Das Opfer für Tameratsu

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Aneirin

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Das Opfer für Tameratsu

Sie kannte den Namen des Jungen nicht. Daran dachte Erinda, als sie die Tür zu seiner Kammer öffnete, um ihn für das Opfer zu holen. In den dreißig Tagen, seit die Oberpriesterin ihn aus dem Knabenhaus ge-holt und Erinda anvertraut hatte, hatte sie nie nach seinem Namen gefragt, und er hatte ihn von sich aus nicht genannt. Er hatte nur gierig das Essen hinuntergeschlungen, das sie ihm zweimal am Tag gebracht hatte.
Wie jedes Mal, wenn sie die Tür aufschloss, saß er auch diesmal mit angezogenen Beinen auf seiner Pritsche und schaute ihr entgegen.
»Komm«, sagte Erinda und streckte eine Hand nach ihm aus.
Gehorsam kam der Junge zu ihr, ließ sich die Hände fesseln und folgte ihr nach draußen. Das andere Ende des Strickes behielt Erinda in der Hand, aber der Junge machte weder einen Versuch wegzulaufen, noch weigerte er sich , mitzukommen. Er mochte acht oder neun Sommer zählen, aber er ging mit den gesetzten Schritten eines Erwachsenen ne-ben ihr.
Sie begegneten keinem Menschen, als sie den Tempel und die Stadt hinter sich ließen. Alle freien Frauen waren längst zum Opferplatz gegangen, um das Fest zu Ehren der Göttin Tameratsu zu feiern.
Die letzten Häuser der Stadt gaben den Blick frei auf eine weite staubige Ebene, aus der sich der heilige Berg der Göttin Tameratsu erhob. An dessen Fuß bei der Quelle des Lebens lag der Opferplatz, und wenn der Junge so folgsam bliebe, würden sie ihn rechtzeitig vor Sonnenuntergang erreichen.
»Wie heißt du?« fragte Erinda plötzlich in die schwüle Hitze des Nachmittags hinein. Es erschien ihr nicht mehr recht, dass der Junge sich Tameratsu opfern sollte, ohne dass auch nur eine freie Frau seinen Namen kannte.
Mit einem Ruck spannte sich der Strick. Erschrocken drehte Erinda sich um. Wollte der Knabe doch noch Schwierigkeiten machen? Er stand da und starrte sie mit offenem Mund an. Er rührte sich auch nicht als sie an dem Strick ruckte.
»Nun komm! Was ist mit dir?« Erinda zog stärker. Er stolperte und fiel auf die Knie. Er starrte sie weiter an. Wütend schlug ihm Erinda das Strickende quer über den Rücken. Das endlich brachte ihn dazu, aufzustehen.
»Wie heißt du? Kannst du nicht reden?« herrschte sie ihn an. Er stand nur mit gesenktem Kopf vor ihr.
Sie setzen ihren Weg fort. Erinda beobachtete ihn, wie er wieder gemessenen Schrittes neben ihr ging, als hätte sie ihn nie geschlagen und angeschrieen. Die Frage nach seinem Namen hat ihn bestimmt erschreckt, kam ihr in den Sinn, und der Schlag mit dem Strick war eine Sprache, die ihm aus den Knabenhäusern vertraut war.
Erinda war noch nie in einem Knabenhaus gewesen, aber sie wusste, dass die Jungen dort durch eine harte Schule gingen, um sich auf ein Leben mit schwerer Arbeit vorzubereiten. Waren sie nicht kräftig genug oder ungehorsam, wurden sie als nutzlos angesehen und in einem Schilfboot auf dem Meer ausgesetzt.
Ihr eigener Sohn lebte auch in einem Knabenhaus. Die Priesterinnen hatten ihn gleich nach der Geburt dorthin gebracht. Statt der Göttin eine Tochter zu schenken, hatte Erinda nur einen Sohn geboren. Er mochte jetzt etwa so alt sein wie dieser Knabe. Sein größtes Glück wäre es, wie dieser Junge als Opfer der Göttin Tameratsu erwählt zu wer-den. Er würde dann vor die Göttin treten und ihr das einzige schenken, das wirklich ihm gehörte: sein Leben.
Vielleicht war der Knabe sogar ihr Sohn? Forschend betrachtete Erinda den Jungen neben sich, suchte nach einer Ähnlichkeit mit sich selbst, die ihr Gewissheit verschaffen würde. Sie fand keine. Wenn er genug zu essen bekam, würde er kräftig und derb aussehen, nicht feingliedrig wie sie. Sein Haar lag glatt auf seinem Kopf, er hatte nicht ihre Lo-cken. Erinda hob sein Kinn an und blickte ihm ins Gesicht, aber auch dort entdeckte sie keine Ähnlichkeiten. Dennoch könnte er ihr Sohn und nach seinem Vater geraten sein, den sie nicht einmal bei der Zeugung richtig gesehen hatte. Die Männer lebten nicht bei den freien Frauen, sie waren wenig mehr als Tiere, nur gut für die Arbeit und die Zeugung. Keine Frau, die bei wachem Verstand war, sprach mehr als das Nötigste mit einem Mann und eine Priesterin Tameratsus schon gar nicht. Ein Mann wäre auch nicht in der Lage, die Gedanken einer Frau zu verstehen. Er konnte nur den einfachsten Gedankengängen folgen.
Dennoch wünschte Erinda sich, sie könnte mit dem Jungen ein Gespräch beginnen, ihn nach seinen Eltern fragen und nach seinem Leben im Knabenhaus. Sie schwieg jedoch, er würde auch einfache Fragen vor Angst nicht beantworten, und für eine Priesterin der Göttin Tameratsu gehörte es sich nicht, vertraulich mit dem Opfer zu sprechen. Dennoch lagen ihr Worte auf der Zunge, die sie ihrem Sohn gern gesagt hätte.

