Das Piratengirl (Teil 1)

marcm200

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Das Piratengirl - Charlottes Blick (Tempus) 1
(eine nichtkanonische Variation meiner Mystery-Reihe "Charlottes Blick")


Klappentext:
Die 19-jährige Charlotte von Gent arbeitet als Dienstmagd im Haushalt von Lord und Lady Spencer. Es ist eine gute Arbeit, und Charlotte legt viel ihres Lohns zur Seite, um sich in ein paar Jahren ihren Traum zu erfüllen: Sie möchte die kleine Taverne im Dorf übernehmen. Aber als sie eines Tages im Sommer des Jahres 1640 eine seltsame Anweisung des Lords erhält und im Landsitz ein verabscheuungswürdiges Verbrechen geschieht, muss sie unter Zwang alles zurücklassen und ihre Heimat verlassen. Doch die mächtige, wie Hexerei anmutende Gabe, die seit Jahren in ihr wohnt, kann ihr niemand nehmen.




0.
Das Findelkind
4. November 1621, Gent, Herzogtum Flandern


Tiefste Schwärze, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hatte, prägte die kalte Nacht in der Hauptstadt des Herzogtums. Kalter, stechender Regen peitschte gegen die Gestalt in dem weiten, dunklen Mantel, die gebückt durch Gents Gassen schlich, bis sie schließlich an der Kirche ankam und mit dem kleinen zugedeckten Korb in der Hand die flache Treppe bis zum Portal hinaufstieg. Die Gestalt blickte sich immer wieder um. Erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr niemand folgte, betrat sie das Innere. Sie stellte den Korb auf dem Boden neben der Tür ab und öffnete den geflochtenen Deckel. Mit einem Finger stupste sie das dick eingepackte und gegen die Kälte geschützte Baby an, bis dies vor Freude lachte und mit Armen und Beinen strampelte. Die dunkle Gestalt zog sich sofort danach zurück und verließ das Gotteshaus wieder. Niemand hatte ihr Gesicht gesehen.

Das Baby lachte noch eine Weile, verlor dann aber das Interesse und begann zu schreien. Das durchdringende, hohe Stimmchen des erst wenige Tage alten Mädchens hallte von den Wänden der Kirche wieder.

Doch niemand hörte es. Schließlich schlief das Baby erschöpft ein.

Erst zwei Stunden später kam der Pfarrer, um die Morgenmesse vorzubereiten, und fand das Findelkind. Er hob den Korb auf und brachte ihn in die Sakristei, in der wie häufig ein Ehepaar ihm zur Hand ging.

Die Gesichter der Eheleute hellten sich sofort auf, als sie das kleine Baby sahen. Der Pfarrer gab ihnen den Korb und sagte: „Seid ihm gute Eltern, und der Herr wird es euch danken.“

Die Frau nickte überglücklich und nahm das Baby auf den Arm. Keinen Blick ließ sie von ihm. „Wir werden es dem heutigen Tage zu Ehren Charlotte nennen“, sagte sie lächelnd zu ihrem Mann. „Charlotte von Gent.“




1.
Die Dienstmagd
Juni 1640, Falmouth, Grafschaft Cornwall, England



Vergnügt kraulte Charlotte dem gutmütigen Hund den Nacken und wich immer wieder lachend seiner nassen Zunge aus. „Nein, Rover, wir können jetzt nicht zusammen spielen. Ich muss die Gedecke für die Herrschaften herrichten. Dein Frauchen hat Hunger. Das verstehst du doch, nicht wahr?“ Sie kicherte leise und öffnete das breite Portal des Landsitzes der Spencers auf der Halbinsel Cornwall im Südwesten Englands. Lauer Abendwind wehte herein. Charlotte gab dem alten Hund einen freundschaftlichen Schubs. Etwas widerwillig trollte er sich alleine in die Gartenanlage hinaus. Die Nase tief am Boden trottete er langsam davon.

„Charlotte!“, hörte sie die hochnäsige Stimme des Butlers in ihrem Rücken. „Du solltest den Hund nur hinauslassen und dich nicht episch von ihm verabschieden. Marsch, in die Küche!“ George stand am Fuße der breiten, mit einem roten Läufer ausgelegten Steintreppe, die im Viertelkreis in den oberen Stock führte. Sein Blick und eine leicht hochgezogene Augenbraue drückten Verärgerung aus.

Charlotte federte aus der Hocke empor, schloss rasch das Portal und drehte sich um. Sie bemühte sich um ein ernstes Gesicht. Auch wenn George in seiner Funktion als Butler der Vorstand der Dienerschaft war und ihr, Charlotte, übergeordnet, fand sie sein steifes Gehabe affig. Aber das zeigte sie nicht, denn die Arbeit als Dienstmagd bei den Spencers war keine schlechte Stellung. Es gab weit Schlimmeres, was eine elternlose 19‑jährige vielleicht tun musste, um ihr Auskommen zu sichern. Und so schluckte sie die Erwiderung, die ihr schon auf der Zunge lag, wie die vielen Male zuvor herunter. Diese hätte ihr zwar einen winzigen Moment der Befriedigung verschafft, danach aber nur Ärger bedeutet.

„Sofort, Butler“, beeilte sich Charlotte zu versichern. Mit voller Absicht wählte sie die formelle Anrede und nicht das zwar auch respektvolle ‚Sir‘, das ihr aber so häufig am Tag über die Lippen kam, dass es fast keine wirkliche Bedeutung mehr hatte.

Charlotte raffte ihr langes, dunkelgraues Faltenkleid ein wenig nach oben und lief mit großen Schritten in Richtung Küche. Als sie den heißen Raum betrat, nahm sie sofort den appetitlichen Duft wahr. Zwei Köche waren gerade dabei, die letzten Handgriffe an den Rehbraten zu legen. Es klapperte laut, der Kessel blubberte, und es herrschte allgemein Hektik.

„Decke auf, rasch!“, befahl der Hauptkoch. „Seine Lordschaft hat das Dinner vorverlegt.“

„Gewiss“, erwiderte Charlotte. Sie rannte den Gang hinunter zum Dinnersaal, zog die große weiße Tischdecke mit den Goldrändern aus der Schublade des antiken Schranks, der noch aus der Zeit Henry IV stammte, schüttelte sie aus und breitete sie mit einem einzigen, gekonnten Wurf über den langen Mahagonitisch aus. Mit effizienten Handgriffen folgten Teller, Besteck und Gläser. Charlotte stellte zwei Kerzenleuchter auf und zündete sie an. Feuerstahl, Zunder und Holzstab legte sie danach wieder zurück in die Keramikschale. Dann nahm sie zwei große Schüsseln und lief zurück in die Küche.

