Das Prinzip der Auslese

GerRey

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Draußen saß irgendwo in den Bäumen in der Nähe ein Kuckuck und rief beständig.
Ich hörte ihn durch das geschlossene Fenster und erfreute mich daran, während ich am Schreibtisch saß und darüber nachdachte, dass ich ja den Urlaub auch gerne im Haus verbrachte, nachdem der Mai sich nicht zur Sonne begeben wollte und im grauen Aprilwetter verharrte. Auch die Renovierungsarbeiten in der Küche gelangen mir alleine bisher recht gut. Nur war es mühselig, erst den richtigen Dreh zu finden.
Das Tapezieren einer Decke (das wollte ich ja, wegen des Tapetenmusters, das mir so gut gefiel). Ich hatte gedacht, die Vliestapete legt man in das Kleisterbett, das man zuvor an der Wand aufgebracht hat, zieht die Tapete zurecht und streicht und rollt sie fest. So die Theorie. Aber die Praxis? An der Decke? Ich hätte eine 5 Meter Bahn gebraucht. Wie sollte ich diese alleine an die Decke kleben? … Eine Herausforderung! Ging natürlich nicht. Die 5 Meter blieben nicht haften, auch keine drei und keine zwei Meter … Und bevor noch irgend etwas an der Decke klebte, war eine Rolle auch schon beim Teufel. Ich musste stückeln. Und dann war es auch noch nicht einfach. Aber das Ergebnis wurde weit besser, als das, was vorher dort war. Jedoch brauchte ich 10 Stunden dafür. 10 Stunden, in denen ich nicht einmal Zeit zum Essen fand. Nach den 10 Stunden bestellte ich mir eine 40 cm Pizza Diavolo, meine Lieblingspizza, und verschlang sie auf einmal. Die Nacht verbrachte ich dann teilweise auf der Toilette oder unter sehr starken Schienbein- und Oberschenkel-Muskelkrämpfen. (ich hatte während der Arbeit an dem Plafond natürlich die Leiter rauf und runter gemusst, und mich auch oben noch umgedreht, um besser arbeiten zu können).
Tags darauf machte ich mich an die Wand, wo die neue Eckbank hinkommen sollte - ging auch gut, mit den üblichen Komplikationen: Ich stand auf der Leiter, wollte was machen, und hatte oft nicht das gebräuchliche Werkzeug in der Hand, das ich mir erst holen musste … mühselig!
Am 18. Mai bekam ich dann um sieben Uhr früh meine Corona-Impfung (hatte anfänglich keine Nebenerscheinungen, nur schmerzte anderntags die Einstichstelle ein wenig). Den Rest des Tages machte ich blau, nachdem ich kurz im Baumarkt war.
Den Tag darauf wollte ich es dann scharf angehen, den zweiten Teil der Fensterwand und hinter dem Kühlschrank tapezieren. Also zog ich den Kühlschrank hervor und sah … in der Ecke (beides Außenwände) etwa 30 cm hoch … schwarz. War das Schimmel?
Ich begann die Wände zu waschen, bekam auch einen guten Teil davon weg. Aber es blieb noch … schwarz!
Nach dem Impfen am Vortag war ich im Baumarkt gewesen, um mir noch einige Dinge zu holen (Kleister; Reservefarbe für die frisch gestrichenen Türstöcke in Enzianblau; und 2,5 l Wandfarbe Amarenarot, in der ich nach einer Planänderung die Hohlkehle der Küchenwände streichen wollte). Und im Vorbeigehen sah ich dort in einem Regal ein Mittel gegen Schimmel. Also "packte" ich mich zusammen, wie man bei uns sagt, und fuhr noch einmal zum Baumarkt.
Das Plastiksackerl (Tüte) hatte ja schon seit einiger Zeit stark an Mode verloren; also kaufte ich bei meinem Besuch nach dem Impfen an der Kasse des Baumarkts eine Jutetasche, mit der ich die Utensilien nach Hause brachte. Diese nahm ich nun mit. Steckte die Tragelaschen unter den Knopf der Brusttasche meiner Jeansjacke, knöpfte die Brusttasche zu, und ließ die leere Tragtasche daran lässig herab baumeln, um sie nicht in der Hand tragen zu müssen.
