Das Porträt

DAS PORTRÄT

Painter Man, Painter Man –
Who would be a Painter
Man?
Kenny Pickett/Eddie Phillips, 1966

Nachdem ich tagelang frustriert (und dementsprechend schlecht gelaunt) war, weil ich eingangs mit Jennys Porträt nicht recht vorankam, stand ich kurz davor, die ganze Sache abzublasen.
Ohnehin war es eine Schnapsidee gewesen, ein Bild für sie (bzw. ein Porträt von ihr) zu malen, denn ich bin kein bildender Künstler und schon gar kein erfahrener Maler, wenn ich auch die Malerei hin und wieder als Freizeitvergnügen betreibe: ein harmloses, von keinem persönlichen oder handwerklichen Ehrgeiz getriebenes Hobby. Ich meine, nicht ohne Talent zu sein – und ich hege durchaus künstlerische Ambitionen –, aber für wirklich gut oder gar ausstellungsreif halte ich mich nicht. Warum ich Jenny überhaupt malen wollte, ob es einen bestimmten Anlass dafür gegeben oder sie mich – warum auch immer – darum gebeten hat, vermag ich nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Auch kann ich mich nicht daran erinnern, den Zwang verspürt zu haben, die Erinnerung an sie festzuhalten oder etwas zum Gedenken an diese meine Göttin zu schaffen, denn schließlich lebten wir im Großen und Ganzen glücklich zusammen und es gab keinen Grund anzunehmen, dass dies nicht so bleiben würde. (Gelegentliche Wölkchen am Himmel sind kein Beweis für die Abwesenheit der Sonne.)
Ich vermute, derlei Dinge überkommen einen einfach, ohne Grund und Plan, wie wenn man ganz plötzlich Lust auf ein bestimmtes Getränk oder eine Speise verspürt und dem Verlangen nachgibt, ohne sich eingehender Rechenschaft darüber abzulegen. Im Rückblick erscheint es mir am wahrscheinlichsten, dass mich, wie häufig zuvor in meinem Leben, aus heiterem Himmel eine so romantische wie vage Sentimentalität, eine Art Verzauberung überfallen hat, obwohl ich Jenny in diesem Zustand für gewöhnlich eher fotografiere denn zeichne, oder ihr Prosatexte und – oftmals sogar vertonte – Gedichte widme, deren romantisch-erotisches Subjekt überwiegend sie ist.
Sie gab sich verhalten begeistert.
- Du willst mich malen? Ein richtiges Porträt? Tatsächlich? Das hast du doch noch nie gemacht! Geht’s dir, äh, nicht gut?
Wie – nackt? Ach wirklich? Also nicht sowas wie…die Mona Lisa? Da bin ich ja mal gespannt!
- Ich weiß auch noch nicht so recht, wie’s werden wird. Aber so ein reines Oberkörper- oder Gesichtsporträt – ein gemaltes Passfoto! – schwebt mir nicht vor, das würde ich auch nicht gut hinkriegen, denke ich, schon wegen der Gesichtszüge und der Proportionen, das hab ich nicht so drauf. Ein liegender Akt würde mir aber gefallen, à la Nackte Maja, oder etwas in der Art, wie Modigliani gemalt hat. Auf den stehe ich sowieso, weißt du. Nein? Na ja, ist auch egal. Der hat einige Akte gemalt – machen sie ja alle, hehe –, da könnte ich auch ein bisschen von abgucken, so als Grundlage. Dieser hier zum Beispiel hat mal auf einer Auktion an die 170 Millionen gebracht! Wie? Nein, Dollar, glaube ich. Irgend so ein neureicher Chinese. Verrückt, nicht?
- Zeig mal. Ja, das ist hübsch. Aber warte mal: Heißt das auch, dass ich dir Modell…also eventuell stundenlang nackt herumliegen muss?
- Na ja…