Nach und nach wurden Braten, Suppe und Brot aufgetragen.

Als Charlotte das fünfte Mal auf dem Weg zurück in die Küche war, um die Wasser- und Weinkaraffen als Letztes zu holen, kamen ihr die Herrschaften entgegen. Gäste waren an diesem Tag keine eingeladen, ein Umstand, der nur selten eintrat. Auf breiter Front, den Gang vollständig ausfüllend, schritten Lord und Lady Spencer sowie Lady Isabella, die Tochter, und deren Verlobter, Sir Edward von Langley, Charlotte entgegen. Für Charlotte war kein Platz mehr, um an den Adligen vorbeizuhuschen. So machte sie sofort kehrt und wartete im Dinnersaal neben der Tür, bis sich die Herrschaften gesetzt hatten. Sie begrüßte jeden mit einem ehrerbietigen Kopfnicken und einem Knicks, wurde aber zumeist ignoriert.

Nur Lady Isabella sprach sie an. „Charlotte, wo ist Rover?“ Sie fragte es wie beiläufig, während sie ihren Verlobten anlächelte, der ihr galant den Stuhl von der Tafel zurechtrückte.

„Er spielt im Garten, Lady Isabella. Ich werde ihn nachher säubern und Euch dann in Euer Schlafgemach bringen.“

Isabella erwiderte nichts. Charlotte wartete noch einen Moment auf weitere Fragen oder Anweisungen, zog sich dann aber, als keine kamen, wortlos zurück.

Irgendwie ist Isabella seltsam, dachte sie auf dem Weg in die Küche.

Während Lord und Lady Spencer Charlotte als Dienstmagd behandelten, ihr Aufträge gaben, ansonsten aber ihre Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis nahmen, behandelte Lady Isabella sie anders. Seit Charlotte vor drei Jahren in den Haushalt gekommen war, hatte sich die zwei Jahre ältere Isabella ihr gegenüber öfter so verhalten, wie man es sich unter Freundinnen gleichen Ranges vorstellte. Sie hatten zusammen Tee getrunken, waren ausgeritten, und einmal hatte Isabella sie sogar zu einem Ball mitgenommen. Das war herrlich gewesen, und Charlotte dachte heute noch gerne an dieses aufregende gesellschaftliche Ereignis zurück. Sie war sich vorgekommen wie eine richtige Lady.

Dennoch hatte Charlotte immer das Gefühl, dass keine dieser Freundlichkeiten wirklich von Herzen kam. Sie wusste, dass Isabella eifersüchtig auf sie, Charlotte, gewesen war und das womöglich auch heute noch war, obwohl der Grund ein völlig unwichtiger war. Isabella hatte immer wieder, aber vergeblich, mit allen möglichen Tinkturen und Kräutermischungen versucht, ihren eigenen Haaren den leichten Blauschimmer zu geben, der Charlottes langen schwarzen und leicht gelockten Haaren von Natur aus zu eigen war.

Isabella und sie waren nun einmal von unterschiedlichem Rang, da waren echte Freundschaften sehr selten. Und es war auch nicht weiter von Bedeutung, denn Charlotte wollte nicht für immer bei den Spencers arbeiten. Ihr Traum war ein anderer, und sie sparte, was sie von ihrem Lohn zurücklegen konnte. Und das war nicht wenig, denn die Spencers entlohnten ihre Dienerschaft neben freier Kost und Logis, zusätzlich noch mit einem Geldbetrag, was die Stellung in diesem Haushalt noch wertvoller machte. Charlotte hoffte, in zwei Jahren genügend Geld gespart zu haben, um die kleine Taverne im Dorf zu übernehmen. Der Wirt, der alte Richard, ein guter Freund ihrer Eltern, würde sich lieber heute als morgen aus dem Tagesgeschäft zurückziehen, hatte er mehr als einmal gesagt.

Dann bin ich Chefin und kann andere herumkommandieren, freute sich Charlotte. Der Gedanke gefiel ihr immer besser, je älter sie wurde. Leise pfiff sie ein schönes, eingängiges Lied vor sich hin, das einmal bei einer Abendveranstaltung der Spencers gespielt worden war.

In der Küche angekommen nahm sie zwei Karaffen und brachte sie in den Dinnersaal. Charlotte hielt sich unauffällig im Hintergrund, schenkte nach, wenn es erforderlich wurde, holte neue Speisen aus der Küche und sorgte dafür, dass von allem immer reichlich vorhanden war.

Weiter wurde sie von niemandem beachtet. Aber das war ihr ganz recht, denn so konnte sie den Gesprächen lauschen.

„Kind, wir haben deine Hochzeit für den kommenden Herbst festgelegt“, sagte Lord Albert Spencer und hielt sein Glas hoch. Charlotte schenkte sofort Wein nach.

Isabella lächelte. Es sah ein wenig gezwungen aus. „Wie du wünschst, Vater.“

„Ein vortrefflicher Termin“, warf Edward ein.

Charlottes Gesicht zeigte keine Regung, aber sie hätte am Liebsten laut losgeprustet.

So ein Speichellecker, dachte sie verächtlich. Edward hat keine eigene Meinung. Wahrscheinlich hat Lord Spencer ihn aus genau diesem Grunde als Gemahl für seine einzige Tochter ausgewählt.

Danach drehte sich das Gespräch um die zunehmenden Spannungen zwischen König Charles I und dem Parlament. Lord und Lady Spencer waren überzeugte Royalisten, Lady Isabella aus Prinzip der gegenteiligen Ansicht, wenn sie diese auch so vorsichtig formulierte, dass diese keine Kritik am König darstellte. Und Edward sprach jedem nach dem Munde.

Dann kam die Rede auf die Gefahren der Seefahrt. Piraterie vor den Küsten Englands war an der Tagesordnung, oft von staatlicher Seite aus mit Kaperbriefen gefördert. Franzosen griffen englische Schiffe an und umgekehrt. Und dazwischen die Freibeuter, die auf eigene Rechnung arbeiteten und alles überfielen, was Gewinn versprach.

