außenminister runzelt die Stirn. „Und wenn sie sich wieder ändern?“

„Dann wählen wir erneut. Und erneut. Bis das einzige Volk perfekt ist.“

Die Bildschirme flackern und Zeichenströme laufen darüber, auf ihnen blitzt auf: „Optimierung der Bürger gestartet“. Akten und Tablets werden geordnet, Bürokraten notieren alles. Das Licht flackert. In den metallischen Schatten des Saals spiegelt sich die leise, unaufhaltsame Transformation eines Volkes, das bald eins sein würde mit dem einen Staat, mit dem einen Generalvorsitzenden.

Draußen, jenseits der glatten Mauern der Regierungsanlage, ahnt niemand, dass die Zukunft der Menschheit bereits lange in molekularen Protokollen geplant war.
 
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Tula

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Hallo Bernd
Keine Sorge, der Untergang ist so oder so nicht mehr aufzuhalten. Von wegen 'Ärmel hochkrempeln' oder noch schlimmer 'wir schaffen das'. Das ist doch was für Langweiler. Wir müssen unsere Demokratie kaputtmeckern (garantiert unterhaltsam), bis keiner mehr an überhaupt irgendetwas glaubt, es sei denn an einen ganz besonders starken Meckerer, der hier endlich mal aufräumt. So einen wie Don Don ...

LG Tula
 

Bernd

Foren-Redakteur
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Hallo, Tula, gute Idee. Ich denke über kaputtmeckern nach. Don Don ist ein guter Name.
Ich werde sehen, ob ich beim Wohltäter Analogien dazu finde.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Erste Idee: (als eventuelle zweite Geschichte.)
Die drei Meckerer diskutieren leidenschaftlich über die Missstände ihrer perfekten Republik. Don Don fordert lautstark, dass man die Prinzipien und Würde verteidigt, Delta Minus kommentiert sarkastisch und sieht nur Chaos, während Hans im Glück die Ereignisse optimistisch oder humorvoll deutet, aber immer über das gerade Erzielte meckert. Gemeinsam beschließen sie, ihre Kritik in einem Beschwerdebrief zu bündeln, – alles begleitet von Kaffee, Keksen, Mengen von Schlagsahne, Gedankenfreiheit und einer gehörigen Portion absurder Dadagie.
 

Tula

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Hallo Bernd
Gefiele mir so tatsächlich besser und gedanklich neu-wertiger, da der erste Entwurf zwar witzig ist, aber satirisch unspezifisch bleibt und ohne besondere Wirkung verpufft. Natürlich sind 'die da oben' alle doof und regieren am Volk vorbei. Ja ja ... Aber wer ist eigentlich 'das Volk'? Jene, die gerade am lautesten meckern? Ich weiß nicht, ich kann diesem Volksport immer weniger abgewinnen.

LG Tula
 

Sonja59

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Hallo Bernd,

ich habe den Text gern gelesen und so meine Vergleiche gezogen. Sprich, der Text hat auch genau dazu angeregt. Gefällt mir.
Dabei bin ich auf einen winzigen Tippfehler gestoßen.


„Auswählen,“ sagte der Generalvorsitzende kalt lächelnd.

Das Komma gehört nicht vor, sondern hinter das Ausführungszeichen.
 

Frodomir

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Hallo Bernd,

in meinen Augen ist das ein interessanter Text, der aber auch ein bisschen in die Fallen politischer Literatur zu tappen scheint. Aber schauen wir mal konkret:

Es beginnt mit einem Zitat von Bertolt Brecht, eigentlich kritisch-ironisch gemeint, hier aber erhoben zum ideologischen Leitspruch einer Diktatur, welche vom Text als Dystopie in nicht allzu ferner Zukunft erwartet wird.

Genauer gesagt im Jahr 2045, in dem die Geschichte auch spielt und im Präsens erzählt wird. Deshalb frage ich mich, ob das Präteritum prangte über dem Gedichtauszug nicht auch im Präsens stehen sollte. Oder ist hier nochmal eine spätere Zukunft gemeint, aus der dann zurückgeblickt wird?

Schaut man sich nun die Sprache des Textes, auch konkret des ersten Abschnittes an, dann erkennt man klare Bezüge zur DDR:

Berlin Wandsdorf, Jahr 2045. In der Regierungsanlage der Demokratischen Republik Zukunftsland spiegelt sich das Neonlicht der Bildschirme in den glatten, minimalistischen Möbeln des Beschlussraums. Ein großer, runder Tisch steht im Zentrum, an ihm versammeln sich die höchsten Beamten der Republik.

Der Generalvorsitzende klopft mit der Faust auf den Tisch und lässt seinen Blick über das Motto gleiten. Er sagt bedeutsam: „Das Volk hat erneut unser Vertrauen verspielt. Die Lage ist eindeutig.“


Das trägt den Duktus der Deutschen Demokratischen Republik und so trägt der Text die inhärente Kritik mit sich, dass in der Zukunft Parallelen zu dieser Herrschaftszeit wahrscheinlich werden. Bemerkenswert ist dabei, dass auch einer der Hauptslogans der friedlichen Revolution (Wir sind das Volk) hier im Stile Ludwig XIV. zum Zwecke der absoluten Machtergreifung umgedeutet wird.

