Das Orakel der Drachen Kapitel 2

Phylthia

Mitglied
II

Er hatte fast zwanzig Kilometer hinter sich gebracht, wahllos irgendwelche Abzweigungen genommen, bis er schliesslich zu erschoepft zum Weitergehen war. Er war solche Strecken nicht gewohnt, seine Beine schmerzten und er wollte sich einfach nur noch irgendwo zusammenrollen und schlafen. Der schwarze Hund trottete bestaendig neben ihm her, und Talon war dankbar fuer seine Gesellschaft, auch wenn es keine besonders gespraechige Gesellschaft war.
Das bebaute Ackerland rund um Dognars Farm war zu einer grasigen, kaum genutzten Huegellandschaft geworden, nur durchbrochen von gelegentlichen Hecken und Gehoelzen, in denen Voegel nisteten. Einmal hatte Talon aus der Ferne eine kleine Ansammlung von Gauklerwagen gesehen, doch er hielt sich lieber von ihnen fern. Man sagte dem Fahrenden Volk nach, dass sie ihre Magie einsetzten, wann immer sie wollten, und sich nicht darum kuemmerten, was der Hohe Rat sagte. Talon wusste nicht viel ueber Magie oder deren Gebrauch, denn Dognar hatte Magie fuer schlecht und unheilvoll gehalten. Doch er hatte vom Hohen Rat in Cyruana, der Stadt der Magier, gehoert. Dort wurden die Gesetze fuer das ganze Koenigreich gemacht, und dort wurde die Magie kontrolliert. Es war nicht so, dass der Hohe Rat etwas verbot – er machte stets nur Vorschlaege. Seltsamerweise verschwanden die meisten, die gegen diese “Vorschlaege” verstiessen, fuer eine gewisse Zeit, manchmal sogar fuer immer. Davon allerdings wusste Talon nichts, was interessierten ihn auch die Belange der Zauberer?
Fuer ihn war zu diesem Zeitpunkt viel mehr von Bedeutung, wo er die Nacht verbringen sollte. Es war nicht so, dass er Angst vor der Dunkelheit gehabt haette, er haette diese Nacht nur ungern unter freiem Himmel verbracht. Der Herbst uebernahm die Herrschaft ueber die Welt, und die Naechte wurden bereits empfindlich kalt.
Die Sonne stand bereits glutrot am Himmel, bereit hinter den Huegeln zu versinken wie ein Flammenball, da erklomm der Junge einen besonders steilen Huegel. Als er auf dem Kamm stand, blickte er hinunter in ein Tal, dessen Haenge vollstaendig bewaldet waren. Der Wald erstreckte sich, so weit er sehen konnte, auch ueber die naechsten Huegel und reichten bis zum Horizont, wo in diesen Minuten die Sonne unterging.
“Tja, die Baeume werden uns wenigstens ein wenig Schutz bieten, nicht wahr?”, sagte Talon zu dem Hund, und dieser gab ein Brummen oder Grollen von sich. Es klang beinahe wie eine Antwort. Nachdenklich blickte Talon auf den Hund, dessen Kopf ueber seine Huefte reichte. Er schob saemtliche Gedanken zur Seite und machte sich an den Abstieg. Nach etwa zwanzig Metern trat er in den Schatten der Baeume. Das Daemmerlicht der beginnenden Nacht wurde zu vollkommener Schwaerze, bis seine Augen sich daran gewoehnt hatten. Und selbst dann konnte er nur ein paar Schritt weit in den Wald hinein sehen.
Es gab keinen direkten Pfad, doch da es sich um einen Laubwald handelte, gab es so gut wie kein Unterholz. Am Waldrand waren die Baeume noch nicht so gross, die Staemme noch nicht so dick, doch je weiter er in den Forst eindrang, desto aelter und beeindruckender wurden die Baeume. Doch es wurde auch mit jedem Schritt dunkler.
Nachdem er zum fuenfzehnten Mal ueber eine Wurzel gestolpert, in ein Loch getreten oder gegen tiefhaengende Aeste gelaufen war, gab er es auf.
Talon blieb stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Dieser Platz war so gut wie jeder andere, beschloss er. Hier wuerde er die Nacht verbringen. Mit einem Mal behagte ihm dieser Gedanke gar nicht mehr, der Schutz der Baeume erschien ihm bedrohlich. Denn sobald er beim Gehen keine Geraeusche mehr verursachte, hoerte er all die furchteinfloessenden Laute, die es in jedem Wald nachts gibt.