Jennys Geburtsname lautet Jeanne; sie ist jedoch keine Französin: Der Name war ein reichlich eigennütziges Geschenk ihrer frankophilen Eltern – die Mutter nennt eine bibliophile Gesamtausgabe der Werke Simone de Beauvoirs im Original ihr eigen; der sportbegeisterte Vater verehrt Jacques Anquetil und Bernard Hinault, quetscht seinen Körper in hautenge Trikotagen und macht noch mit fünfundsiebzig ausgedehnte Radtouren –, die sich, seit sie wussten, dass sie eine Tochter bekommen würden, über den zukünftigen Namen selbiger Tochter in den Haaren lagen (Simone oder Solange auf der einen und Jacqueline oder Jeanette auf der anderen Seite) und sich erst in buchstäblich letzter Sekunde auf einen Kompromiss einigen konnten. Jenny erzählte mir kichernd – wobei ihr das Kunststück gelang, gleichzeitig verächtlich zu schnauben –, dass beide rasch ihren Frieden mit dem Namen Jeanne gemacht haben: die Vorstellung, dass man ihre Tochter mit einer französischen Heiligen respektive Märtyrerin in Verbindung bringen würde, war zu verführerisch. Ich gebe zu, mit dem Gedanken gespielt zu haben, sie als eine Art Jeanne d’Arc zu porträtieren – ich hielt dies für witzig –, gab diesen Einfall jedoch rasch wieder auf – er wäre mir auch nicht gut bekommen, vermute ich! –, denn Jenny hat mit ihrer Namensvetterin (oder sonst irgendeiner Heiligen) wenig bis nichts gemein (sieht man einmal von einer gewissen, allerdings nicht religiös-ideologisch bedingten Sturheit ab).

Begonnen habe ich das Projekt Liegender Akt an einem 30. Mai – der Gedenktag jener Heiligen Johanna; das konnte ich mir nun doch nicht verkneifen, auch wenn ich die Bedeutung jenes Tages wohlweislich für mich behielt – mit einer Reihe Bleistiftskizzen, hauptsächlich um eine Vorstellung von dem späteren Gemälde zu bekommen (die Skizzen wollte ich gegebenenfalls als Blaupause für die weiteren Schritte benutzen), das ein Aquarell werden sollte, wohl wissend, dass meine bisherigen Versuche in dieser Richtung noch nie ein rundum vorzeigbares Resultat hervorgebracht hatten. Meist fiel ich von einem Extrem ins andere: Entweder produzierte ich weitgehend konturlose Farbkleckse, denen es auch nicht half, dass ich Jackson Pollock für mein Vorbild ausgab, oder die Farben gerieten mir derart aufdringlich, dass das Resultat an ein kunterbuntes Graffiti in einer grell beleuchteten Fußgängerunterführung gemahnte, welches ein übellauniger, betrunkener Jugendlicher mit den Restbeständen diverser Sprühdosen hinterlassen hatte. Ich bekam die richtige Mischung aus Wasser und Farben einfach nie hin; so auch dieses Mal.
Danach habe ich es mit Kohlestiften versucht – Tusche kam von vorneherein nicht in Frage: scharfe Korrekturen wären dabei unmöglich und das Resultat höchstwahrscheinlich ein Geschmiere, das höchstens einen Psychiater begeistern dürfte –, aber das geriet mir vollends zum Fiasko: Ich hatte zwar die Technik, Konturen mittels Radiergummi oder Fingerspitzen herauszuarbeiten oder zu verwischen, an Hand von Tutorials im Internet studiert; was ich schlussendlich jedoch aufs Papier brachte, glich eher einer vollgefressenen Riesenschlange, denn einem menschlichen Körper. Also kehrte ich wieder zur Bleistiftzeichnung zurück; schließlich konnte ich schon seit der Schule recht passabel zeichnen und kam obendrein gut zurecht mit den verschiedenen Härtegraden der Bleistifte (die sich überdies in jeder Hinsicht leichter handhaben ließen als die Kohlestifte).
Die Brüste wie der restliche Körper sind mir ganz gut gelungen, meine ich – ah, besonders die Brüste! –, aber das Gesicht sah Jenny nur entfernt ähnlich, und mit schwarz-grauen Tönen ließ sich ihr kupferfarben gefärbtes Haar – eines ihrer hervorstechenden Erkennungs- bzw. Markenzeichen, auf das selbst ein Kindergartenkind, sollte es Jenny zufällig porträtieren, nicht verzichtet hätte – natürlich nicht darstellen. Jenny schlug vor, die Zeichnung mit Wachsfarben oder Farbstiften zu ergänzen, was das Haarproblem zwar lösen, mich jedoch noch weiter von dem grundsätzlich realistischen Porträt meiner Göttin entfernen würde, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte. (Das Erste Gebot kümmerte mich so wenig wie – augenscheinlich – den überwiegenden Rest der Christenheit; und ich bin, im Unterschied zu denen, nicht einmal religiös.) Meine Geduld schwand rapide, und meine Laune verschlechterte sich von Tag zu Tag. Ich fluchte in einem fort und präsentierte mich meiner Umwelt in einem Moment so unwirsch wie einsilbig im nächsten. Dass ich dabei die physische Gegenwart Jennys, den persönlichen Umgang mit ihr, täglich mehr und mehr durch ein Fantasiegebilde, durch ihre imaginäre respektive visionäre Präsenz auf dem DIN1-Zeichenblock ersetzte, kam mir gar nicht zu Bewusstsein, zumal ich der Ansicht war, ihr wie ihrem Körper wahrlich ausreichend Aufmerksamkeit zu zollen, gerade unter den gegebenen Umständen; eine Ansicht, welche sie augenscheinlich nicht teilte.
- Hallo! Hier bin ich! Wie wär’s mal mit einer Pause? Leg mal für eine Weile den Bleistift weg und beschäftige dich mit diesen Formen hier…