Vermischt wird dies mit Aldous Huxleys Schöne Neue Welt, denn im Text wird die Austauschbarkeit des Volkes und dessen Optimierung als etwas Realistisches angenommen. Dies ist nur denkbar in einem Rahmen, wie in Huxley ersonnen hat und einem deiner Kommentare nach zu deuten, war dieser Bezug auch von dir beabsichtigt.

Getragen wird die Geschichte auch von der Aussage, dass diese in ihr skizzierten Verhältnisse kein Produkt demokratisch legitimierter Entwicklungen sind, sondern die Folge eines Plans zu sein scheinen. Da der Text diesen Plan in engem Zusammenhang mit der Digitalisierung erwähnt, scheint er dabei sowohl tatsächlicher, also menschengemachter Plan, zu sein als auch intrinsische Folge der Digitalisierung der Gesellschaft. Somit zeichnet der Text ein Skizzenbild einer technokratischen Diktatur und bedient sich dabei Anleihen aus vergangenen Diktaturen, sowohl aus reellen als auch aus literarischen.

Kommen wir nach dieser Interpretation zu meinem Versuch, diesen Text zu bewerten. Die Kommentare bisher haben bereits gezeigt, dass es verschiedene Reaktionen auf diese Dystopie gegeben hat. Allerdings erinnern diese mehr an die unserer Zeit leider typisch gewordene Youtube- und Twitterqualität, welche sich dadurch auszeichnet, auf die Analyse zu verzichten und mit verkürzten Argumentationen jeweilige Positionen zu verteidigen. Vollzogene gesellschaftliche Spaltung, abgebildet in der Kommunikation.

Und in diese Falle ist in meinen Augen auch dein Text etwas geraten. Es ist ein schmaler Grat, der die Grenze zwischen politischer Literatur und politischer Agitation bzw. antipolitischem Affekt bildet. Meiner Meinung nach übertritt dein Text diese Grenze zum Affekt in seiner Gesamtheit sichtbar. Versteh mich nicht miss: Das ist an sich nicht verwerflich und ein völlig legitimer Ausdruck der eigenen Meinung und eine Folge der eigenen Beobachtungen. Aber in der Konsequenz wird sich, wie auch hier geschehen, die Diskussion weniger um den Text als Literatur, sondern um dessen politische Botschaft drehen. Somit ist auch in diesem Text eine gewisse Lagerbildung bereits mit eingepreist, wenn auch sicherlich nicht absichtlich. Die meiner Meinung nach polemische und unangenehm oberflächliche Reaktion in den Kommentaren hat somit auch ein bisschen ihr Pendant im Text selbst, auch wenn zumindest ich für diese Dystopie deutlich mehr Verständnis aufbringen kann.

Ein Vorschlag, damit solche Texte weniger zur Spaltung denn zum wirklichen Nachdenken beitragen, wäre, von der reinen Symptombeschreibung wegzugehen, um dagegen die Herleitung des Ergebnisses stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Es ist ein bisschen wie mit den permanenten Hitler-Dokus im Fernsehen. Hat man sich das einige Tage gegeben und fehlt es vielleicht an Bildung und der Erfahrung von tieferem Nachdenken, kommt man über den Gedanken "Der ist der Böse in Personifikation!" nicht mehr auf die entscheidendere Frage: "Warum hat diese Entwicklung stattgefunden?"

Ich hoffe, du kannst mit meiner Textbesprechung etwas anfangen und verbleibe mit freundlichen Grüßen
Frodomir
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Frodomir, danke für die Antwort. Es ist ein Text, der in einer beliebigen Zeit spielt, aber ich habe ihn aus Vorsicht in die Zukunft verlegt und verfremdet. Warum diese Entwicklung stattfand und immer wieder stattfindet? Eine Seite fühlt sich immer benachteiligt oder will Vorteile erlangen. Eine Seite gibt nach, das wird von der anderen als Niederlage gesehen, und sie fühlt sich als Sieger und haut nochmal drauf. Damit alles passt, wird die Geschichte umgeschrieben, wie bei 1984. Aus den Aufzeichnungen werden Gegenargumente oder Freundschaftsangebote entfernt.
Es ist ein bisschen wie mit den permanenten Hitler-Dokus im Fernsehen. Hat man sich das einige Tage gegeben und fehlt es vielleicht an Bildung und der Erfahrung von tieferem Nachdenken, kommt man über den Gedanken "Der ist der Böse in Personifikation!" nicht mehr auf die entscheidendere Frage: "Warum hat diese Entwicklung stattgefunden?"
Genau.

Und deshalb habe ich es in die Zukunft gelegt.

Liebe Grüße aus Dresden,

und ich hoffe, die Leute in der Geschichte finden zu Kooperation zurück.
 



 
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