6.
Das Piratengirl
Mai 1641, atlantischer Ozean in Küstennähe zu England/Europa
Das Piratengirl
Mai 1641, atlantischer Ozean in Küstennähe zu England/Europa
Die Säbel knallten klirrend aufeinander. Charlotte stemmte sich in die Planken und verlagerte das Gewicht blitzschnell im richtigen Moment nach rechts, um Johns überraschenden Angriff zu parieren. Dennoch war sie der Wucht seines Schlages nicht ganz gewachsen und musste leicht nachgeben und zurückweichen. In rasender Folge schnitt Johns Waffe durch die Luft. Er drängte Charlotte in die Defensive. Langsam ging sie Schritt für Schritt zurück und beobachtete John genau.
Da! Er holte zu weit aus. Das war ihre Chance.
Sie stieß den Atem pfeifend aus, ging ein wenig in die Knie und stieß mit dem Säbel zu. John schien überrascht. Er hatte wohl ebenfalls mit einer Ausholbewegung gerechnet. Der Erste Offizier sprang zur Seite und stieß seinen Ellenbogen vor. Wuchtig traf er Charlotte an der Schulter. Sie taumelte. Für einen Moment war ihr waffenloser Arm taub. Das nutzte John. Er wirbelte blitzschnell hinter sie und legte ihr den Säbel an den Hals.
Charlotte seufzte und ließ ihre Waffe auf die Holzplanken im Vorderdeck fallen. Sie hatte den Trainingskampf wieder einmal verloren.
Dennoch lobte John sie: „Lady Charlotte, Ihr werdet von Mal zu Mal besser. Noch ein wenig harte Arbeit an Deck, und Ihr werdet an Kraft zulegen. Euer Auge und Eure Schnelligkeit sind bereits jetzt schon perfekt. Ihr seht Lücken in der Verteidigung wie kaum ein anderer hier an Bord.“
„Danke, John. Ihr seid ein guter Lehrmeister.“ Charlotte bückte sich und hob die blitzende Waffe auf. Sie strich ihre weiße Rüschenbluse glatt und zupfte den kurzen, roten Faltenrock herunter. Dies war ihre Uniform, die sie sich selbst geschneidert hatte, seit sie festes Mitglied der Crew geworden war.
Die ersten Monate nach ihrer Aufnahme waren hart gewesen. Nicht, weil man sie schlecht behandelt hatte, denn dies war schlicht nicht möglich gewesen, wenn man, wie die allermeisten Piraten, ihr aus dem Weg ging. Die Männer hatten akzeptiert, dass Rogers sie aufgenommen hatte. Aber sie hatten, wenn sie es auch zu verbergen gesucht hatten, Angst vor Charlotte. Denn es hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass sie es gewesen war, die mit einer mythischen Hexengabe die feindliche PRIDE AND HONOR zerstört und so das Überleben aller gesichert hatte. Man war ihr dankbar für die Rettung, aber man fürchtete sie.
Sie hatte sich nicht geschont, trotz ihres nominellen Status als Führungsoffizierin. Sie hatte die niedersten Arbeiten freiwillig übernommen, hatte gekocht, bedient, Wache in stürmischen, ungemütlichen Nächten geschoben, den Ausguck besetzt und weiter das Deck geschrubbt.
Und dann hatte die Crew mit Rogers' neuer Taktik das erste Handelsschiff aufgebracht, und die Seeleute sahen, dass Charlotte ihre Gabe für das Wohl der Mannschaft einsetzte und für nichts sonst. Danach hatte man sie akzeptiert.
„Morgen auf ein Neues!“, rief Charlotte vergnügt und rannte zur Luke ins Unterdeck und weiter zu Francis' Kabine. Sie klopfte, trat nach Aufforderung ein und fiel dem Kapitän um den Hals.
Ein langer Kuss folgte, dann bot Francis seiner Geliebten einen Platz an der kleinen Tafel an. „John hat mich schon informieren lassen“, sagte er und hob das Glas. „Dein Training ist bald abgeschlossen.“
„Sehr schön“, erwiderte Charlotte und schob sich eine Hand voll Himbeeren in den Mund. „Ich will endlich an einem Enterkommando teilnehmen. Du nimmst zuviel Rücksicht auf mich, mein lieber Francis.“ Doch sie lächelte bei den letzten Worten, die nur auf den ersten Blick eine Beschwerde darstellten.
„Ich teile die Mannschaft nach Fähigkeit ein. Du hast eine andere Funktion an Bord und im Kampf. Es gibt bessere Säbelfechter als dich.“
„Noch!“, grinste Charlotte und strich kurz über seine Hand. Auf der persönlichen Ebene waren die letzten Monate eine Wohltat gewesen. Rasch waren sich die beiden nach dem knapp überstandenen Schiffskampf gegen die PRIDE AND HONOR nähergekommen.
Charlotte aß ein Stück der gebratenen Leber. Als sie das Wasserglas leergetrunken hatte, schenkte Francis sofort nach. Charlotte grinste weiter. „Man könnte es galant nennen. Aber du willst mich nur gut vorbereiten.“
Francis küsste ihre Hand. „‚Auch‘ ist das richtige Wort, Liebste, nicht ‚nur‘.“
„Ich weiß“, kam es undeutlich zwischen zwei Bissen des gedünsteten Kohls zurück. Charlotte hatte sich längst an diese spezielle Kost gewöhnt. In den Tagen vor einem geplanten Überfall auf ein Handelsschiff hatte Pepe genaue Anweisungen, was er für sie zubereiten sollte.
Schließlich war das Mahl beendet, und Charlotte schob ihren Teller ein Stück von sich. „Ich fühle mich gut, fit. Es wird diesmal nicht zu einem so langen Ausfall kommen wie beim letzten Angriff.“
Sie nahm das spitze Messer und stach sich in die Fingerkuppe. Den Tropfen Blut wischte sie an der Stoffserviette ab. „Schau! Es ist so rot, so voller Kraft. Mein Dämon wird nicht viel davon vergießen, wenn ich seine Leistung fordere.“
Francis' Gesicht zeigte Sorge. „Du bist sicher? Wir können auch noch ein wenig warten. Es gibt weitere Schiffe des Konsortiums in den nächsten Wochen. Wir müssen nicht bereits dieses nehmen, so kurz nach dem letzten Einsatz. Es ist gerade einmal drei Wochen her.“
***
Drei Tage später stand Charlotte im Mastkorb und zeichnete. Sie blickte durch das neue, äußerst hochwertige Fernrohr, das ein kleines Vermögen gekostet hatte, das ihr aber erlaubte, feinere Details aus größerer Entfernung zu erkennen. Als wäre das fremde Schiff in greifbarer Nähe, sah sie die drei Masten vor sich, die größeren Taue, die Rahen der Segel und die verstärkten Füße, mit denen die Masten am Deck befestigt waren. Zwei der Masten waren schnell auf das gelbliche Papier gebracht, da die Segel eine ungewöhnliche, nicht ganz viereckige Form hatten und eindeutig identifizierbar waren.