Der Wind raschelte in den Blaettern, irgendwo huschte ein Tier ueber das Laub am Boden, eine Vogel, vielleicht eine Eule, schrie ihre Jagdlust in die Schwaerze hinaus, Aeste rieben in den Baumkronen gegeneinander, die Baeume knarzten. Die Baeume verwandelten sich in Riesen, Aeste wurden zu Krallen, die sich in seine Richtung streckten. Der Junge schuettelte sich, doch die Angst blieb.
Talon kauerte sich am Boden nieder und kramte seine Decke hervor. Ploetzlich blies ihm ein unheimliches Wesen seinen heissen Atem in den Nacken. Mit einem Schrei kam er auf die Fuesse, wollte losrennen, hinaus aus diesem Wald voller Daemonen. Er verhedderte sich in seiner Decke, stolperte und ging zu Boden. Erst das vertraute Grummeln liess ihn all seine Sinne wiederfinden.
“Das war nicht lustig, Schwarzer!”, knurrte er, halb wuetend, halb erfreut. Es war natuerlich der Hund gewesen. “Wirklich, nicht lustig!”, wiederholte er, doch dann musste er lachen. Doch er hoerte schnell wieder auf, denn der Wald schien bei seinen Geraeuschen noch bedrohlicher zu werden, die Baeume schienen naeher zusammen zu ruecken. Er verfluchte sich selbst, denn er hatte natuerlich das wichtigste vergessen: Feuersteine. Das war mal wieder typisch fuer ihn.
So sass er nun in der naechtlichen Dunkelheit des Waldes, und kaute auf einem kalten Stueck Speck herum. Er war muede und die Kaelte kroch unter seine Decke, er fuehlte sich elend und verlassen. Beinahe bereute er seinen Entschluss, Dognar und seinen Hof verlassen zu haben. Die Sache mit dem Schneiderlehrling in der Stadt hatte doch gar nicht so uebel geklungen… aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er sich nicht mehr traute, zurueck zu gehen. Es war muessig, darueber nachzudenken. Trotzdem kam er sich sehr, sehr allein vor. Bis sich ein warmer Riese mit einer feuchten, kuehlen Schnauze zu ihm unter die Decke schob. Sofort wurde Talon warm und er fuehlte sich um einiges besser. Der Hund war eine viel bessere Gesellschaft als jeder auf Dognars Hof.
Langsam ueberkam ihn der Schlaf, denn er wusste, dass der Schwarze ihn beschuetzen wuerde.

Talon erwachte von leisen Stimmen und dem Knistern von Feuer, das in seine Traeume drang. Er blinzelte und warmes Licht drang durch seine Lider. Fuer einen Moment fragte er sich, wer um alles in der Welt sich die Muehe machte, den Kuechenvorraum zu heizen. Dann fiel ihm auf, dass keine Hunde neben, ueber und unter ihm lagen, und er fragte sich, wo er war. Die Geschehnisse des vergangenen Tages kamen ihm in den Sinn – der verschossene Pfeil, das belauschte Gespraech in der Waffenkammer, die Attacke des Hundes, seine Flucht, die Nacht im Wald.
An diesem Zeitpunkt wurde er etwas unsicher. Er war im Wald eingeschlafen, keine Frage, zusammengerollt, unter einer Decke mit dem Schwarzen. Es irritierte ihn ein wenig, dass er sich nun in einem geschlossenen, mit Holz getaefelten, warmen, erleuchteten Raum befand. Ein wenig. Nur ein ganz klein wenig. So wenig, dass er es kaum wagte, sich zu bewegen. Vorsichtig stuetzte er sich mit den Ellbogen auf, und ihm wurde bewusst, dass er in einem Bett lag. Es war nicht das erste Mal, dass er in einem Bett lag, natuerlich nicht. Er hatte schon ein oder zwei Mal in einem geschlafen, aber das hier war definitiv das Komfortabelste, was er je erlebt hatte. Die Matratze war nicht mit Stroh gefuellt, und die Decke war nicht aus kratziger Wolle. Fuer einen Moment fragte Talon sich, ob er nicht einfach hier liegen bleiben sollte, sich an diesem wunderschoenen Zufall erfreuen, bis ihn jemand entdeckte und ihn mit einem Tritt in den Allerwertesten nach draussen befoerderte. Denn das wuerde mit Sicherheit geschehen.