Butler George erschien plötzlich wie ein Geist in der Tür. Charlotte erschrak, so leise war der Mann nähergekommen, und so aufmerksam hatte sie den Gesprächen gelauscht. Eine dezente Handbewegung, und Charlotte verstand sofort. Nach einem Knicks lief sie hinaus in den Gang.

„Ein Bote ist eingetroffen“, erklärte George mit gesenkter Stimme. „Kümmere dich um das Pferd.“ Er drehte sich um und ging zu Lord Spencer. In respektvollem Abstand blieb er stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und wartete, bis der Lord ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.

Charlotte hörte noch „Eine dringende Botschaft für Eure Lordschaft“, dann war sie zu weit vom Dinnersaal entfernt. Sie lief zum Portal, trat hinaus, und sprang die Stufen der Eingangstreppe hinunter. Ein erschöpft wirkender Edelmann band gerade sein Pferd am Balken neben der Tränke fest.

„Ich kümmere mich um Euer Pferd“, sagte Charlotte und nahm dem jungen Mann die Zügel aus der Hand. Sie lächelte ihn freundlich an, denn der Bote gefiel ihr. Er war einen Kopf größer als sie, blond und trug teure Kleidung, unter denen seine Muskeln zu erkennen waren. Er tätschelte sein Pferd und lächelte zurück.

„Ich vermute, Ihr seid Lady Isabella, die Tochter von Lord Spencer. Eure Schönheit wird weithin gerühmt“, sagte der Bote und nahm ihre Hand. Er beugte den Kopf herunter und hauchte einen Kuss darauf. „Gestatten, Martin von Luxley, Mylady.“

Charlotte wurde rot und kicherte verlegen. Sie sah dem breiten Grinsen des Boten an, dass er genau wusste, dass sie nicht die adlige Tochter war. Aber das Kompliment, so glaubte Charlotte, hatte ihr gegolten und war ernst gemeint.

„Nein, ich bedauere, Sir Martin. Ich bin Charlotte von Gent, die Dienstmagd.“

Martin hielt immer noch ihre Hand, und Charlotte machte keine Anstalten, sie ihm zu entziehen.

„Ihr seht mich untröstlich, Mylady, dass ich Euch verwechselt habe. Verzeiht mir, einem unwissenden Boten.“ Sein Lächeln verlor den spitzbübischen Anstrich und war nun einfach warm und freundlich. „Was verschlägt eine so bezaubernde Dame in die Nähe von Falmouth?“

„Meine Eltern stammen von hier und sind kurz nach meiner Geburt aus Flandern wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.“ Nun zog sie ihre Hand zurück und machte das Pferd los. „Ich muss mich um Euren Rappen kümmern, er sieht ganz erschöpft aus.“

„Das sind wir beide. Der Ritt war anstrengend.“

„Die Küche ist nicht zu verfehlen. Einfach den rennenden Dienstboten nach, wenn sie keine vollen Schüsseln tragen“, setzte Charlotte lachend hinzu und entfernte sich in Richtung der Stallungen.

„Sehe ich Euch wieder?“, fragte Martin, bevor er die Treppe hinaufging.

Charlotte grinste breit. „Ich arbeite hier. Ein Treffen wird sich nicht vermeiden lassen.“ Sie schob einen kecken Augenaufschlag hinterher, drehte sich um und verschwand im Stall. Den Stallknecht schickte sie mit Verweis auf Georges Befehl weg und hielt am breiten Wassertrog an. „Hier, mein Guter“, sagte sie leise und klopfte dem Pferd auf den Hals. Es wieherte laut und begann zu trinken. Charlotte wischte mit der Hand grobe Schmutzreste aus dem Fell und rieb es danach mit Stroh ab. Beruhigend sprach sie auf das Pferd ein, das den Kopf leicht zur Seite legte und den Eindruck vermittelte, sie genau zu verstehen. Charlotte gab ihm ein wenig Hafer zu fressen und striegelte es schließlich, bis das Fell glänzte.

Nach zwanzig Minuten war das Tier versorgt. Charlotte ließ es im Stall und ging zurück ins Haupthaus. Sofort fiel ihr die Hektik auf.

„Was ist los?“, fragte sie Mary, die älteste Magd, die schon viele Jahre in den Diensten der Spencers stand.

„Reisevorbereitungen der Herrschaften“, erwiderte diese und hastete weiter.

Da hörte Charlotte die Stimme des Butlers. Sie eilte in den Nebenraum, um zu fragen, was sie tun sollte. Doch bereits als George sie im Türrahmen erblickte, befahl er: „Lord Spencer erwartet dich in seinem Arbeitszimmer. Sofort!“

Charlotte nickte und lief los. Ihre Gedanken überschlugen sich, und Unwohlsein begann, sich in ihr auszubreiten.

Was will der Lord von mir?, fragte sie sich ununterbrochen.

In all den Jahren war sie nur zweimal zu einer persönlichen Unterredung zitiert worden. Einmal hatte der Lord ihr den Tod ihrer Eltern mitgeteilt, die einem Rebellenüberfall auf das Dorf zum Opfer gefallen waren. Das andere Mal hatte er sie gemaßregelt, da sie einen Gast nicht respektvoll genug behandelt haben sollte. Unwillkürlich griff sich Charlotte an die Wange. Sie glaubte, die Ohrfeigen und das Brennen der Haut erneut spüren zu können. Doch härter als die körperliche Züchtigung hatten sie damals die zwei Monate ohne Lohn getroffen, welche die Verwirklichung ihres Traumes verzögerten.

Charlotte überlegte fieberhaft, aber ihr fiel nichts ein, das Lord Spencer aus seiner Sicht bemängeln könnte.

Mit einem mulmigen Gefühl klopfte sie an die Tür des Arbeitszimmers im Südflügel.

„Herein!“, ertönte es von der anderen Seite. Der Stimme des Lords war Anspannung anzuhören.

Charlottes Herzschlag beschleunigte sich. Ein wenig zögerlich, als könnte sie das Unvermeidliche auf diese Weise aufhalten, öffnete sie die schwere Holztür mit den blankgeputzten Messingbeschlägen, und blieb nach nur einem Schritt bereits direkt hinter der Schwelle stehen. Charlotte senkte den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Mylord, Ihr wünschtet mich zu sprechen.“ Mehr sagte sie nicht. Der kurze Blick in das Gesicht des Lords, der hinter seinem Schreibtisch saß, hatte ihr klar gemacht, dass es um etwas Ernstes ging.