Doch der Fockmast, der vorderste und kleinste, war eine schwierigere Sache.„Können wir noch ein Stück näher?“, rief sie nach unten.
Der Bote gab die Frage an den Kapitän im Steuerhaus weiter, und wenig später setzte die GLORIOUS DAYS die Segel, um langsam ein gutes Stück näher an die Beute heranzumanövrieren.
Aber nun wurde es kritisch. Rogers hatte falsche Flaggen setzen lassen und die Deckaufbauten mit nutzlosen Holzattrappen verkleidet. Aber diese Täuschung würde nur auf größere Entfernung wirken, denn die GLORIOUS DAYS war durch die vielen Überfälle, die sie in den Jahren verübt hatte, immer bekannter geworden, und die Beschreibungen, die an Land kursierten, waren sehr genau. Das Piratenschiff hielt die Stückpforten noch geschlossen, damit das fremde Schiff keinen Fluchtkurs setzte. Die Taktik hatte weiterhin Erfolg.
„Ja, es reicht“, rief Charlotte und zeichnete auch den dritten Mast. Dann kletterte sie behände vom Krähennest herunter. Nichts erinnerte mehr an ihre Vorsicht, als sie das erste Mal den Ausguck besetzt hatte. Mit wehenden Haaren lief sie zu den Offizieren. „Ich bin bereit.“
„Wir greifen an. Der Wind steht günstig“, entschied Rogers sofort.
Charlotte lief hinaus, trat an die steuerbordseitige Reling und blickte hinüber zu dem noch weit entfernten Beuteschiff. Ken, ein noch sehr junger Mann, der erst seit knapp einem halben Jahr zur Mannschaft gehörte, reichte ihr die Gänsefeder, und Charlotte signierte ihr Bild.
Waagerecht riss sie es an den Füßen der gezeichneten Masten durch.
Sofort danach schob sie ihren Kopf über die Reling, und ein steter Blutstrom floss in die leicht bewegte See. Aber die Reaktion des Körpers fiel wie erhofft deutlich verhaltener aus als bei den früheren Angriffen. Ihre spezielle Kost hatte offenbar den erwünschten Effekt. Charlotte ballte vor Freude die Faust. Beim nächsten Überfall, das schwor sie sich, würde sie zum Enterkommando gehören und nicht nur den ersten Schlag aus der Ferne führen. Sie wollte ihren Mut beweisen.
Die GLORIOUS DAYS hatte volle Segel gesetzt und raste auf den Horizont zu. Noch hielt sie großen Abstand zu dem nun seeuntüchtigen Schiff, das ohne Masten nur noch mit den Ruderern Fahrt machen konnte. Eine leicht einzuholende Beute für jedes Segelschiff. Aber Rogers wusste auch, dass in diesem Moment die Kanonen dort drüben beladen wurden, denn das Schiff würde sich so teuer wie möglich verkaufen wollen. Man hatte die GLORIOUS DAYS mittlerweile sicherlich erkannt und die Attrappen als solche identifiziert. Und man kannte auch Rogers' Taktik. Aber bis jetzt hatte noch niemand ein probates Gegenmittel gefunden, zumindest nicht, wenn man als Einzelschiff unterwegs war.
Das fremde Schiff machte verzweifelte Bemühungen, sich auf der Stelle zu drehen und immer mit einer Seite dem Angreifer entgegenzustellen, um so mit möglichst vielen Kanonen feuern zu können, wenn die Schussentfernung erreicht worden war. Für eine gewisse Zeit gelang dieses Vorhaben auch, denn das Piratenschiff musste große Bögen fahren, um nach Möglichkeit den Bug oder das Heck der Beute vor sich zu haben. Aber schließlich ermüdeten die Ruderer, und Rogers hatte es geschafft.
„Hart backbord“, befahl er, und der Steuermann legte sich ins Zeug. Das Piratenschiff drehte nach links und fuhr schließlich frontal auf den Bug des Beuteschiffes zu.
„Leicht steuerbord“, korrigierte der Kapitän, als die CARGO, so verriet der Aufdruck an den Seiten, wieder versuchte, sich querzustellen.
„Buggeschütz laden und direktes Feuer! Vier Salven!“, schrie Rogers, als das Piratenschiff noch gut 600 Fuß von der CARGO entfernt war.
„Aye, Sir“, antwortete Ken und verschwand in der Luke nach unten. Er flitzte durch das Schiff bis zur vordersten Kammer im oberen Unterdeck, nur wenige Fuß über der Wasseroberfläche. Dort gab er den Befehl an die Kanoniere weiter.
Tucker schüttete Schwarzpulver in den Lauf des hochwertigen Geschützes, dessen innere Wandung so glatt war, wie es die beste Schmiedekunst erlaubte, stopfte das Pulver fest und wuchtete die Sechspfünderkugel in die Öffnung. „Bereit!“ Dann öffnete er die Pforte. Über der blauen See war das dunkle Holz des Rumpfes der CARGO in der Ferne gut zu sehen.
Tucker und Ken traten zurück. Hamilton, der Erste Kanonier, legte die glimmende Lunte in das Zündloch.
Eine Sekunde später knallte es fürchterlich laut. Pfeifend schoss die Kugel davon. Sie beschrieb nur einen flachen Bogen, denn das schwere Geschütz war bei dieser Entfernung und Schwarzpulvermenge fast in der Horizontalen ausgerichtet. Die Kanone rauschte in den Führungsschienen nach hinten, bis der Gegenschub von dicken Pflöcken und starken Tauen aufgefangen worden war. Der Holzboden vibrierte. Der Pulverdampf war noch nicht ganz verraucht, da sprang Tucker vor und reinigte den Lauf in fieberhafter Eile mit einem nassen Tuch, um heiße Schwarzpulverreste zu entfernen, damit sich diese beim Nachfüllen des Explosivstoffs und Verdichten nicht unkontrolliert entzündeten.
Schnell waren die befohlenen vier Runden abgefeuert.
Drei Kugeln hatten große Löcher in den Rumpf der CARGO gerissen.
Doch das Handelsschiff gab noch nicht auf. Es hatte zwar keine große Kanone im Bug, aber das drehbare Geschütz auf dem Oberdeck feuerte seine Steinladungen ab. Der größte Teil versank nutzlos im Meer. Was die GLORIOUS DAYS erreichte, prallte oft von dem Schanzkleid ab, dessen dickes und mit Metallbändern verstärktes Holz als Schutzwand in der vordersten Bugspitze der GLORIOUS DAYS fast zehn Fuß in die Höhe ragte.