“Ah, Talon, du bist wach!” Die Stimme liess ihn zusammen schrecken. Er entschied sich in aller Windeseile aufzustehen. Um genau zu sein aufzuspringen. Nun, was so schoen begonnen hatte, endete damit, dass er mit dem Kopf zuerst auf den Fussboden knallte, denn er hatte die Breite des Bettes nicht ganz in seine Berechnungen einbezogen. Aus Richtung der Stimme kam ein unterdruecktes, glucksendes Lachen.
“Haha, sehr lustig”, murmelte Talon, waehrend er sich wie der letzte Narr vorkam. Sein Kopf schmerzte, und er hatte seinen Fuss etwas verdreht, doch er rappelte sich auf und blickte sich neugierig um.
Der erste Eindruck des Raumes hatte ihn nicht getaeuscht, die Waende waren aus Holz. Genauso wie die Decke, der Fussboden und saemtliche Moebelstuecke. Fast schien es ihm, als waere das Bett, aus dem er gerade gefallen war, regelrecht aus dem Boden gewachsen. Er schuettelte den Kopf, um diesen verrueckten Gedanken zu vertreiben, und drehte sich zu seinem Gastgeber herum.
Dann revidierte er alles, was er bis zu diesem Zeitpunkt gedacht hatte. So wie der Mann aussah, der im Schneidersitz auf dem Boden vor dem Kamin sass, wuerden seine Moebelstuecke mit ziemlicher Sicherheit aus dem Boden wachsen.
Der Fremde war ein Baum. Nun ja, vielleicht nicht direkt ein Baum, aber seine Haut war Rinde, sein Koerper wie ein knorriger, dunkelbrauner Ast. Auf seinem Kopf wuchsen Blaetter, und etwas wie ein Lendenschurz aus Blaettern bedeckte ihn. Sein Augen waren schwarz und huschten bestaendig hin und her. Etwas Guetiges lag in seinem Gesicht. Sprachlos starrte Talon auf das merkwuerdigste Lebewesen, das er je gesehen hatte. Es starrte zurueck, ohne ein Wort zu sagen, eine Augenbraue – oder vielmehr eine dunklere Rille im Holz ueber seinem Auge – hochgezogen.
Mehr als eine Minute sagte niemand etwas, dann fand Talon seine Sprache wieder: “Wer seid Ihr, was mache ich hier, wie bin ich hierher gekommen und warum bin ich hier?”
“Oh, Talon, du bist neugierig!”, lachte der Holzmann und klatschte vergnuegt in die Haende. Er erhob sich, und dem Jungen wurde bewusst, dass sein Gegenueber ihn um einiges ueberragte.
“Und woher kennt Ihr meinen Namen?”, fuegte er noch hinzu.
“Ich fange am Besten vorne an und gehe der Reihe nach. Mein Name ist… nun, mein wirklicher Name ist zu kompliziert fuer deine Zunge. Menschen pflegen mich Khey zu nennen. Nun gut, um ehrlich zu sein, ist es eine ganze Weile her, seit ich Menschen getroffen habe. Wie dem auch sei, du kannst mich Khey nennen. Und bevor du dich fragst, was ich bin – ich bin etwas wie der Hueter dieses Waldes, ein Waldschrat. Jedenfalls muetterlicherseits. Vaeterlicherseits bin ich… nun entweder ein Waldschrat mit ein wenig Trollblut oder ein Baumnymph mit viel Schrat und Troll in den Adern. Aber ich muss dich jetzt nicht mit meinen Familiengeschichten verwirren.”
Dem konnte Talon nur zustimmen. Waehrend Khey sprach, hatte er aus irgendeinem Schrank Brot und Kaese geholt, waehrend der Junge immer verblueffter wurde.