Ich weiß nicht mehr, wie viele Entwürfe ich angefertigt habe (es müssen Dutzende unterschiedlichster Art gewesen sein), bis das Resultat nach etwas aussah, auf dem sich aufbauen, mit dem sich weiterarbeiten ließ. Bei der oben erwähnten Bleistiftzeichnung hatte ich mich an einem von Modiglianis Liegenden Akten orientiert – jenes Millionen-Gemälde, auf dem sich die Frau auf einem blauen Kissen räkelt –, und ich war beinahe versucht, es dabei zu belassen und gänzlich auf Farbe zu verzichten, als Jenny das Bild toll und richtig süß fand, wenn auch –
- Na ja, das Gesicht…Aber sag mal: Sind meine Titten und mein Becken tatsächlich so groß und meine Füße so klein? Na, die Zehen sehen dafür viel hübscher aus als meine eigenen; die kann ich nicht leiden, wie du weißt, so krumm wie die sind.
- Da siehst du es: Die Kunst bedeutet Fantasie und Realität zugleich, dient der Erbauung, der Freude wie der Zerstreuung, und außerdem ist sie wahrhaftig…Na ja, solange sie nicht in irgendeiner Wir-machen-die-Welt-ein-Stück-besser-Werbung auftaucht, in vor Gesundheit und Umweltbewusstsein strotzenden Kulissen zwischen niedlichen Kätzchen und deren Lieblingsnahrung, unbeschwert herumtollenden Kindern mit Kinderschokolade-Mündern und lächelnden, gutsituierten, glücklichen Eltern und Großeltern! belehrte ich sie augenzwinkernd.
- Aber mein Busch ist alles andere als wahrhaftig! Auf diesem Bild da ist er voll, ein richtiges Dreieck, und ich hab da ja nur diesen Mittelstreifen, und du hast gesagt, dass du den magst und…
- Das kann ich ja noch retuschieren…das Gesicht stimmt irgendwie auch noch nicht recht.