Lord Spencers Miene war wie versteinert. Er sah hart und entschlossen aus. Dennoch sagte er mit ungewöhnlich ruhiger Stimme: „Lady Spencer, Isabella und ich müssen kurzfristig für eine Woche verreisen.“ Er lächelte bei diesen Worten.

Charlottes Verwirrung wuchs weiter. Der Lord hatte noch nie etwas erklärt, immer nur angeordnet, wie es sein Recht als Adliger der Dienerschaft gegenüber war.

Worum geht es hier?, fragte sich Charlotte.

„Wir können Rover nicht mitnehmen. Ich möchte, dass du dich während unserer Abwesenheit um den Hund kümmerst. Er mag dich.“ Lord Spencer holte tief Luft. Er schien auf eine Erwiderung zu warten.

„Natürlich, Mylord. Ganz wie Ihr wünscht.“

Der Lord stand auf und kam näher. Charlotte unterdrückte den Reflex zurückzuweichen, denn eine solche furchtsame Reaktion hätte Albert Spencer sicherlich verärgert. Der Lord hob ihr Kinn, bis sie ihn direkt anschauen musste.

„Rover ist alt und an seinen Tagesablauf gewöhnt. Das möchten wir nicht ändern. Ich wünsche daher, dass du in Lady Isabellas Zimmer übernachtest, sodass Rover in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann.“ Er rümpfte die Nase, als er an Charlottes einfachem Kleid herunterblickte. „Trage aber bitte Isabellas Nachtgewänder und Kleider. Es ziemt sich nicht, mit so bürgerlichen Stoffen in einem adligen Bett zu nächtigen.“

Der Lord öffnete die Tür. „Du bist ab sofort von deinen sonstigen Pflichten entbunden und kümmerst dich nur um den Hund. George weiß Bescheid. Das wäre alles.“

Charlotte knickste gehorsam und verließ das Arbeitszimmer. Hinter ihr wurde wortlos die Tür geschlossen.

Charlottes Verwirrung hatte sich auch durch Lord Spencers Erläuterungen nicht gelegt. Was sollte das Gerede von Rovers Alter? Es klang fast so, als stünde der Hund kurz vor seinem Ende. Ein paar Jahre, da war sich Charlotte sicher, hatte er noch. Und der Hund verbrachte ohnehin mehr Zeit mit ihr als mit seiner eigentlichen Herrin, Lady Isabella.

„Aber“, sagte Charlotte leise zu sich selbst und lächelte dabei, „eine Woche in einem weichen Bett mit weichen, edlen Kleidern. Das klingt wie ein Aufenthalt im Paradies!“

Beschwingt lief sie zum Eingangsportal und hinaus in die Gartenanlage. Sie folgte den angelegten Wegen zwischen den Rasenflächen und den Blumenbeeten und pfiff immer wieder auf den Fingern. Wiederholt rief sie laut: „Rover! Hierher!“

Endlich kam der Hund mit lautem Gebell angerannt. Wieder ließ er sich das Fell kraulen und schmiegte sich an Charlottes Beine.

Es war mittlerweile dunkel geworden. Charlotte schlug den Weg zurück zum Haus ein. Plötzlich kam ihr Martin auf seinem Pferd entgegen. Er hielt kurz an, stieg aber nicht ab.

„Ich komme wieder, Lady Charlotte, das verspreche ich Euch!“

Charlotte erwiderte das Lächeln. „Ich werde hier sein, Sir Martin. Doch rechnet nicht damit, dass ich sehnsüchtig auf Euer Erscheinen warten werde.“ Aber ein klein wenig würde sie sich schon freuen, wenn sie den gutaussehenden Mann wiedersah.

Martin von Luxley grüßte und ritt weiter.

Wenig später - Charlotte hatte das Haus noch nicht erreicht - kam eine große Vierspännerkutsche herangeprescht. Charlotte verließ den Weg und trat auf den Grünstreifen, um das Gefährt vorbeizulassen. Die Herrschaften gingen wirklich überraschend, ja fast schon überstürzt, auf Reisen.

Aber, dachte Charlotte, mir soll's recht sein. Ich werde die Zeit genießen.

Die Kutsche hielt nicht, sondern fuhr mit unvermindertem Tempo an ihr vorbei und durch das prachtvolle Tor mit dem Rundbogen, der auf zwei mit Bildhauerarbeiten reichlich verzierten Säulen ruhte. Wenig später war das Gespann hinter der Biegung verschwunden.

Charlotte lief in die Küche, um sich und Rover ein Abendessen zuzubereiten. Sie nahm ein paar Scheiben kalten Bratens, ein Stück Brot und einen kleinen Topf Honig. Rover lag zu ihren Füßen und wurde gefüttert, nachdem Charlotte ihm eine Schüssel Wasser hingestellt hatte. Nach zehn Minuten war sie fertig. Sie ging zum großen Bottich und wollte ihr benutztes Geschirr spülen, doch da fiel ihr ein, dass sie von allen sonstigen Aufgaben befreit war. Sie könnte das Geschirr einfach stehen lassen. Jemand würde sich darum kümmern müssen. Nach kurzer Überlegung entschied sie sich aber dagegen, so reizvoll der Gedanke auch war. Immerhin würde sie nur eine Woche keine normale Dienstmagd sein. Danach musste sie aber wieder mit George, Mary und den anderen auskommen. Es war besser, nicht zu sehr auf die aktuelle Sonderstellung zu pochen.

So spülte sie das Geschirr ab. Danach wusch sie ausgiebig Rovers Fell, um den Schmutz zu entfernen, den er sich im Garten zugezogen hatte. Vergnügt pfiff sie dabei das Lied, das ihr seit Tagen im Kopf herumging.

Dann lief sie hinauf zu Lady Isabellas Zimmerflucht. Charlotte war schon unzählige Male dort gewesen, aber fast immer nur kurz und um eine Aufgabe zu erledigen.

Nun aber hatte sie alle Zeit der Welt, und so besichtigte sie die vier Zimmer erst einmal in Ruhe.