„Entermannschaften 1 bis 3 in die Beiboote. Entern nach eigenem Ermessen. Gruppe 4 an die Enterbrücke“, ordnete Rogers an. „Volle Fahrt voraus! Immer direkt auf den Bug zu! Kurz vor einem Zusammenprall leicht steuerbords vorbei, dann nach Backbord drehen und voller Stopp. Während der Anfahrt jede Minute eine Kugel aus dem Buggeschütz abfeuern! Mannschaft 5 versucht, durch ein Leck überzusteigen!“
Sofort liefen drei Gruppen zu je zehn Mann zu den Beibooten, lösten die Haken der Haltetaue und ließen die Kähne über die Winden rasend schnell zu Wasser gleiten. Dann sprangen sie hinterher. Die Boote spritzten auseinander und ruderten mit voller Kraft in drei verschiedenen, gekrümmten Bögen auf die CARGO zu. Kanonendonner empfing sie, doch sie kamen rasch näher an die Beute heran. Bald schon dröhnten gelegentlich Schüsse aus den Donnerbüchsen.
Rogers lief zum Enterbereich 4, warf aber Charlotte noch einen fragenden Blick zu. Diese nickte und scheuchte den Piratenanführer mit einer Handbewegung weg. Rogers sah das Aufblitzen in den Augen seiner Geliebten, und ihm wurde wieder einmal klar, dass es ihr unglaublich schwerfiel, sich zurückzuhalten. Aber schlussendlich stand sie, wie alle an Bord, unter seinem Befehl und musste sich fügen.
Die Schritte der Entermannschaft dröhnten über das Deck. Schon feuerten die ersten Männer mit den Gewehren in Richtung der CARGO. Schüsse peitschten zurück, aber noch war auf beiden Seiten niemand getroffen worden. Die Bugkanone des Piratenschiffes feuerte weiter wie befohlen.
Die drei Beiboote hatten unterdessen die CARGO ohne Schaden erreicht und warfen die Enterhaken hinauf. Die Seile waren an den Enden mit Metallplättchen verstärkt, um ein Durchtrennen mit Säbeln zu erschweren. Die Piraten prüften die Festigkeit der Seile, indem sie daran rüttelten, und schnell kletterte der erste Mann hinauf. Seine Kameraden gaben ihm Feuerschutz, denn sobald sich jemand von der CARGO-Besatzung über der Reling zeigte, wurde dieser unter Beschuss genommen.
„Vorsicht!“, schrie ein Pirat, als sich eine Hand mit einer Pistole über die Reling der CARGO schob und begann, sich nach unten abzuwinkeln. Ein wenig Schrot rieselte herunter.
William, der Pirat am Seil, reagierte besonnen. Er versetzte sein Enterseil durch ruckartige Körperbewegungen und einen Stoß gegen die Holzwand der CARGO in Schwingung und pendelte parallel zum Schiff hin und her. Der Schuss des Verteidigers ging ins Leere. William lachte laut auf und kletterte behände die letzten fünf Fuß empor. Mit einem wütenden Schrei rollte er sich über die Reling, und kurz darauf war Säbelgerassel zu hören. Dann ertönte ein weiterer Schrei, der schnell röchelnd erstarb, aber das folgende Lachen zeigte, dass es nicht William war, der sein Leben bei diesem Kampf beendet hatte.
Auch die beiden anderen Enterkommandos kletterten nun auf die CARGO. Die Verteidiger wurden dezimiert, aber auch drei von Rogers' Männern fanden den Tod, was die anderen noch weiter anstachelte.
Unterdessen versuchte die Mannschaft im Kanonenraum im Bug der GLORIOUS DAYS einen Enterhaken in eins der Lecks, welche die Kugeln gerissen hatten, zu werfen, doch dieser verfing nicht. Sie unternahmen einen Versuch nach dem anderen, hatten aber keinen Erfolg.
An Deck ließ Rogers die lange Enterbrücke herabrauschen. Wütendes Abwehrfeuer empfing ihn. Die Piraten warteten geduldig in Deckung unter der Reling, bis das Feuer nachließ, dann schossen sie ihrerseits aus allen Handfeuerwaffen. Schreie Getroffener erfüllten die Luft. Der Pulverrauch färbte die Luft für einen Moment schwarz.
„Brandpfeile ab!“, schrie John in diesem Moment.
Surrend flogen die glühenden Geschosse von der GLORIOUS DAYS hinüber und machten dort das Chaos perfekt. Die Piraten waren den Seeleuten auf dem Handelsschiff zahlenmäßig und in Kampferfahrung deutlich überlegen. Die CARGO hatte schlicht nicht genügend Soldaten, um an fünf verschiedenen Stellen ein Entern zu verhindern, Lecks abzudichten, gleichzeitig auch noch Brände zu löschen oder eigene Pfeile abzuschießen.
Rogers schoss selbst unmittelbar hintereinander zwei Pfeile an die Stelle direkt hinter dem Enterbalken. Sie blieben im Deck stecken, und ein Tau fing Feuer. Kurz darauf war das Husten von Seefahrern zu hören, die sich aus ihren Verstecken erhoben und zurückwichen. Sie feuerten, starben jedoch im Schrothagel der Piratenwaffen.
„Entern!“, befahl Rogers.
Neun Männer rannten nacheinander über die Brücke zwischen den Schiffen und verteilten sich sofort. Dann folgte der Piratenkapitän. Jeder Mann hielt eine Pistole in der schwachen und den Säbel in der starken Hand. Sie nutzten jede Deckung, während sie sich vorarbeiteten. Die von Charlotte abgeknickten Masten lagen quer über das Schiff und ragten weit ins Meer hinaus. Sie ähnelten gefällten Bäumen. Segeltuch verdeckte die Planken. Kampflärm scholl aus drei verschiedenen Richtungen auf sie zu, doch dieser erstarb nach und nach.
Die Lage war eindeutig, und schließlich gab der fremde Kapitän den Befehl: „Wir kapitulieren!“ Er warf seinen Hut aus einer der Luken aufs Oberdeck.
Rogers blieb vorsichtig, gab aber die Order, die Kämpfe vorläufig einzustellen und die Gegner zu schonen. „Kommt heraus!“, rief er, blieb aber noch in Deckung hinter einem der umgestürzten Masten.
Ein alter Seemann stieg aus der Luke ins Freie. Er machte trotz der Niederlage einen stolzen Eindruck und kam auf Rogers zu, der sich langsam erhob. Zwei Schritte trennten die beiden Kapitäne.