Mit dem Gesicht hatte ich nach wie vor Schwierigkeiten. (Neben vielem anderen – wie zum Beispiel die Beherrschung von Licht und Schatten – ist es wohl die Fähigkeit, Gesichtern die korrekten Konturen und Ausdrücke zu verleihen, die den richtigen Maler ausmachen.) Je kleiner ich jedoch das Bildformat wählte, so dachte ich mir, desto weniger würde dies schlussendlich ins Gewicht fallen; DIN 2 (oder kleiner) schien mir für meine Zwecke angemessen. Die Feinheiten, die individuellen Züge eines Gesichts (bzw. das Fehlen derselben) verlieren mit der abnehmenden Größe, mit der Entfernung (optisch gesehen) ihre Bedeutung, wie jeder, der schon einmal Fotografien von bekannten bzw. vertrauten Personen betrachtet hat, die aus einiger Ferne aufgenommen wurden, bestätigen wird: Obwohl man die Gesichtszüge nicht scharf erkennen kann, weiß man natürlich, wer die Person auf dem Foto ist – man erkennt sie zum Beispiel an Details wie Ausstrahlung, Körperhaltung und Kleidung –, so wie auch Jenny natürlich und zweifelsfrei weiß bzw. erkennt, dass die Frau auf dem Gemälde sie, Jenny, darstellen soll, bekleidet oder nicht. Im Übrigen nahm es der von mir bewunderte Modigliani auch nicht so genau damit – er war kein dogmatischer Verfechter der Realität in der Kunst –, die Proportionen seiner Modelle naturgetreu auf die Leinwand zu übertragen.

Und dann, kurz bevor ich die ganze Angelegenheit endgültig über bekam, hatte ich den Einfall; ein regelrechter Geistesblitz, wie mir schien: Ich würde in Öl malen, auf Leinwand, ein richtiges Ölgemälde, mit allem Drum und Dran! Der Gedanke kam mir ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Er war einfach da – genauso wie die Idee für die ganze Malaktion, die nackte Jenny, Goya, Modigliani plötzlich da gewesen waren. (Ich hatte, trotz meiner Studien der einschlägigen Maler, bislang nicht ein einziges Mal an Ölfarben gedacht.) Kaum hatte sich die Idee in meinen Eingeweiden breitgemacht – stets habe ich den Eindruck, dass meine besten, unverhofftesten Einfälle dort und nirgendwo anders ihren Ursprung haben –, überschwappte mich ein Woge ungezügelter, überwältigender Begeisterung. Es galt keine Zeit mehr zu verschwenden! Also machte ich mich stehenden Fußes auf zu einem Laden für Hobbybedarf, von dem ich, obwohl ich ihn noch nie besucht hatte, annahm, dass er mich mit der nötigen Ausrüstung versehen würde. Ich versuchte erst gar nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich vom Fach war und genau wusste, was ich wollte; schließlich war ich auf wohlwollende Hilfe sowie kompetente, umfassende Beratung angewiesen.
Zwei Stunden später kehrte ich mit einem so erlesenen wie umfangreichen Starterset im Kofferraum zurück (nebst einem überzogenen Bankkonto): Eine höhenverstellbare Staffelei, mehrere Farbpaletten sowie Leinwände (in der Größe von 40 mal 60 Zentimeter), Dutzende von Pinseln verschiedenster Stärken und Größen sowie fünf (eindrucksvoll verzierte) Holzkistchen gefüllt mit je 24 Farben in 24 Tuben zu je 12 ml. Abgerundet wurde der Einkauf durch einen schmalen, jedoch übersichtlich und verständlich geschriebenen Ratgeber: Öl malen leicht gemacht10 Lektionen für Anfänger und Fortgeschrittene. Jenny gab mir zu verstehen, dass sie mich für rastlos bzw. unstet, für obsessiv-verrückt oder für manisch-exzentrisch hält, oder für alles zusammen (was bei genauerer Überlegung den meisten Sinn ergäbe, wie sie achselzuckend zusammenfasste).