Der kleine Salon war edel und stilvoll eingerichtet und enthielt einen wertvollen Holztisch, mehrere bequeme Sessel und sogar eine kleine Ecke mit tagesfrischen Blumen und zwei Karaffen mit Wasser und Wein. Das Badezimmer war ein luxuriöser Traum. Charlotte öffnete vorsichtig die unzähligen Parfümfläschchen und roch daran. Lavendel - dieser Duft gefiel ihr am besten. Sie traute sich aber nicht, einen Tropfen davon zu nehmen und sich an den Hals zu tupfen.

Dennoch kicherte sie albern. Sie kam sich wieder vor wie das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, und das an seinem Namenstag die tollen Geschenke bestaunte, die es manchmal bekommen hatte. Auch die vielen kleinen Tiegel mit Cremes dufteten herrlich, und selbst das Badesalz, das sie eigentlich nicht mochte, das sie aber für Isabella öfter vorbereiten musste, roch angenehmer als sonst.

Im Ankleidezimmer kam Charlotte aus dem Staunen nicht mehr heraus. Diese Farbenpracht! Vorsichtig, zurückhaltend und zuerst nur mit den Fingerkuppen, als könnte sie etwas zerstören, berührte sie eins der Ballkleider. Es fühlte sich so wunderbar zart an. Behutsam drückte Charlotte den Stoff an ihre Wange. Herrlich! Das Gefühl auf der Haut war nicht zu vergleichen mit dem rauen Stoff, den sie in diesem Moment am Leibe trug.

Und eins dieser Kleider durfte sie tragen!

Ein spitzbübisches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Zwei!“, sagte sie laut. „Man muss einer Lady zugestehen, dass sie ein Kleid nicht eine ganze Woche lang trägt.“

Aber konnte sie wirklich...?

Für einen Moment war Charlotte unsicher, wie Lord Spencer seine Anweisung exakt gemeint hatte. Sollte sie den ganzen Tag in einem von Isabellas Kleidern herumlaufen, damit Rover dachte, sie sei sein Frauchen?

Aber der Hund konnte sie doch problemlos am Geruch unterscheiden.

Ihre gute Laune erhielt einen Dämpfer. Charlotte dachte nach und beschloss, die Anordnung lieber sehr eng auszulegen und nur am Abend eins von Isabellas wunderschönen Kleidern zu tragen, nachts eins ihrer Unterhemden, aber tagsüber, wenn sie mit Rover unterwegs war, auf ihr eigenes, einfaches Kleid zurückzugreifen. Nicht, dass Lord Spencer wieder einen Grund fand, sie zu bestrafen, wenn er von seiner Reise zurückkehrte.

„Schade“, murmelte Charlotte enttäuscht.

Doch nun war Abend, und sie war zu aufgeregt, um schon zu Bett zu gehen. Wozu auch? Am kommenden Tag wartete nur wenig Arbeit auf sie, und so konnte sie durchaus jetzt noch eine Anprobe wagen.

Bedächtig schritt sie erneut die Reihe der Kleider ab und entschied sich schließlich für ein edles, aber nicht zu aufwändiges dunkelrotes Kleid, das Isabella gelegentlich zu den Dinnerveranstaltungen trug, wenn gute Freunde zu Gast waren. Charlotte hielt das Kleid vorsichtig vor ihren Körper und betrachtete sich im Spiegel. Es sah bezaubernd aus! Charlotte schlüpfte aus ihren Sachen und zog das elegante Kleid an. Locker fiel es bis zum Boden. An der Taille war es etwas enger geschnitten, die Ärmel waren lang, und es besaß sogar einen kleinen Ausschnitt.

Eine Halskette würde dazu perfekt passen, schwärmte Charlotte und versank für einen Moment in ihrer Vorstellung. Doch obwohl sie wusste, wo Isabella ihren Schmuck verwahrte, getraute sie sich nicht, eines dieser Stücke anzulegen.

Charlotte fuhr sich durch die langen Haare und strich sie nach hinten. Dann drehte sie sich ein wenig und betrachtete sich im Spiegel. Sie fand, dass sie wirklich wie eine Lady aussah.

Vergnügt lächelnd ging sie hinüber in den Salon und blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Wo die Herrschaften nun wohl waren? Charlotte war neugierig, was genau der Grund für diese ungeplante Reise war. George sollte es wissen. Morgen würde sie ihn vorsichtig danach fragen.

Charlotte war so in Gedanken versunken, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, wie ein kleiner Blutstropfen von ihrer Nase herunter auf den Boden klatschte, doch dann durchfuhr sie ein eisiger Schreck.

„Es geschieht wieder“, flüsterte sie mit leichter Furcht in der Stimme. Der Dämon bricht aus, wie Mutter immer zu mir sagte.

Im Laufe der Jahre hatte Charlotte gelernt, damit umzugehen. Der Dämon wollte befriedigt werden, und dazu gab es zwei Wege. Welchen sollte sie in ihrer aktuellen Lage wählen?

Mutter würde sagen, ertrage, was das Dunkle in dir fordert, aber füttere es nicht noch. Das macht den Dämon nur stärker und gieriger.

Zwar war nicht zu erwarten, dass bis zum folgenden Morgen jemand etwas von ihr wollte, und selbst Rover schien nur mehr wenig Energie zu besitzen, um noch wild herumtollen zu wollen, aber dennoch führte sie gerade einen Auftrag von Lord Spencer aus. Es war schlicht zu gefährlich, nun mehrere Stunden keiner Regung fähig auf dem Bett zu liegen. Diese Starre, in der sie alles hörte und sah, aber in sich selbst gefangen war und sich niemandem mitteilen konnte, war der Preis, den der Dämon forderte, wenn sie ihre Gabe längere Zeit nicht nutzte.

In ihrer Jugend hatte Charlotte fast nur diesen Weg gewählt, doch seit dem Tod der Eltern hatte sich ihre Einstellung geändert. Sie bekämpfte ihre Gabe nicht länger, sah sie nicht mehr als Makel, für den sie sich schämen musste, sondern nahm die Fähigkeit als einen Teil ihrer Selbst an.

Nun aber forderte die Gabe mit Macht und aus sich selbst heraus, dass sie angewendet wurde, oder Charlotte den Preis der Starre zahlen musste. Es war, als würde ein Fluss, der durch langandauernde Regenfälle aufgefüllt war, über die Ufer treten.

Wieder fiel ein Blutstropfen zu Boden.