„Francis Rogers, ich habe vor Euch gewarnt. Aber man wollte nicht auf mich hören. Ohne starkes Buggeschütz und außerhalb eines Konvois haben wir im Moment keine Chance gegen Euch. Aber eines Tages wird man herausfinden, wie Ihr es so lautlos anstellt, die Masten zu fällen. Eure Waffe wird man nachbauen. Und dann wird Eure Glückssträhne jäh enden.“
Rogers lächelte geheimnisvoll. „Wer seid Ihr?“
„Gestatten, ich bin Sir Bartholomew Tremayne, ehemaliger Kampfschiffkapitän Seiner Königlichen Majestät, nun im Privatdienst der Trading Corporation auf dem Rückweg aus der Neuen Welt.“
„Sir, wir wollen nur Eure Ladung - sowie das Gold und Silber, das Ihr sicherlich für Euren Auftraggeber geladen habt, wenn auch nicht offiziell. Gebt uns, was wir verlangen, dann bleiben Ihr und Eure Leute am Leben und könnt Eures Weges ziehen.“
Tremaynes Gesicht zuckte. Er musste all seine Kraft aufbieten, die Niederlage weiter ruhig hinzunehmen. Aber er nickte und rief seinen Männern zu: „Öffnet die Ladeluken.“
***
Die GLORIOUS DAYS hatte reiche Beute gemacht. Zucker, Baumwolle und Tabak wurden nach der Übernahme im nächsten Hafen losgeschlagen. Niemand, der kaufte, fragte nach der Quelle der Waren. Auch ein Teil des Goldes, des Schmucks und der Edelsteine wurde veräußert.
Nur über die Verwendung des Teils, der für König Charles I bestimmt war, herrschte Uneinigkeit. Die Führungsmannschaft versammelte sich im Steuerhaus.
„Ich sage, wir haben das Gold erobert, es gehört nun uns“, stellte Henry seine Meinung unmissverständlich klar.
Charlotte widersprach. „Der König rüstet sich für einen Kampf. Es wird zum Bürgerkrieg kommen, das wisst Ihr so gut wie ich.“
„Na und?“, knurrte Henry. „Soll er doch. Royalisten, Parlamentarier - auf der See sind wir sicher. Außerdem hat er dann anderes zu tun.“
Wieder schüttelte Charlotte den Kopf. „Er braucht das Gold, um seine Truppen zu bezahlen. Und wenn er es nicht erhält, wird er in seinem Zorn wild um sich schlagen. Und wenn die Marine Ernst macht und sich ganz auf die Piraten an der Küste konzentriert, werden auch wir Probleme bekommen. Und zwar ganz gewaltige, da...“
„Ach, Quatsch!“, unterbrach der Profos. „Mit der königlichen Seeflotte ist es nicht weit her. Alles Stümper. Die sind keine Gefahr für uns.“
„John, deine Meinung?“, fragte Rogers seinen Ersten Offizier.
„Wir haben eine Menge Beute gemacht. Das wird einige Zeit reichen. Ich denke, in den aktuellen Wirren im Land sollten wir uns darauf beschränken, ausländische oder private Schiffe zu kapern, nicht aber solche, die dem König zuzuordnen sind. Und das gilt auch für Teilladungen.“
Danach herrschte die übliche Ruhe, bis Francis seine Überlegungen abgeschlossen und die finale Entscheidung getroffen hatte.
„Wir werden das königliche Eigentum zurückgeben. Allerdings auf indirektem Wege. Ich möchte lieber nicht darauf vertrauen müssen, dass König Charles uns freies Geleit zusichert und einhält. Wir haben ihn zu oft gereizt. Wir machen...“
***
In halsbrecherischem Tempo galoppierte das prächtige schwarze Pferd über den Waldboden. Henry, der einige Schritte vom Weg entfernt hinter einem halb verfallenen Baum kauerte, blickte angespannt in die Richtung des immer lauter werdenden Hufschlags. Es dauerte eine halbe Minute, dann aber erkannte er den jungen Piraten Ken. Dennoch wartete Henry noch einen Moment ab, und erst, als er sicher war, dass keine Verfolger in Sicht waren, gab er den vereinbarten Erkennungspfiff ab. Ken zügelte den Rappen sofort und sprang aus dem Sattel. Suchend blickte er sich um, konnte aber niemanden erkennen.
Henry kam hinter seinem Versteck hervor. Charlotte und Ian folgten mit den zwei schweren, dunklen Säcken, welche das Gold der CARGO enthielten, das für den König bestimmt war.
„Der Earl ist auf dem Weg“, meldete Ken. „Er ist etwa zwei Meilen hinter mir.“
Henry gab ein Zeichen, und Charlotte und Ian trugen die Säcke auf den Waldweg. In etwa siebzig Schritt Abstand zu der kleinen Kurve, welche den Blick in die Richtung, aus der Ken gekommen war, begrenzte, legten sie die Behältnisse ab. Der Tag war sonnig, und die Baumwipfel verdeckten nur wenig des Himmels. Charlotte und Ian öffneten die Schnürung und schoben den Stoff so weit nach unten, dass man bereits aus einiger Entfernung das gelbe Glitzern ausmachen konnte. Charlotte zog die große Schriftrolle mit den Holzbeschwerungen an Ober- und Unterende aus ihrem Tragebeutel, rollte sie auf und legte sie gut sichtbar auf einen der Säcke. Die Schrift war so groß, dass die Reiter des Earls bereits aus einiger Entfernung die kurze Botschaft entziffern konnten.
Das Gold der CARGO für unseren König Charles I.
Ich bitte untertänigst um Vergebung für die Verzögerung
gez. Francis Rogers
Charlotte lief einige Schritte zurück und betrachtete die Stelle mit den Säcken. Sie war zufrieden, der Earl würde das Hindernis rechtzeitig sehen und anhalten. Sie lief mit Ian zu Henry. „Es passt so“, meldete sie dem Anführer des Einsatzkommandos.
Henry gab die nächsten Anweisungen. „Ken, du reitest in das nächste Dorf und verkündest, dass der König sein Gold erhält. Mache es sehr auffällig, die Information muss möglichst schnell, und so, dass es viele wissen, in die Nähe des Hofes gelangen.“
Ken bestätigte, schwang sich wieder in den Sattel und ritt an den Säcken vorbei in schnellem Tempo in die ursprüngliche Richtung weiter. Das Getrappel entfernte sich rasch und war bald nicht mehr zu hören.
„Charlotte, Ian, ihr reitet zurück zum Boot. Macht alles abfahrbereit und wartet auf mich. Wenn ich bei Sonnenuntergang nicht erschienen bin, rudert hinaus und erstattet Meldung.“
Die Angesprochenen nickten, verließen den Weg und liefen tiefer in den Wald hinein.
Charlotte hegte Bewunderung für Francis' Plan. Zwar galt James Stanley, der Earl of Derby, als treuer Royalist, aber der Anblick einer solch großen Menge Goldes konnte einen einzelnen Menschen schon in Versuchung führen. Die Kunde vom Gold im Wald würde jedoch Charles I erreichen, und dieser würde den Earl zum Rapport einbestellen. Es war also sicher, dass die Reichtümer zum König gelangten, und auch die Nachricht, wer sie ihm übergeben hatte.
Mit einem Aspekt des Plans aber war Charlotte nicht einverstanden. Sie hätte die Späheraufgabe, die Henry nun ausführte, aufgrund ihres Scharfblicks mit viel weniger Risiko einer Entdeckung aus größerer Entfernung ausführen können. Doch Francis hatte ihre diesbezüglichen Einwände weggewischt und war nicht von seiner Entscheidung abgerückt.