“Was du hier machst?”, fuhr Khey fort und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich zu ihm an den Tisch zu setzen und zu essen. “Tja, im Moment wuerde ich glatt sagen, dass du isst. Ich meine, ich kann mich irren…” Er grinste, doch Talon stand der Sinn nicht gerade nach Witzen, und der Halbschrat wurde wieder ernst. “Ich habe dich heute Nacht unweit von meinem lieblichen Heim”, er machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum einschloss, “gefunden, halb erfroren und in einem Buendel aus Hund und Kind. Ich mag es nicht, wenn Leute in meinem Wald erfrieren, darum habe ich dich hierher gebracht. Das ist der Grund, warum du hier bist. Und deinen Namen, Talon, weiss ich von ihm dort drueben!”
Bei diesen Worten deutete Khey vor den Kamin, wo der Schwarze seelenruhig schlief. Er hatte sich zu einer grossen, schwarzen Kugel zusammen gerollt und zuckte nur gelegentlich mit einer Pfote oder einem Ohr im Schlaf. “Ein grossartiger Hund! Er hat mir viel erzaehlt, waehrend du geschlafen hast.”
“Erzaehlt? Der Schwarze?”, entfuhr es Talon.
“Nun, sein eigentlicher Name ist Groll. Er hat mir von eurer Flucht erzaehlt, dass du Dognars Hof verlassen hast, weil er Dognar gebissen hat und vieles von dem, was vorher passiert ist.”
“Erzaehlt?”, fragte der Junge noch ein Mal, nur um sicher zu gehen.
Khey nickte und schob sich mit einem zufriedenen Brummen die letzte Scheibe Brot in den Mund.
Schweigen folgte darauf, denn Talon wusste nicht, was er noch weiter sagen sollte, und Khey musterte ihn eindringlich. So lange und so intensiv, dass Talon am Schluss aufsprang und hastig seine Sachen zusammensuchte, die neben dem Bett lagen.
“Danke fuer Eure Gastfreundschaft”, murmelte er und fuehlte sich ziemlich schlecht, denn er wusste, dass er sich aeusserst unhoeflich verhielt. Aber was haette er auch sonst noch machen sollen?
Er drehte sich herum und klatschte in die Haende. Der Hund am Kamin hob den Kopf und blinzelte verschlafen, dann gaehnte er und legte dabei sein beeindruckenes Gebiss frei. “Schwar… Groll! Lass uns gehen!”, sagte Talon. Groll stellte ein Ohr auf und liess seinen Kopf dann mit einem Seufzer wieder auf seine Pfoten sinken.
“Ah, ich fuerchte, dein Gefaehrte wuerde nur ungern so frueh weiterziehen. Warum so eilig, Talon? Du hast von mir nichts zu befuerchten, und musst du dich beeilen? Niemand weiss, dass du hier bist, niemand wuerde hier suchen. Ganz davon abgesehen, selbst wenn sie es versuchen wuerden – ich bin der Hueter dieses Waldes. Glaubst du, ich wuerde es zulassen, dass einem meiner Gaeste Unrecht geschieht?”
“Ich… ich weiss nicht…”, stotterte Talon unsicher. Er war noch immer misstrauisch, denn er hatte in seinem ganzen Leben (jedenfalls so weit er sich erinnern konnte) noch nie eine freundliche Geste erlebt, ohne nicht zumindest dafuer zahlen zu muessen.
“Zier dich nicht, Junge! Mein Heim ist weitaus gemuetlicher als der kalte Wald, und ausserdem kannst du so deine Vorraete schonen!”
Talon war eigentlich schon ueberzeugt, wenn er nur an die erste Nacht im Wald dachte. Er war und blieb halt ein Feigling. Trotzdem unternahm er noch einen halbherzigen Versuch: “Aber ich will euch nicht ausnutzen, Meister Khey…”
Sein Satz wurde vom schallenden Gelaechter des Schrates unterbrochen. Er schlug mit hoelzernen Haenden auf seine Schenkel, und das Geraeusch von Holz auf Holz liess Talon zusammen zucken. “Ein paar Tage wenigstens!”, beschloss Khey.


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Na, was haelt meine werte Leserschaft von diesem Aus/Entwurf? *g* Ehrlichkeit ist gefragt!
Und das ist keine Privatdiskussion zwischen Arathas und mir - schreibt mir, was ihr gut und was ihr schlecht findet. Wenn ihr einen logischen Fehler findet, immer her damit! Also, ich freue mich ueber jedwede Kritik!
Gruesse aus "ueber-dem-grossem-Teich",
Phyl
 



 
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