Charlotte raffte das teure Kleid hoch und lief ins Ankleidezimmer. Aus der kleinen Tasche an ihrem eigenen Kleid, die sie selbst angenäht hatte, nahm sie ein dünnes, raues Stofftuch, und hielt es sich unter die Nase. Sie wollte schon die Gemächer von Lady Isabella verlassen, um in ihrer Kammer eine Zeichnung mit den Fingern auf einem Stück Stoff anzufertigen, die sie danach zerknüllen würde - so wie sie es sonst immer tat, wenn ihre Fähigkeit herausdrängte -, da bemerkte sie, wie ihre Schritte schleppender wurden. Es kostete sie viel Mühe und Konzentration, die Beine zu bewegen.

„Verdammt!“, fluchte sie laut. So schnell war die Lähmung bis jetzt nur ein einziges Mal über sie gekommen. Sonst hatte sie, selbst wenn sie sich irgendwo auf dem Gelände der Spencers hier oder in der Stadt befand, genügend Zeit, rasch in ihre Kammer zu laufen und eine Zeichnung mit Ruß anzufertigen.

Doch bei dieser hohen Geschwindigkeit, mit der die Starre nach ihr griff, würde sie in wenigen Minuten bereits vollständig handlungsunfähig sein. Und sie konnte nicht abschätzen, wann ihr das Laufen unmöglich wurde. Sie würde es nicht in ihre Kammer schaffen.

Wie sollte sie nun vorgehen?

Sie konnte eine der Cremes aus Isabellas Bad nehmen und auf ihrem eigenen Kleid zeichnen. Nur - was? Suchend huschte ihr Blick im Raum umher. Doch sie sah nichts, was sie nutzen konnte. Mit schlurfendem Schritt, als sie das rechte Bein nachzog, kämpfte sie sich hinüber in den Salon. Ihr eigenes Kleid zog sie mit sich. Die Hände konnte sie noch gut steuern.

Da sah sie die Rettung. Auf dem Schreibtisch stand ein kleines Tintenfass, und daneben lag ein Bogen des sündhaft teuren gestärkten Papiers, das sich nur die Reichsten im Lande leisten konnten.

Charlotte knüllte ihr eigenes Kleid zusammen und wollte es auf den Boden legen, doch sie kam nicht mehr in die Hocke. Die Knie waren fast steif geworden. Aber ihr Oberkörper funktionierte weiter einwandfrei, denn die Lähmung kroch immer von den Füßen hinauf. Ein wenig Zeit blieb ihr also noch. Charlotte schob das Kleid auf den Schreibtisch und legte die Ärmel in einem Kreuz übereinander. Dann begann sie zu zeichnen. Sie ignorierte die Steifheit ihrer Beine, die nun kaum mehr waren als starre Säulen, gerade noch befähigt, nicht durchzubrechen. An ein Sitzen war nicht mehr zu denken. Etwas ruckelnd schabte die Feder über das dicke Papier. Feine Striche, die zuerst etwas ungeordnet wirkten, verdichteten sich schnell zu einer exakten Darstellung der Form des Kleiderhügels. So zu zeichnen, in dieser Position und mit diesen Utensilien, war etwas völlig anderes als ihre überaus groben Fingerbilder, die sie sonst anfertigte.

Als Charlotte merkte, dass ihr Bauch härter wurde und sich ihr Oberkörper nun ebenfalls versteifte, sodass sie sich nicht mehr aufrichten konnte, setzte sie sofort ihre Initialen ‚CvG‘ an den unteren Rand.

Sie legte die Feder zur Seite...

...und knüllte das Papier zusammen.

Sofort wurde der Kleiderhügel zusammengedrückt. Doch der Stoff war weich genug, und sie hatte nur mit schwacher Kraft zugedrückt, sodass nichts zerissen oder sonstwie beschädigt wurde.

Ein Schwall dunkelrotes Blut schoss aus der Nase auf den Boden hinab, doch Charlotte wusste, dass es das letzte Aufbäumen ihrer Gabe war. Sie schob das Kleiderbündel auf den Boden und unterbrach damit die geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Bild und der Realität. Sie strich das Papier glatt und riss das kleine Stück, auf dem ihre Unterschrift stand, ab.

Erschöpft stützte sie ihre Arme auf die Kante des Schreibtischs und wartete. Sie spürte schon nach kurzer Zeit, wie das Leben in ihren Leib zurückkehrte, und wie die Lähmung nachließ. Eine Minute später hatte sie wieder die volle Kontrolle über ihren Körper.

Erleichtert atmete Charlotte auf. „Das war knapp.“ Automatisch wischte sie sich mit dem Ärmel den Schweiß und das Blut vom Gesicht, so wie sie es sonst auch immer tat. Aber als ihr einfiel, dass sie ein Kleid trug, das wohl mehr kostete, als sie in ihrem Leben als Dienstmagd je zur Seite legen konnte, durchfuhr sie ein Schreck. Sie blickte auf den Stoff und sah eine rote, zähflüssige Masse. Sie hatte das ganze Kleid besudelt!

„Pass besser auf, Charlotte“, schalt sie sich.

Sie lief ins Bad und nahm ein Tuch, um mit dem Waschwasser das Kleid zu reinigen. Mit viel Mühe und ein wenig der extravaganten, nach Oliven duftenden Substanz, die Isabella ‚Seife‘ nannte, konnte sie den Fleck schließlich entfernen. Charlotte tränkte den Lappen erneut in dieser komischen Reinigungsflüssigkeit, die sich ein wenig schmierig wie dünnes Öl anfühlte, und lief rasch in den Salon zurück. Auch die Blutflecken auf dem Boden konnte sie so entfernen.

Blieb die Frage, wie sie die Nutzung des Papiers erklären sollte, wenn Isabella zurückkam. Würde diese das Fehlen einer einzelnen Seite überhaupt bemerken? Immerhin lagen noch drei weitere auf dem kleinen Stapel. Charlotte wusste, dass Isabella nur sehr selten Briefe verfasste, es bestand also durchaus eine realistische Chance, dass das Fehlen nie auffallen würde. Doch Charlotte hatte zu viel Angst vor einer Entdeckung. Denn falls es doch herauskam und sie nichts gesagt hatte, war es Diebstahl. Und auf Diebstahl stand etwas viel Schlimmeres als ein paar Ohrfeigen.