Also gehorchte sie, wenn auch widerwillig, der Anweisung des Zweiten Offiziers. Die vier Piraten befanden sich schließlich im Einsatz und mussten sich aufeinander verlassen können. Und das gelang nur, wenn jeder tat, was ihm aufgetragen wurde, sodass keine Konfusion entstand. Charlotte hatte früh verstanden, dass bei den Piraten eine starke hierarchische Ordnung herrschte, die aber nichtsdestotrotz durchlässig war.
Als sie und Ian den Rand des Waldes erreichten, sprangen sie auf die beiden gemieteten Pferde und ritten in großem Bogen um die Stadt herum in Richtung der Klippen.
Henry hingegen ging langsam und darauf bedacht, keine Spuren auf dem Waldboden zu hinterlassen oder Zweige zu brechen, gute einhundert Schritte weiter auf die andere Seite des Waldwegs, jenseits der Säcke. Das Unterholz war recht dicht, sodass ein Durchkommen mit einem Pferd nicht möglich war. Und sollte sich ein Kämpfer des Earls zu Fuß in Henrys Richtung bewegen, blieb genügend Zeit, unerkannt zu verschwinden.
Henry kniete sich hinter ein Gebüsch, holte das Fernrohr aus seinem Tragebeutel und schaute hindurch. Die Entfernung passte. Er konnte die Kurve und die Säcke ausreichend erkennen.
Geduldig wartete er. Doch es dauerte nicht lange, da hörte er schon das Schlagen vieler Pferdehufe und das Holpern von Rädern auf dem nicht ganz ebenen Waldboden. Henry drehte leicht den Kopf, um in Richtung der Kurve zu blicken. Kurze Zeit später preschten vier Reiter um die Biegung. Kaum fiel ihr Blick auf die schwarzen Säcke, die wie eine Falle in der Mitte des Weges standen, da verlangsamten sie das Tempo. Einer rief ein Kommando nach hinten, und die Kutsche, die nun ebenfalls in Henrys Sichtfeld auftauchte, fuhr schon mit deutlich verminderter Geschwindigkeit.
Einer der Reiter sagte etwas, das Henry aber nicht verstehen konnte. Kurz darauf begann sich ein anderer Mann, langsam und mit sehr vorsichtigen Bewegungen den Säcken zu nähern. Mit seiner Muskete stocherte er immer wieder auf dem Stoff herum. Doch als nichts passierte, fasste er mehr Mut, hob die Säcke auf und kippte deren Inhalt auf den Boden. Die Schriftrolle brachte er zur Kutsche zurück und übergab sie dem Earl, welcher die Tür seines luxuriösen Reisegefährts geöffnet hatte und ausgestiegen war. Henry erkannte den Adligen sofort.
James Stanley las die Botschaft mehrmals durch. Sein Gesicht spiegelte Überraschung wieder. Er zögerte kurz, dachte wohl nach, und gab dann den Befehl, auf den Henry gewartet hatte. Die vier Reiter begannen, die Goldmünzen und das Geschmeide wieder zurück in die Säcke zu packen, und schleppten sie herüber. Das Gold für den König wurde in die Kutsche geladen.
Dann schwärmten die vier Bewaffneten aus und fingen an, die nähere Umgebung des Fundortes zu untersuchen. Sie vermuteten wohl, dass sie jemand beobachtete und wollten denjenigen fangen.
Henrys Auftrag aber war beendet. Leise zog er sich zurück.
7.
Eine neue Heimat
April 1642, weit vor der Küste im Süden Englands
Eine neue Heimat
April 1642, weit vor der Küste im Süden Englands
Francis und Charlotte standen an Deck und blickten nach Westen. Die gerufenen Befehle im Hintergrund, die Piraten, die ihre Arbeit erledigten, all das nahmen die beiden nur im Unterbewusstsein wahr. Der blaue Apriltag im Jahre 1642 war kühl, die Sicht reichte weit. Es war kurz vor Mittag, und die GLORIOUS DAYS hatte volle Segel gesetzt und Kurs Richtung Süden angelegt. Gerade passierten sie Bristol, doch die Küste Englands im Osten war nicht zu sehen.
Charlotte hatte sich einen Mantel übergeworfen und bei ihrem Geliebten untergehakt. Den Kopf an seinen Oberarm gelegt, fragte sie: „Du willst wirklich hinüber?“
Francis nickte. „Ja. Es gibt so viele Möglichkeiten auf diesem Kontinent. Eine neue Welt, ein neues Glück für uns beide. Ich sehne mich danach. Nenne es Fernweh. Aber ich gehe nur, wenn du meine Begleiterin bleibst.“
„Ich komme mit“, sagte Charlotte und strich sich die langen, gewellten Haare, die der Wind etwas zerzaust hatte, zurück. „Aber vorher muss ich noch eine Sache erledigen.“
„Was immer du willst, Charlotte. Verfüge über mich und die Männer. Ich gebe dir, wen immer du brauchst.“
„Gib mir acht deiner besten Männer mit. Aber lass mich den Trupp alleine anführen. Ich muss eine Rechnung präsentieren.“ Dann erzählte sie dem Mann, mit dem sie sich eine Zukunft nicht nur vorstellen konnte, sondern diese planen wollte, von ihrem Vorhaben.
Francis hörte aufmerksam zu. Als Charlotte geendet hatte, brach er in schallendes Gelächter aus. „Sehr schön! Das ist meine Charlotte. Oder sollte ich sagen: Die falsche Lady Isabella kehrt zurück.“ Dann nahm er sanft ihr Gesicht in seine Hände. Seine Lippen suchten die ihren, und die beiden küssten sich lange.
„Geh zu John und sage ihm, was du vorhast. Es wird ihm gefallen. Er wird dir die perfekte Truppe zusammenstellen.“
***
Acht Tage später war es soweit.
Noch in der Morgendämmerung landete Charlotte zusammen mit acht Piraten in einer kleinen Bucht nahe Falmouth. Sie zogen das Boot an den Steinstrand und kletterten die steile Böschung hinauf. Ken, den John zwei Tage zuvor mit einem besonderen Auftrag ausgeschickt hatte, wartete mit zehn Pferden auf der Landzunge.
Die zehn Piraten, die alle unterschiedliche Kleidung trugen, die sie nicht als Seeleute erkennbar machte, ritten zügig in Richtung Stadt. Die letzten Tage hatte Charlotte voller Ungeduld auf dem Schiff gewartet, bis endlich Nachricht gekommen war, dass sich Lord Spencer zu seiner Stadtwohnung aufgemacht hatte. Auch Isabella würde einige Tage dort verbringen. Charlotte hatte erfahren, dass der Lord auch fast zwei Jahre nach dem Vorfall im Landsitz weiter eine Entführung seiner Tochter befürchtete, sodass sechs private Soldaten rund um die Uhr für Lady Isabella als Leibwächter arbeiteten. John aber hatte nach Erhalt dieser Meldung nur abgewinkt und gemeint, das würde kein Problem darstellen.