Die freien Frauen der Stadt war auf dem Opferplatz versammelt, um die Göttin Tameratsu um günstige Winde, ausreichend Regen und eine gute Ernte zu bitten. Die anderen Priesterinnen waren bereits den ganzen Tag dort, um die Lieder zu singen, mit denen die Göttin für das Opfer gnädig gestimmt werden sollte.
Ehrfurchtsvoll teilte sich die Menge der Frauen und ließ Erinda und den Knaben durch. Manchmal reckte sich eine Hand aus der Menge, um den Jungen zu berühren. Er tat, als bemerke er es nicht.
Erinda wartete geduldig auf das Ende des Rituals, dann führte sie den Jungen vor die erste Priesterin. Vor ihr auf der Erde lagen die Utensilien der Opferung, ein Beil und eine dünne Sehne. Erinda wollte sich in den Kreis der anderen Priesterinnen einreihen, aber ein Wink der Ober-priesterin ließ sie innehalten.
»Erinda, die Göttin hat dich ausersehen.«
Eine Welle des Ekels schwappte in Erinda hoch. Sie musste die Augen schließen und ihre Atemzüge zählen, um sich nicht auf dem Opferplatz zu übergeben. Sie hätte damit rechnen müssen. Im letzten Sonnenlauf vollzog auch die Priesterin die Opferung, die den Jungen hergebracht hatte. Noch gestern hätte sie das Kind opfern können. Heute aber hatte sie an ihren Sohn gedacht. Sie konnte nicht Hand an ein Kind legen und ihm den dreifachen Tod zu Ehren Tameratsus zu bringen, das ihr Sohn sein könnte. Mochte die Göttin zürnen und die Menschen leiden lassen.
Hastig wich Erinda vor dem Beil zurück, das die erste Priesterin ihr hinhielt. Sie kümmerte sich nicht um die ungläubigen Blicke der anderen Priesterinnen und um das unruhige Tuscheln aus der Menge. Sie sah nur den Knaben, dessen Blick zwischen dem Beil, der ersten Pries-terin und ihr hin und her huschte. Ein Blick so hart und kalt wie Glas traf sie. Die Göttin war mit der ersten Priesterin.
»Erinda.« Die Stimme fuhr ihr durch Mark und Bein, schlug sie in ihren Bann. Langsam streckte Erinda die Hand nach dem Beil aus. Es schien wie von selbst in ihre Hand zu springen, warm und glatt passte der Stiel genau in ihre Hand hinein. Der Junge stand vor ihr, schaute zu ihr auf. Er war ein Junge, aber doch ein Kind mit großen, dunklen Kinderaugen. Die Augen ihres Sohnes, ihres Sohnes, den sie nie gesehen hatte. Der Axtstiel brannte sich heiß in Erindas Handfläche. Hastig ließ sie ihn fallen und wich zwischen die anderen Priesterinnen zurück. Sie hörte nicht das unruhige Flüstern der Menge, sah nicht die Sorge auf den Gesichtern der Frauen.
»Tameratsu, sieh, wir verehren dich...«, begann die erste Priesterin den Opfergesang, hob das Beil auf und schlug mit der stumpfen Seite gegen die Beine des Jungen.
Mehr sah und hörte Erinda nicht mehr. Sie drehte sich weg und hielt sich die Ohren zu. Sie wusste, auf welche Weise der Junge den dreifachen Tod erlitt. Die erste Priesterin würde ihn abwechselnd schlagen, würgen und unter Wasser halten, bis er tot war und so Tameratsu in der Erde, im Wind und im Wasser ehrte.
Obwohl sie beide Hände fest auf ihre Ohren drückte, konnte sie die schrillen Schreie des Jungen, die Schläge mit dem Beil und das Aufklatschen seines Körpers im Wasser nicht ausschließen. Der metallische Geschmack von Blut füllte ihren Mund, und es war das Blut ihres Sohnes, das über sie kam. Nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es Erinda, sich zu erinnern, dass sie eine Priesterin der Göttin Tameratsu war und nicht davonlaufen durfte.
Die Schreie des Jungen wurden leiser, bis sie nur noch ein Wimmern waren. Aber auch das drang in ihre Ohren.
»Tameratsu, große Mutter, das Opfer ist dein. Nimm es an!«
Erinda hörte die erste Priesterin rufen und wusste, das Opfer war vollbracht, der Junge tot. Seine Gebeine würden in der quelle zurückbleiben, damit sich die Göttin an ihnen laben konnte.
Ein Donnerkrachen antwortete diesem Ruf der ersten Priesterin.
Gemeinsam mit Erinda schauten alle Frauen in den Himmel. Dunkle Wolken hatten sich am Horizont aufgetürmt. Eine Windböe fegte heran und blies die schwüle Hitze des Tages fort. Tameratsu war zornig. Die Frauen flüsterten besorgt, dass sie das Opfer nicht angenommen hätte und sich von ihnen abwenden würde. Sprachlos stand Erinda zwischen ihnen und fühlte die ersten schweren Regentropfen auf ihrem Gesicht.
Die erste Priesterin trat zu ihr, die Hände noch rot vom Blut des Jungen. »Das ist dein Werk«, zischte sie. »Wir brauchen ein neues Opfer in dreißig Tagen. Diesmal muss es eine Frau sein und du wirst deine Pflicht tun, oder ...«
Die anderen Priesterinnen begannen einen Gesang, um Tameratsu zu besänftigen. Die erste Priesterin zog Erinda mit ihren blutigen Händen in den Kreis.
Mechanisch begann Erinda, die vertrauten Worte zu singen.