Da kam ihr der rettende Einfall.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, glättete das Papier, so gut es ging, und schrieb: ‚Rotes Samtkleid, Mittwoch am Abend.‘ Darunter setzte sie die Zeile: ‚Rover gewaschen. Liegt zufrieden und müde im Schlafzimmer.‘

Sie würde eine Art Tagebuch führen, mit welchen Aktivitäten sie Rover beschäftigt hatte. Das wird dem Lord gefallen, war sich Charlotte sicher. Die seltsame Zeichnung neben den Zeilen, die man nur als Kleid erkennen konnte, wenn man wusste, was diese darstellen sollte - nun, das waren einfach ihre ersten Versuche, mit der Gänsefeder zurechtzukommen.

„Das klappt“, war Charlotte überzeugt. Zufrieden lehnte sie sich für einen Moment im Stuhl zurück. Nach dieser Aufregung begann sie nun doch, müde zu werden.

Aber eins gab es vorher noch zu tun. Sie verließ die Gemächer und lief die Treppe hinunter, an der Küche vorbei, den langen Gang entlang, bis sie ihre Kammer erreichte. Bett, eine kleine Truhe und ein Schemel, das war die gesamte Einrichtung.

„Was für ein Kontrast zu den vier Zimmern oben“, murmelte Charlotte. Es würde ihr bestimmt überaus schwerfallen, nach den kommenden sieben Tagen wieder in diese einfache Unterkunft zurückzukehren.

Aber in ein paar Jahren...

Charlotte schob das Fußende des Betts zur Seite und drückte auf den Rand einer Planke im Holzfußboden, welche sich normalerweise direkt unter dem Bettpfosten befand. Das Brett klappte wie eine Wippe hoch und legte einen kleinen Hohlraum frei. Charlotte griff hinein und zog den prallen Lederbeutel heraus, der fest verschnürt war.

Ihre Ersparnisse!

Sie konnte nicht ohne diese schlafen. Mit einem träumerischen Lächeln im Gesicht hängte sie sich die Schlaufe des Beutels um den Hals und schob diesen unter das Kleid. Dann richtete sie das Zimmer wieder her, verließ es und machte sich auf den Rückweg.

Irgendwo im Haus fiel scheppernd etwas zu Boden, doch am heutigen Tag ignorierte Charlotte das. Sollen sich Mary oder George darum kümmern, dachte sie zufrieden und stieg die Treppe hinauf. Unten im Erdgeschoss knarrte eine Tür, doch Charlotte achtete nicht weiter darauf.

Sie betrat Isabellas Gemächer und ging ins Schlafzimmer. „Runter da!“, lachte sie und verscheuchte Rover von der Bettdecke. „Du weißt, dass dein Frauchen Hundehaare im Bett nicht mag.“

Rover gähnte, trollte sich aber und watschelte zu seinem Teppich in der Ecke des Zimmers. Plötzlich aber knurrte er leise.

„Was hast du, mein Kleiner?“, fragte Charlotte. Rover blickte zu derjenigen der beiden Zimmertüren, die auf den Gang hinausführte. Wieder knurrte er. „Ach, das wird George sein, der irgendetwas im Haus richtet“, vermutete Charlotte und kraulte den Hund. „Du weißt doch, er denkt, er ist immer im Dienst. Ich glaube“, sie lachte, „er weiß gar nicht mehr, was er tun soll, wenn er keinen Auftrag Seiner Lordschaft auszuführen hat.“

Rover bellte einmal. Charlotte tätschelte ihm den Kopf, stand auf, drehte sich um...

...und da wurde die Tür mit Wucht aufgerissen. Bevor sie reagieren konnte, waren drei Männer ins Zimmer gestürzt. Alle trugen Kniehosen, Hemden und eine Mütze mit einem Symbol, das Charlotte nicht sofort erkannte. Vielleicht ein Diamant? Säbel hingen an den Gürteln der Männer. Doch das waren nicht die einzigen Waffen. Zwei trugen kurze, scharfe Entermesser in den Händen, der dritte eine Donnerbüchse. Die Trichteröffnung zielte auf Rover. Er sprang zu dem Hund, der leise fiepte, sich aber in seiner Ecke verkrochen hatte. Der Mann schlug dem Hund den Kolben der Waffe auf den Kopf. Mit einem Jaulen brach Rover zusammen.

„Was...“, rief Charlotte, doch sofort war einer der Männer bei ihr. Brutal griff er sie am Oberarm, und Charlotte entfuhr ein Schmerzenslaut.

Der Angreifer hielt ihr sein Messer direkt an die Kehle, als er zischte: „Keinen Laut, Mylady. Der Hund ist nur bewusstlos, Ihr aber werdet sterben, wenn Ihr Euch bemerkbar machen wollt. Habt Ihr verstanden?“

Mit schreckgeweiteten Augen und kreidebleichem Gesicht nickte Charlotte. Sie spürte die Kälte des Messers an ihrer Haut und begann zu zittern.

Was hatten diese Kerle mit ihr vor?

„Draußen alles ruhig?“, fragte der Mann, der Charlotte am Arm hielt. Vom Gang her ertönte ein leises „Ja“.

Da sind noch mehr, erkannte Charlotte. Wo bleibt George? Oder die anderen? Die müssen doch bemerkt haben, dass hier jemand eingedrungen ist.

„Kommt, Mylady. Ihr werdet uns begleiten“, sagte der Anführer der Gruppe. Seine Stimme klang schneidend, und in seinen Augen blitzten Entschlossenheit und Gewaltbereitschaft auf.

Charlotte nickte wieder, gab aber keinen Laut von sich. Dieser Kerl würde seine Drohung wahrmachen und sie kaltblütig erdolchen, wenn sie um Hilfe schrie. Mit wackligen Knien folgte sie der Gruppe, die aus insgesamt sechs Männern in nahezu identischer Kleidung bestand, die Treppe hinunter. Charlotte musste fast rennen, um Schritt halten zu können

Weiter kam ihnen niemand in die Quere.

Haben sie die anderen vielleicht auch überwältigt und mitgenommen?

Ein eisiger Schreck durchfuhr Charlotte. Es gab seit Jahren immer wieder Erzählungen von... Sklavenschiffen. Sollten sie alle etwa verkauft werden? Unwillkürlich entfuhr ihr ein, wenn auch kaum hörbares, „Oh, nein!“ Der Druck an ihrem Arm verstärkte sich, und Charlotte stöhnte gepeinigt auf.