Der Ritt war nur kurz, und bereits weit vor den Toren der Stadt banden sie die Pferde an ein paar Bäume an und legten die restlichen zwei Meilen im Schatten des Waldes zu Fuß zurück.
Falmouth begann zu erwachen.
Die zehn Piraten näherten sich dem palastähnlichen Anwesen des Lords und schlichen sich auf die Rückseite, wo eine hohe Mauer einen großen Garten umgab. Mit einer Räuberleiter waren rasch acht Männer und Charlotte hinübergestiegen, nur der jüngste Pirat blieb außerhalb. Er würde sich bemerkbar machen, wenn ihnen von dieser Seite Gefahr drohte.
Geduckt schlichen die neun über den grünen Rasen und nutzten jede Deckung. Ein paar Büsche und Blumenbeete waren kunstvoll zwischen den Steinwegen angelegt, doch der Garten kam nicht an die Pracht im Landsitz der Spencers heran.
Wachhunde bellten und liefen in gewaltigen Sprüngen auf die Eindringlinge zu. John öffnete seine Tasche, nahm ein paar riesige Fleischbrocken heraus und warf sie auf das kleine Rasenstück an der linken Seite des Hauses. Sofort ließen die Hunde von ihrem Ziel, das sie nur gehört hatten, ab, und ihr mächtiger Geruchssinn übernahm das Kommando. Voller Gier stürzten sie sich auf das Fleisch, und begannen, hastig zu fressen. Sekunden später traten vier Soldaten wie erwartet aus dem Hinterausgang des Gebäudes. Aber sie hatten keine direkte Sicht auf den Ort, von dem die Knurr- und Schmatzlaute herkamen, und so mussten sie sich den Tieren nähern.
Als die Soldaten um die Hausecke bogen, sprangen die Piraten wie eine losgelassene Bogensehne aus ihren Verstecken nach vorne. Immer zwei Piraten griffen einen der Soldaten an und brachten diesen mit gezielten Schlägen zuerst in die Defensive, um ihn dann bewusstlos zu schlagen. Die Überrumpelung klappte perfekt, und die Verteidiger fanden keine Möglichkeit, von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen. Der Kampf währte nur kurz. Vielleicht hörte man den Lärm im Haus, aber noch reagierte dort niemand.
Henry zog kurze Stricke aus seiner Tasche und fesselte Hände und Füße der Besiegten. Ein Stofftuch diente jeweils als Knebel.
Dann liefen die neun zur noch immer offenen Hintertür und drangen in das Haus ein. Charlotte, die sich hier gut auskannte, führte den Trupp an. Jeder hielt eine Pistole in der Hand. Die Eindringlinge schlichen auf Zehenspitzen den Hauptgang entlang und teilten sich schließlich in drei Gruppen auf. John und seine zwei Begleiter wandten sich der Treppe in das Obergeschoss mit den Schlafgemächern der Herrschaften zu. Henry verschwand mit zwei Kumpanen im Bereich der Dienstboten.
Charlotte, Ken und Harry kümmerten sich um die direkt am Eingang gelegenen Räume. Die vorderen zwei Zimmer waren leer, doch als sie sich dem Arbeitszimmer des Lords näherten, waren leise Geräusche zu vernehmen. Charlotte legte das Ohr an die Tür und lauschte einen Augenblick, dann nickte sie. Jemand war auf der anderen Seite.
Sie ließ sich neben der Tür in die Hocke sinken und legte ein Stofftuch als Zeichen für die anderen Gruppen neben den Türrahmen auf den Boden. Harry stellte sich schräg hinter sie. Ken zählte mit den Fingern herunter und riss bei Null die Tür mit einem kräftigen Ruck zu sich hin auf. Sofort sprang Charlotte nach vorne, und die anderen beiden stürzten ihr nach. Ken zog die Tür hinter ihnen zu.
Nach einer Sekunde stand Charlotte mit der Waffe in der Hand mitten im Raum und hatte die Situation erfasst. Lord Spencer thronte in einem schweren, prunkvollen Sessel mit offenem Mund hinter seinem Schreibtisch. Ihm gegenüber saßen seine Tochter Isabella sowie Edward. Ob die beiden mittlerweile vermählt waren, wusste Charlotte nicht. Es war ihr auch egal.
„Keinen Laut!“, befahl sie und bemühte sich, wie beiläufig zu klingen, ganz so, wie der Lord früher immer seine Befehle erteilt hatte. Charlotte musste ein zufriedenes Lächeln unterdrücken. Es fühlte sich gut an, Anordnungen zu geben. Dennoch ging es ihr nicht um diese Art kleinlicher Rache. Es gab einen ganz bestimmten Grund, warum sie hier aufgetaucht war.
„Was...“, begehrte der Lord auf. Doch als Charlotte kurz mit der Pistole wedelte, verstummte er sofort wieder. Edward hatte sich ein Stück tiefer in seinem Sessel nach unten sinken lassen.
Feigling, dachte Charlotte und gab Ken ein Zeichen, der daraufhin Edward fesselte und knebelte.
Lady Isabellas Gesicht verzerrte sich vor Wut. Charlotte glaubte, dass diese Frau die gefährlichste der drei Anwesenden des Haushalts war. Auch sie wurde verschnürt, aber als Ken ihr einen Knebel zwischen die Zähne schieben wollte, schüttelte Charlotte den Kopf. „Lasst uns das bei einer Lady vermeiden, solange es geht. - Isabella, du wirst dich ruhig verhalten.“
Dann trat sie an den Schreibtisch und blickte Lord Spencer durchdringend an. „Ich werde nicht lange bleiben, Mylord.“
Danach dominierte Stille den Raum. Die Piraten behielten ihre Gefangenen im Blick. Charlotte stand direkt hinter Lord Spencer und presste ihm die Pistole in den Nacken.
Nach ein paar Minuten klopfte es endlich in dem vereinbarten Rhythmus an der Tür. Henry betrat das Arbeitszimmer. Er nickte Charlotte zu und zeigte mit einer Hand die Zahl ‚4‘ an. Wenig später klopfte es erneut, und John meldete Vollzug. Er hatte die beiden fehlenden Soldaten sowie fünf Bedienstete gefesselt und eingesperrt.
Das Spencer-Haus befand sich nun unter der Kontrolle der Piraten.
„Lord Spencer, Ihr schuldet mir 20.000 Pfund“, sagte Charlotte.
Als sie die Summe nannte, sprudelte es aus dem alten Mann heraus: „Du bist verrückt! Ich habe einen Moment benötigt, um dich zu erkennen. Ich schulde dir nichts. Du bist eine Magd, sonst nichts. Diener wie dich gibt es wie Sand am Meer. Verschwinde aus meinem Haus!“
Charlotte verstärkte den Druck der Pistole. „Ich will die 20.000 Pfund, die Ihr nicht bereit wart zu zahlen, nachdem Ihr mich wissentlich in Gefahr geschoben habt. Ihr habt damit gerechnet, dass ich schon tot bin. Dass die Entführer mich umbringen, wenn sie erfahren, dass ich für sie nichts wert bin. Nun, wie Ihr seht, habt Ihr Euch mit dieser Einschätzung geirrt.“ Das Lächeln, das nun ihre Lippen umspielte, strahlte pure Entschlossenheit aus.