Und hier stehe ich nun, Kopf-, Hand-, Schulter-, Knie- und Rückenschmerzen tapfer ertragend, vor der Staffelei und beackere die x-te Leinwand – ich benötige baldmöglichst Nachschub, dito Farben und Pinsel –; eine rechte Plackerei (obwohl ich natürlich schon eine gewisse Übung habe und ein paar kürzlich fertiggestellte Gemälde sich durchaus sehen lassen können). Nicht nur, dass ich für jedes neue Gemälde auch eine Vorlage mit Bleistift erstellen muss – manchmal nahmen diese skizzenhaften Vorlagen mehr Zeit in Anspruch, als die finale Arbeit mit den Ölfarben! –: mein Ehrgeiz lässt es auch nicht zu, mich dabei mit groben Umrissen und Proportionen und lediglich angedeuteten Gesichtszügen zu begnügen. Derartiges kam (und kommt) nicht mehr infrage: alles hatte (und hat) schon in der Entstehung so perfekt und ausdrucksstark wie möglich zu sein, zumal ich für das erste Gemälde (bzw. die erste Skizze) auf jene Bleistiftzeichnung zurückgreifen konnte, die sogar Gnade vor den Augen meiner Göttin gefunden hatte (und sicherlich als eigenständiges, reifes Werk durchgegangen wäre). Anstatt diese jedoch nun zurückzubehalten, behutsam zu verwahren – als Vorlage für die Vorlage zu verwenden, sie also einfach irgendwie zu kopieren, abzupausen, abzufotografieren, was auch immer –, benutzte ich sie, völlig unnötig und bar jeder Überlegung, als realen Untergrund für das erste fertiggestellte, jedoch am Ende nach allen Regeln der Kunst misslungene Porträt! Andererseits – warum sollte ich mich Groll und Selbsthader ergeben? Auch die Meister sind nicht vom Himmel gefallen.

Ich benötigte noch drei weitere Versuche, bis ich auf den Leinwänden fünf und sechs ein Resultat erzielte, das mir vorzeigbar erschien und auch Jenny gefiel (wenigstens das erste Porträt; das zweite, auf dem ich ihr längere Beine, birnenförmige Brüste, schwarze Haare und ein längliches Gesicht verschaffte, bedachte sie mit hochgezogenen Brauen, erwähnte es jedoch mit keinem Wort). Der Anfang war gemacht, der Weg lag nunmehr deutlicher vor mir, die Vollkommenheit sichtbar am Horizont! (Wenn ich es recht bedenke – und nachdem ich mich so entschlossen wie hartnäckig in die Ölmalerei eingearbeitet hatte –, so habe ich mir die Sache alles in allem doch schwerer vorgestellt. Letzten Endes dreht es sich lediglich darum, über ein ansprechendes Modell zu verfügen, sowie die Farben – fett auf mager! lautet die Zauberformel – richtig zu mischen und aufzutragen. Es ist manchmal frustrierend, zugegeben; kompliziert, aufwändig und zeitraubend, einverstanden. So wie ich es sehe, genügt es, wenigstens für den Anfang, nicht nachzulassen, nicht aufzugeben; der Rest folgt dann von alleine: Es gilt, nur eben irgendwie am Ball zu bleiben, auch – man verzeihe mir diese zugegeben leicht schiefe Metapher – wenn dieser hin und wieder in der gegnerischen Hälfte oder gar außerhalb des Spielfelds liegen mag, worauf allerdings ein wenig Hilfe von außen nötig sein mag).
Danach zog ich los, um weitere Leinwände zu besorgen, was den Händler meiner Wahl in kurzfristige Verlegenheit brachte, da er die von mir verlangten Mengen nicht vorrätig hatte, diese also erst geliefert werden mussten, was einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Er entschuldigte sich damit, dass er nur noch einen weiteren Kunden habe, der mit echter Leinwand arbeitet, was wiederum Jenny, als ich ihr von meinem fehlgeschlagenen Einkauf berichtete (dabei grummelnd, dass ich mich regelrecht ausgebremst fühle, wo ich gerade so in Schwung war), darin bestärkte, mich für ein einzigartig exzentrisches Exemplar und ganz sicher für mindestens ein bisschen verrückt zu halten.
- Hast ja gesehen: Sogar ein wildfremder Verkäufer hat dir die Bestätigung dafür geliefert (mir nicht, ich wusste es schon immer, hehe), dass du nicht ganz normal bist…äh, jedenfalls nicht wie andere Leute! Ich weiß wirklich nicht, warum du immer weiter und weiter und weiter malst! Mir gefällt das Bild doch! Danke, danke, tausendmal danke dafür! Schau, ich häng es hierhin, gleich über die Couch, wo jeder es sofort sieht und bewundern kann. Ich meine: wahrhaftig in Öl! Das ist schon was! Ich bin stolz auf dich, fühl mich geehrt, bin gerührt, lieb hab ich dich auch…Was willst du denn noch?
- Ars longa, vita brevis! schleuderte ich ihr ein wenig pikiert entgegen.
- Was?
- Ist Latein; musst schon selber nachschlagen! beschied ich ihr in geziert ärgerlichem Tonfall und bemühte mich dabei um den entsprechenden Gesichtsausdruck, sie also kaum im Zweifel über meine Gefühle lassend…wenn ich auch, zugegeben, unser Geplänkel nicht ganz ernst nahm. Schließlich hatte ich nicht nur nichts gegen sie, im Gegenteil: Ich hatte sie ja lieb, aber Liebe ist Liebe und Kunst nun mal Kunst, auch wenn Picasso anderer Meinung war und zwischen beidem keinen Unterschied machte.
- Schon gut – du mich auch! gab sie ungerührt zurück.
- Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? gab ich, wie ich glaube, nicht völlig unfreundlich zurück.
- Ja – nein! Wie lange willst du das Wohnzimmer eigentlich noch als dein Atelier belegen, ja regelrecht verschandeln? Man kann nirgends mehr gehen, stehen, sitzen, ohne über diese Malsachen zu stolpern! Überall riecht es nach Terpentin, ständig atmet man dieses Ölzeugs ein und…Ach ja, und die Farbflecken mach ich nicht weg!