© Aneirin, 2002
 

MelP

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Frauen...

Hallo Aneirin,

eine gut geschriebene Geschichte, wie ich finde - obwohl ich die Thematik echt krass finde. Meinst Du, Frauen könnten so sein? Na ich bin jedenfalls froh, dass die Emanzipation nicht so weit reicht;-)
Ich weiss nicht, ob ich das Ende richtig verstanden habe. Soll Erinda ein weibliches Opfer suchen und diesmal selber umbringen oder ist sie das nächste Opfer?
Für den Fall, dass sie das Opfer ist, bleibt sie ziemlich cool, oder? Und vielleicht wäre ein kleiner Hinweis auf die Motivation der Opferungen nicht schlecht. Warum ist die Göttin so blutrünstig - oder waren die Menschen (Männer) so schlimm, dass sie gestraft werden müssen? Muss nicht unbedingt sein, aber ich bin bei sowas immer so neugierig:)
Freu mich auf deine nächste Geschichte, viele liebe Grüße
Mel
 

Aneirin

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Frauen ...

Hallo Mel,

vielen Dank für Deinen Kommentar.

Ich weiß nicht, ob Frauen so sein können. Männer können auf jeden Fall so sein und bisher habe ich noch keinen stichhaltigen Grund gefunden, dass Frauen anders sind. Und so ganz nebenbei, ich glaube, dass matriarchale Gesellschaften nicht das Paradies auf Erden waren oder sind.

Für den Schluss hatte ich mir vorgestellt, dass Erinda in vier Wochen als Opferpriesterin nochmal ran muss. Ich hatte eigentlch gehofft, das wäre deutlich geworden, allerdings sollte der Schluss auch etwas offen sein. Ich schaue es mir noch mal an.

Warum verlangt Tameratsu Menschenopfer? Warum verlangen Götter überhaupt Opfer. Ich glaube, das hat nichts mit spezialler Bösartigkeit zu tun. Dass Körperflüssigkeiten den Boden tränken als Fruchtbarkeitsritus ist nicht neu. Der dreifache Tod ist allerdings schon ungewöhnlich.

Die Anregung für diese Geschichte habe ich aus einem Buch "Der Tod des Druidenfürsten" von Anne Ross und einem Don sowieso. Da starb dieser Druidenfürst auch den dreifachen Opfertod.

Viele liebe Grüße
Aneirin
 

Aneirin

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hm

Hallo flammarion,

da hat mir wohl die automatische Silbentrennung einen Streich gespielt. Ich hatte gehofft, sie würde sich anpassen beim Reinkopieren des Textes. Computer sind eben doch nicht intelligent. Ich habe die Trennstriche beseitigt und auch das überflüssige "aber" entfernt.

Viele Dank für die Hinweise unf für Deinen Kommentar und auch liebe Grüße an Dich
Aneirin
 



 
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