Sie verließen das Herrenhaus ungehindert durch das Hauptportal. Einer der Eindringlinge entzündete eine kleine, tragbare Öllampe an der nachts am Eingang von Lord Spencers Landsitz immer brennenden Lampe, dann liefen die sechs Männer mit der Frau vom Haus weg und verschwanden in der Dunkelheit.

Sonst aber gesellte sich niemand zu ihnen.

Ein paar Minuten später hielten sie im angrenzenden Wald auf einer Lichtung an, auf der sechs Pferde warteten. Sie schnaubten kurz, grasten dann aber trotz der späten Stunde weiter. Fünf der Männer schwangen sich wortlos in die Sättel. Der Anführer aber hielt Charlotte seine Hand hin und sagte spöttisch: „Darf ich Euch hinaufhelfen?“

Charlotte traute sich nicht, das Angebot abzulehnen, nahm die Hand und schwang sich auf das noch freie Pferd. Sofort danach sprang der Mann hinter sie in den Sattel. Er schlang den rechten Arm um Charlottes Hüfte. Sie spürte die Kühle des Messers sogar durch das Kleid an ihrem Bauch. Die Drohung war unmissverständlich. Mit der linken Hand nahm der Mann die Zügel, und im Trab machte sich die Truppe auf den Weg.

Wieder fragte sich Charlotte, was das Ganze sollte. Aus welchem Grund wollte man sie entführen? Oder war dies Martin von Luxleys Werk, der dies für eine Art Minne hielt? Falls dem wirklich so war, so würde er sich wundern. Doch irgendwie glaubte sie nicht daran.

Der Ritt dauerte eine halbe Stunde, dann hatten sie einen kleinen Steinstrand erreicht. Alle stiegen ab. Charlotte wurde mit Waffengewalt nach vorne getrieben. Sie musste in einem größeren Ruderboot Platz nehmen, das in den Atlantik hinausgeschoben wurde. Wenige Sekunden später legten sich zwei ihrer Entführer in die Riemen. Rasch wurde der Strand, der im fahlen Mondlicht leidlich zu erkennen war, kleiner, um schließlich ganz zu verschwinden. Doch Charlotte sah in der anderen Richtung ein schwaches Licht.

Ein Schiff!

Das musste das Ziel ihrer erzwungenen Reise sein.

Nach ein paar Minuten prallte das Ruderboot sanft mit der Breitseite gegen den Rumpf des Charlotte riesig erscheinenden Dreimasters, der vor der Küste Cornwalls im Meer trieb. Charlotte kletterte die Strickleiter empor, um an Bord direkt wieder von einem Mann mit Messer in Empfang genommen zu werden. Wortlos wurde sie unter Deck gebracht. Der Mann öffnete die Tür zu einer Kajüte und stieß sie hinein. Noch immer hatte, seit sie auf die Pferde gewechselt waren, niemand ein Wort von sich gegeben. Unter den Männern schien alles genauestens abgesprochen zu sein.

Der Mann stellte sich an die Innenwand der Kammer neben die Tür, die er schloss. Er drehte das Messer in der Hand und schaute die Frau dabei aufmerksam an. Charlotte lief ein Schauer über den Rücken. Aber der Mann machte keine Anstalten, sich ihr zu nähern. In seinen Augen lag - und Charlotte war zugleich überrascht wie beruhigt - Langeweile. Er hatte offensichtlich nur den Auftrag, sie zu bewachen.

Charlotte stand unschlüssig in der Kajüte, die ein breites Bett, einen Tisch mit einer Seekarte, zwei Bullaugen und eine große Truhe enthielt. Ihr schien keine unmittelbare Gefahr zu drohen, und so ließ ihre Angst ein wenig nach.

Nach einiger Zeit der Stille öffnete sich die Tür wieder, und ein weiterer Mann trat ein. Auch er trug die typische Kleidung dieser Seeleute, darüber aber einen schwarzen Mantel. Auf der Vorderseite war in Brusthöhe ebenfalls das Diamantsymbol zu sehen. Der Mann war groß, muskulös und hatte ein hartes Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde. Er strahlte Autorität aus. Charlotte kannte ihn nicht, spürte aber, dass er viel gefährlicher war als die Entführer mit den Messern.

Er nahm seinen dunklen Hut vom Kopf und verbeugte sich leicht. „Gestatten, Mylady, ich bin Kapitän Francis Rogers, ehemaliger Freibeuter im Dienste Ihrer Majestät, König Charles I, nun auf eigene Rechnung unterwegs.“

Piraten! Oh, Gott!, dachte Charlotte voller Angst, nahm aber dennoch ihren ganzen Mut zusammen und fragte: „Was wollt Ihr von mir? Warum bin ich hier?“

„Von Euch, Mylady, verlangen wir nichts. Aber 20.000 Pfund Lösegeld von Eurem Vater, Lady Isabella.“

„Ich bin nicht Lady Isabella Spencer“, sprudelte es aus Charlotte hervor, bevor sie richtig nachdenken konnte.

Das also war es! Man hatte sie verwechselt, weil man sie in einem edlen Kleid in Isabellas Zimmerflucht angetroffen hatte. Die Männer hier kannten Isabella Spencer offensichtlich nicht persönlich. Und ihre und Isabellas Frisuren waren recht ähnlich. Auch das Alter stimmte ungefähr.

Wenn ich ihnen kein Geld einbringe, gibt es keinen Grund für sie, mich am Leben zu lassen.

Diese jähe Erkenntnis raubte ihr die Kraft, und die Knie gaben nach. Charlotte taumelte. Ihre Hand tastete suchend umher, um sich irgendwo abzustützen. Da packte sie Rogers sanft am Arm und verhinderte einen Sturz. Er dirigierte sie zum Bett, und Charlotte ließ sich nieder.

Rogers ging nicht auf ihre Worte ein, hielt sie, dem belustigten Lächeln in seinem Gesicht nach zu urteilen, für Ablenkung. Stattdessen fuhr er fort: „Wir werden die ganze Transaktion in wenigen Tagen abgeschlossen haben. Dann seid Ihr zurück auf Euren Landgütern. So lange bleibt Ihr hier. Ihr werdet bewacht, aber man wird Euch nicht anrühren. Darauf habt Ihr mein Wort.“

(Fortsetzung folgt)

Das Piratengirl (Teil 2)
 
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