Manchmal werde ich nicht recht schlau aus ihr, meist wenn sie sich derart schnippisch und angriffslustig gibt, was eigentlich nicht ihrem Charakter entspricht – sie ist zwar durchaus unkonventionell, spottlustig, unerschrocken und bestimmt, ansonsten jedoch eher der ausgleichende, tolerante, versöhnliche Typ –, und dann frage ich mich einen Moment lang, ob es mein Verhalten und meine Persönlichkeit sind – es also an mir liegt –, die diese Auswüchse bei ihr hervorrufen. Immerhin bin ich bereit zuzugeben, dass dies eine glaubwürdige Möglichkeit ist, und ich sie überwiegend dann…nun ja, verändert finde, wenn sich meine Gedanken…sozusagen in einem Orbit um einen speziellen Ort befinden, den, wie sie behauptet, letztlich nur ich allein aufzusuchen weiß, zu dem sie keinen Zugang hat – und verfügte sie über einen solchen, würde sie ihn vermutlich nicht nutzen –, dessen Umrisse sich ihr, wenn überhaupt, nur aus großer Entfernung offenbaren, verschwommen und, so vermute ich, sogar ein wenig unheimlich – sie sagt, dass sie mich gar nicht mehr wirklich kenne, wenn ich dort oben herumdrifte –, von dem aus wiederum sie aus meiner Sicht lediglich als entfernter Fixstern auszumachen ist. Schön anzusehen, gewiss, aber eben fern, und ihre Schönheit ist nur ein kleiner, im Grunde genommen höchst unbedeutender Teil der unendlichen Schönheit, die sie umgibt und – der Stern verfügt nämlich über keine eigene Lichtquelle – erst so recht leuchten lässt, ganz wie die Kunst das Leben. Aber dies erkennt eben nur unsereins in seiner vollen Bedeutung, möchte ich behaupten.