Isabella erstarrte, als sie es gewahrte. Dies war nicht mehr die scheue Magd, die sie qua ihres Standes herumkommandieren konnte. Angst blitzte im Gesicht der Spencer-Tochter auf. „Vater, sie meint es todernst. Gib ihr, was sie will. Wer weiß, was sie sonst tut, um es zu bekommen.“
„Nein!“, sagte der Lord mit fester Stimme. Er drückte den Rücken durch, um aufrechter zu sitzen.
Charlotte nickte John zu, der ihr zwei Stricke zuwarf. Sie fesselte den Lord, der ebenfalls geknebelt wurde. „Nun, ich hatte gehofft, dass es auf die einfache Art ablaufen könnte. Eine schnelle Transaktion, niemand kommt zu Schaden, das war es. Aber dann eben nicht.“
Sie ging zurück zu ihren Mitstreitern. „Wir werden das Haus plündern und alles mitnehmen, was uns von Wert erscheint. Und, Mylord, das wird sicherlich weit über 20.000 Pfund Verlust für Euch bedeuten.“ Sie legte eine Hand auf die Klinke der Tür und öffnete sie. „Ach ja. Was wir nicht benötigen, könnte zerstört werden.“
Dann verließen alle Eindringlinge den Raum.
„Halt!“, schrie Isabella laut, bevor die Tür vollständig zugefallen war. „Ich zeige euch das Versteck der Goldmünzen.“
Ein Gemurmel folgte den Worten, und Charlotte konnte sich bildlich vorstellen, wie der Lord seiner Tochter buchstäblich verbot, dies zu tun. Doch Isabella hatte die Realität offensichtlich akzeptiert und war um Schadensbegrenzung bemüht.
Soll sie, dachte Charlotte, die keinen besonderen Wert darauf legte, das Haus zu verwüsten. Außerdem würde dies unnötig Zeit kosten. Zeit, in der vielleicht ein Nachbar oder ein Besucher, der auftauchte, bemerken konnte, dass im Anwesen der Spencers etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Charlotte lief zurück zu Isabella. „Gut“, sagte sie, nahm ihr Entermesser, schnitt die Fußfesseln durch und zog die Tochter am Oberarm hoch.
Isabella brachte Charlotte, Henry und John zum Weinkeller hinunter, während die anderen Piraten oben warteten. Die Luft roch ein wenig modrig. Mit einer Öllampe leuchteten sie den kühlen Raum ab, an dessen Steinwänden Wasser herabfloss. Moos bedeckte die Wände, und Schatten huschten darüber.
„Hier, hinter dem Fass“, sagte Isabella und deutete auf den hintersten Winkel.
Charlotte wollte sich dem Fass nähern, doch John hielt sie zurück. Er flüsterte ihr ins Ohr: „Verzeih, Charlotte, aber Francis gab uns den Befehl, dass dein Leben die höchste Priorität genießt. Hier endet deine eigene Befehlsgewalt in diesem Kommando deshalb.“
„Was...“, entfuhr es Charlotte, die den Ersten Offizier der GLORIOUS DAYS mit größter Verblüffung anstarrte.
John zog sie zurück und ging mit ihr hinter dem vordersten Weinfass in Deckung. Der Griff, mit dem er sie weiter festhielt, war hart, aber nicht schmerzhaft, doch Charlotte wusste, dass sie rein körperlich dem Mann immer noch unterlegen war. Aber es gab auch keinen wirklichen Grund, sich hier und jetzt bei einer solchen Sache zu streiten. Sie legte als Zeichen des Einverständnisses für einen Moment ihre Hand auf seinen Unterarm. John verstand, und ließ Charlotte los. Dann nickte er Henry zu.
Der Zweite Offizier schob Isabella zum letzten Fass, trat hinter die Frau, die er als Schutzschild nutzte, und griff an ihrer Hüfte vorbei die große Querstange über dem Zapfhahn. Langsam zog er daran, und das Fass glitt aus einer Vertiefung in der Wand heraus. Die Konstruktion erinnerte an die Schlitten, auf denen die Bordkanonen der GLORIOUS DAYS ruhten.
Jetzt verstand Charlotte. John befürchtete eine Falle. Vielleicht eine versteckte Waffe, nach der Isabella trotz der gefesselten Hände greifen wollte. Oder eine Ladung Schwarzpulver, die beim Herausziehen des Fasses durch einen Feuerstein automatisch entzündet werden konnte, wenn nicht bestimmte Handgriffe zuvor dies verhinderten.
Als Henry das Fass komplett herausgerollt hatte, zog er seine Hände zurück.
Diesen Moment nutzte Isabella. Mit einem Schrei sprang sie nach vorne und wollte sich zwischen den Fässern zur großen Wandöffnung hindurchzwängen. Doch Henry war auf der Hut. Er schaffte es, ihr von hinten ein Bein zu stellen. Isabella taumelte, prallte mit der Schulter gegen das herausgezogene Fass und rutschte zu Boden. Nach einem Aufschrei blieb sie stöhnend liegen.
Henry leuchtete in die Öffnung der Steinmauer hinein. „Drei Pistolen und eine große Holzkiste. Sie ist verschlossen.“
Er blickte John an, der seinerseits zu Charlotte schaute. „Deine Entscheidung?“, fragte der Erste Offizier, und Charlotte wunderte sich, wie schnell er vom Befehlsgeber zum -empfänger werden konnte.
Vielleicht hat er das von Francis gelernt, vermutete sie. Mein Liebster kann ja auch hart und im nächsten Moment total zärtlich sein.
Charlotte flüsterte John etwas ins Ohr. Der Mann nickte und verschwand für ein paar Minuten. Als er wiederkam, hatte er den Lord bei sich.
Charlotte trat zu Albert Spencer und drückte ihm die Waffe in die Seite. „Isabella, du wirst mit deinem Vater jetzt die Kiste hinaus in den Garten tragen. Es ist mir egal, wie ihr das mit gefesselten Händen anstellt. In zehn Minuten ist das Teil draußen. Ihr habt mich jetzt bereits zweimal betrogen. Wagt es nicht ein drittes Mal. Meine Geduld hat Grenzen.“ Sie hatte die Stimme etwas erhoben, und die Worte hallten noch kälter, als sie diese ohnehin ausgesprochen hatte, von den rohen Wänden wieder.
Unter den wachsamen Augen der drei Piraten mühten sich die beiden Spencers ab, die Kiste die Treppe hinaufzutragen. Charlotte, John und Henry hielten Abstand und suchten Deckung, immer damit rechnend, dass die Kiste explodieren konnte. Doch schließlich stand sie im Garten, weit vom Haus entfernt mitten auf dem Rasen. Die Wachhunde lagen träge auf dem Boden. Sie hatten sich voll gefressen und machten keine Anstalten, ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen und die Eindringlinge anzugreifen.
„Legt die Kiste auf die Seite!“, befahl Charlotte, und die beiden Spencers kippten das Behältnis um 90 Grad um. „Dreht sie von der Tür weg!“ Auch das taten die beiden schwer atmend. „Und nun ins Haus!“, rief Charlotte.
Kurz hatte sie überlegt, die Spencers die Kiste öffnen zu lassen, doch vielleicht hatten diese eine weitere Teufelei darin deponiert. Und Henry wollte sie nicht in Gefahr bringen, denn es gab eine andere Möglichkeit.
Sie wandte sich an John und flüsterte die nächsten Befehle. Daraufhin zogen sich die beiden Offiziere mit den Gefesselten zurück ins Innere des Hauses. Charlotte lief ebenfalls hinein und verschwand für einen Moment in Lord Spencers Arbeitszimmer. Mit einem Stück Papier und einem Tintenfass mit Federkiel kam sie zurück und kniete sich in drei Schritt Entfernung vor die Kiste. Rasch war eine Zeichnung des Schlosses angefertigt. Auch die reichlich vorhandene Verzierung der Metallbänder war gut zu erkennen. Als ihr Bild fertig war, lief Charlotte ins Haus zurück und schloss die Hintertür. Sie legte sich flach auf den Boden und aktivierte erst dann die Zeichnung. An den gezeichneten Bügeln riss sie das Vorhängeschloss durch. Draußen im Garten knirschte es metallisch, und dann fiel etwas dumpf auf den Rasen.
Charlotte wartete angespannt, lauschte nach draußen, doches geschah nichts weiter. John rief aus dem angrenzenden Raum: „Das Ding ist ungefährlich. Ich sehe den Inhalt. Wir sind am Ziel!“
Charlotte stieß die angehaltene Luft aus, sprang auf, öffnete die Tür und rannte hinaus.
Es blitzte und blinkte gelb in der Sonne. Goldmünzen und Schmuck strahlten ihnen entgegen. Charlotte rief die anderen Piraten herbei, und wenig später hatten sie die gesamten Reichtümer, welche mit Sicherheit weit mehr als 20.000 Pfund Wert besaßen, in den Taschen ihrer Kleidung oder in Beuteln, die sie mitgebracht hatten, verstaut.
Ohne noch ein Wort mit Isabella oder Lord Spencer zu wechseln, verließen die neun Piraten das Grundstück wieder über die hintere Mauer. Als Charlotte gerade hinaufklettern wollte, hörte sie leises Hundegebell. Sie drehte sich um, und ein breites Lächeln der Freude glitt über ihr Gesicht. Sie sprang von der Räuberleiter herunter, auf die sie gerade ihren Fuß gesetzt hatte, und lief dem alten, müde humpelnden Hund entgegen.
Charlotte ging in die Hocke, nahm das Gesicht des Hundes in die Hände und kraulte ihn liebevoll. „Rover! Mein guter Rover, gibt es dich immer noch?! Wo kommst du denn jetzt her?“
Aus dem Haus ertönte Isabellas schrille Stimme: „Rover! Komm zurück!“ Doch der Hund gehorchte nicht. Dicht an Charlottes Bein geschmiegt, trottete auch er zur Mauer.
Charlotte hob ihn hoch und reichte ihn hinüber. Dann verließen auch sie und Henry als letzte das Anwesen.
Die zehn liefen durch die mittlerweile vollen Gassen der Stadt. Niemand sprach sie an oder hielt sie auf. Charlotte blickte sich aufmerksam um, bis sie schließlich einen Jungen sah, der die Gruppe aus einem Hauswinkel heraus beobachtete. Sie winkte ihn heran.
„Junge, ich habe einen Auftrag für dich“, sagte sie und warf ihm eine größere Münze zu. Der Junge hob sie vom Boden auf, betrachtete sie und kam näher.
„Was soll ich tun?“, fragte er.
„Bring dies, sobald die Taverne öffnet, zu Richard, dem Wirt“, beauftragte Charlotte ihn und gab dem Boten einen kleinen Ledersack, dessen Inhalt klimperte. „Sag ihm nur, ich hätte meine Pläne geändert.“
Sie gab dem Jungen ein weiteres Geldstück, und seine Augen wurden größer.
„Ein ganzes Pfund für einen solchen Dienst?“, wunderte er sich.
„Ich vertraue auf deine Ehrlichkeit, dass du ablieferst, was ich dir gebe. Enttäusche mich nicht.“
Der Junge schüttelte wild den Kopf. „Nein, Mylady, das werde ich ganz bestimmt nicht.“
„Dann lauf.“
Sie warf noch einmal einen Blick zurück in die Gassen der Stadt, in der sie viele Jahre gelebt und gearbeitet hatte, dann aber drehte sie sich entschlossen um, und die Gruppe der Piraten lief das letzte Stück zu ihren Pferden zurück.
Schweigend ritten sie zur Küste. Henry wandte immer wieder den Kopf, doch niemand folgte ihnen.
Charlotte aber schaute nur noch nach vorne. Das, was hinter ihr lag, war abgeschlossen. Als sie die Klippen hinabkletterte, verspürte sie ein starkes Gefühl der Freude. Freude auf das neue Leben in einer neuen Heimat.
Sie hatte ihre Eltern geliebt und eine schöne Kindheit in England verlebt. Aber irgendwie war sie immer eine Fremde in diesem Land geblieben. Denn woher sie wirklich kam, das wusste sie nicht. Auch ihre Eltern nicht. Nur, dass sie in einer kalten Herbstnacht in die Obhut der Kirche überantwortet worden war. Charlotte hatte sich nie wirklich gefragt, wer sie dort abgelegt hatte. Man hatte sie nicht gewollt, warum sollte sie viele Gedanken an ihre leibliche Mutter verschwenden?
In diesem Land, auf diesem Kontinent hielt sie nichts mehr.
Aber im Westen, weit hinter dem Horizont, wartete eine neue Welt auf sie.
Eine neue Welt, welche Charlotte zu ihrer Heimat machen würde. Eine Heimat mit ihrem Geliebten, von dem sie wusste, dass er für immer so treu zu ihr stehen würde, wie dieser alte Hund, der zu ihren Füßen kauerte und sie auch nach fast zwei Jahren der Abwesenheit nicht vergessen hatte.
Freudestrahlend sprang Charlotte in das Boot hinein. Sie konnte es kaum erwarten, dass die große Fahrt endlich startete. Den Traum von einer eigenen Taverne hatte sie nicht aufgegeben, ihn in den letzten beiden Jahren nur nach hinten geschoben. Doch nun hatte sie genügend Geld.
Charlotte von Gent war glücklich. „Lasst uns aufbrechen!“
ENDE
zu Teil 3