Während ich auf die Lieferung wartete (und Jenny und ich derweil nur noch das Nötigste zur Aufrechterhaltung unseres Haushalts miteinander redeten, ungehalten wie sie mit mir war), beschäftigte sich mein gereizter, unterbeschäftigter Verstand mit dem Problem der Entsorgung der benutzten bzw. nicht mehr zu gebrauchenden Leinwände: Gehören die zum Papierabfall, in den Hausmüll oder gar zum Sperrmüll, und war der Holzrahmen vom Rest zu trennen? Sind leere Farbtuben recycelbar oder gehören sie gesondert auf den Wertstoffhof, wo sie, zusammen mit leeren Farbeimern, Ölkanistern und dergleichen, gebührenpflichtig einer Spezialbehandlung harren?
Inmitten dieser und ähnlicher Überlegungen muss Jenny beschlossen haben, mir nicht mehr Modell zu stehen bzw. zu liegen, denn als die neuen Leinwände geliefert waren und ich meine Arbeit wieder aufnahm, weigerte sie sich schlichtweg, sich noch länger für mich in Positur zu stellen – zu legen, wenn dir das lieber ist! –, zumal ich ja längst, so konstatierte sie ein wenig anzüglich, wie mir schien, über diverse Vorlagen verfüge, die ich an ihrer statt verwenden könne. Sie habe ihre Freundespflicht erfüllt und für sie springe da nichts Besonderes mehr bei heraus…und was im Übrigen aus den Fotos geworden sei, die ich eingangs von ihr gemacht, auf denen sie sich extra für meine Zwecke auf einem blauen Kissen ausgestreckt hatte. Ich versuchte ihr klarzumachen – und dabei erhitzte ich mich immer mehr –, dass, was den künstlerischen, die Fantasie anregenden Eindruck betrifft, eine Fotografie natürlich nicht dasselbe sei – nicht sein könne! – wie das wahre, nackte, fleischliche Leben, aber das wollte sie partout nicht einsehen.
- Es ist doch nur ein…Bild! versuchte sie mich zu beruhigen, indem sie ihrer Stimme einen versöhnlichen, wenn auch eindringlichen Klang gab und mich sanft am Handgelenk fasste. Doch ihr Versuch lief ins Leere, denn der wahre Künstler lässt sich nicht korrumpieren, so wenig wie ein Außenstehender erfolgreich mit ihm räsonieren kann.

In der Folge wollte ich ihr wenigstens entlocken, ob sie es in Erwägung ziehen könnte, mir wieder Modell zu stehen, sollte ich nicht vorankommen oder nicht mehr weiter wissen (wohl wissend, dass sie einmal getroffene Entschlüsse nur höchst selten und nur unter besonderen Umständen, zum Beispiel einem Notfall, wieder umstieß; etwas, das ich ansonsten an ihr schätzte). Aber sie gab keinen Millimeter nach. Ich solle eines der Fotos verwenden, beschied sie mir lakonisch, oder die früheren Skizzen und Gemälde oder meine Erinnerungen an ihren Körper (respektive meine Fantasie) anzapfen – wenn ich solche überhaupt noch habe! –, den ich schließlich schon Hunderte Male gesehen und berührt habe und demzufolge eigentlich aus dem Gedächtnis zeichnen können sollte. Und überhaupt habe sie es satt, sich wie ein Stillleben vorzukommen und benutzt zu werden – sie kenne sehr wohl die Definition eines Stilllebens; sie habe nachgeschlagen! –, und wenn sie es recht bedenke, so könnte mir auch ein x-beliebiger Körper als Vorlage dienen – wovon sie mir jedoch eindringlich abraten müsse! –, weil ich mich ohnehin nicht an die Realität gebunden fühle, künstlerische Freiheit hin oder her. (Ich fand wiederum, dass ich sie durchaus angemessen porträtiert hatte; sie sah einfach wunderschön aus, das Ergebnis meiner Leidenschaft und Zuneigung, und ich nahm mir fest vor, sie auf den nächsten Bildern noch leidenschaftlicher, noch schöner als zuvor zu malen, Realität hin oder her.) Jawohl, sie gebe zu, dass das erste Porträt gelungen war, es gefiel ihr wirklich und sie fühle sich geschmeichelt und sie werde es wie versprochen aufhängen, aber nun sollte es gut sein. Wenn ich ihr weiterhin…nun, Gutes tun wolle – womit sie keinesfalls sage, dass aus meine künstlerischen Bemühungen nichts…nun, Gutes entspringe, das müsse ich ihr glauben, so gut sollte ich sie kennen! –, so solle ich mich um die lebendige, atmende, sich langweilende und ausgeschlossen fühlende Jenny kümmern und wieder, äh, normal mit ihr leben – nachdem ich die Farbflecken auf dem Teppichboden beseitigt und das Wohnzimmer von all dem Krempel, der dort nicht hingehört, befreit habe.

Die arme Jenny! Sie versteht einfach nichts vom eigentlichen, wahren Wesen der Kunst, aber noch weniger versteht sie vom Wesen, von der Seele des Künstlers (auch wenn sie mir zugesteht, dass hinter meiner Verrücktheit eine gewisse Methode zu stecken scheint; auf welche genau, will sie sich allerdings nicht festlegen). Gewiss, sie mag sich einbilden, den Liebhaber, den Mann und Menschen zu kennen und zu verstehen, wie er tickt, aber die Gedanken und Empfindungen, die ihn an die Staffelei treiben und dort festhalten, die kennt sie bestenfalls oberflächlich, und was sich von jenen Gedanken und Empfindungen für sie offenbaren mag – nun, zugegeben: wie sollte sie diese auch verstehen? Wir reden selten darüber; ich rede selten darüber, und wenn ich es denn tue, so benutze ich Analogien und Metaphern, die jedem – um bei der oben eingeführten Metapher zu bleiben –, der sich außerhalb meines Orbits befindet, auch auf den zweiten Blick egozentrisch, selbsterklärend, unverständlich, wenn nicht belanglos erscheinen müssen. Dies will ich ihr auch zugestehen (und ebenso zugutehalten); es ist ja nicht so, dass ich ihre Gedanken überhaupt nicht nachvollziehen kann. Ich für meinen Teil bemühe mich nämlich aufrichtig, sie zu verstehen, was mir, zugegeben, oftmals nicht leicht fällt, denn wenn man sich selber unverstanden fühlt (was ich hin und wieder tue), so fällt es unvergleichlich schwerer, den anderen zu verstehen, als wenn man von vorneherein auf einer ähnlichen Wellenlänge funkt, im selben Orbit um dasselbe Objekt kreist, was mir letzten Endes die entscheidende Voraussetzung zu sein scheint, um sich jederzeit ohne Schwierigkeiten, Missverständnisse, Vorbehalte und Ängste austauschen und verstehen zu können. Zu schade, meine ich – und ich schließe mich dabei keinesfalls aus! –, dass die Menschen dies nur in Ausnahmefällen hinbekommen. Vielleicht wollen sie es auch gar nicht – wer kann das schon sagen?
Andererseits verstehe ich nicht recht, worüber sich gerade Jenny beschweren sollte: Am Ende des Tages, wenn meine Arbeit weiterhin Früchte trägt, darf sie mehrere Gemälde respektive Porträts von sich selbst zu ihren persönlichen Schätzen zählen (die sich sogar als eine Rücklage fürs Alter herausstellen mögen, ist doch der Kunstmarkt so sehr ein Casino wie ein Geschäft). All dies ist schließlich eine einmalige Sache – ich meine: wer hat heutzutage schon noch einen richtigen Maler im Hause? –, das Ergebnis harter, zäher Arbeit, ein besonderer Gunstbeweis, wie ich meine, exklusiv hergestellt von ihrem Geliebten und Lebensgefährten…und nicht zu vergessen: in wahrhaftigen Ölfarben!
Und wer weiß: Vielleicht wird es ihr doch noch einmal aufgehen, dass für unsereins das Leben ein Roman (eine Novelle), die Liebe ein Gedicht (ein Lied) und die Geliebte ein Gemälde ist.

2023










 



 
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