Auf dem Weg fiel mir ein, dass man mir vielleicht die Tasche, die ich erst am Tag davor gekauft hatte, noch einmal berechnen könnte. Die Rechnung lag sicher zu Hause bei den Sachen, die ich aus dem Baumarkt geholt hatte oder war gar schon von mir unbedacht weggeschmissen worden? Oder war sie noch in der Tasche? Ich warf einen Blick in die Jutetasche, die sich problemlos an der Brusttasche hielt. Tatsächlich! Ohne meinem bewussten oder vorsorglichen Zutun war der Kassenbon da. Ich musste also nicht - wie anfänglich befürchtet - mit den Baumarktleuten dort streiten!
Im Baumarkt fand ich recht rasch das Anti-Schimmel-Spray. Als ich zur Kasse ging, sah ich einige der Jutetaschen, die ich beim ersten Besuch an der Kasse gekauft hatte, schon am Gang vor dem Kassenbereich zum Kauf ausgelegt. Ich hatte also Glück, den Kassenbon dabei zu haben. Die Dame an der Kasse sprach mit ungarischem Akzent Deutsch und war sehr freundlich, nachdem ich ihr die Rechnung gezeigt hatte. Ich denke, sie war auch froh, wegen der Jutetasche keine Diskussionen mit mir haben zu müssen. Sie scannte die beiden Artikel, die ich kaufen wollte, und ich rundete den Preis um etwa 60 Cent auf. Gegenseitig wünschten wir uns einen schönen Tag, und ich ging ab, mit der Vorstellung, bei ihr einen angenehmen Eindruck hinterlassen zu haben.
Es war jedoch ein windiger Tag, unangenehm kühl, grau und bewölkt. Ich ging die Straße zurück zur U-Bahn Station, wo auch mein Bus seine End- bzw. Anfangsstation hatte. Da ich länger als eine halbe Stunde warten sollte, setzte ich mich auf die Bank unter der U-Bahnunterführung, wo die Bushaltestelle liegt. Ein anderer Bus würde jeden Moment abfahren, aber nur bis L., was ungefähr auf der Hälfte meiner Strecke und in einem Industriegebiet liegt. Sollte ich mit diesem Bus bis L. fahren? Dort wäre aber das Wetter auch nicht besser und die Wartezeit auf “meinen Bus”, der genau den Teil dieser Strecke entlang fuhr, würde ebenfalls nicht schneller vergehen. Allerdings zog es auf der Bank unter der U-Bahnunterführung ziemlich, und da ich diesbezüglich empfindsam bin, beschloss ich, ein wenig in der anschließend gelegenen Anlage einer Siedlung zu spazieren. In dieser Großwohnsiedlung der Gemeinde Wien brachte man 2424 Sozialwohnungen unter. Gebaut hatte man von 1973 - 1977. Zu Baubeginn ging ich noch in eine nahegelegene Volks- und Hauptschule.
Schon bald nach der Eröffnung der Siedlung hörte man auch sehr seltsame Dinge über die Menschen, die dort eingezogen waren. Da wurden angeblich Türstöcke herausgerissen und mitten in der Wohnung verbrannt, und in den Kellern sollten auch elfjährige Mädchen alte Männer sexuell "bedient" haben, wie mir selbst ein Mädchen in meinem Alter, mit langen schwarzen Haaren, auf der Rückbank eines Autos erzählt hatte, das mit seinen Eltern ebenfalls dort wohnte. Vielleicht waren das nur Gerüchte - aber sie prägten die öffentliche Meinung über Sozialbauten im Bezirk schon vor langer Zeit. Und vielleicht auch in der Stadt?
Unter blühenden Kastanienbäumen spazierte ich nun, nachdem ich die zugige Unterführung verlassen hatte, durch den weitläufigen Innenhof, der zu drei Seiten von den hohen Gebäudewänden umschlossen ist, die vor dem böigen kalten Wind recht guten Schutz boten. Einige Leute trieben sich da herum, meist mit Migrationshintergrund. Unter den Kastanienbäumen saß eine alte Frau auf einer von der Gemeinde aufgestellten Bank, mit einem prall gefüllten Einkaufs-Trolley neben sich und rauchte eine Zigarette. Sie beachtete mich kaum, als ich an ihr vorbeiging.
Am Ende des Weges stieß ich auf eine Empore, deren Stufen ich hinaufstieg, und stand bald, nachdem ich oben entlang geschlendert war, an der Rückseite der Gaststätte, in der einer meiner Vorgesetzten bei einer amerikanischen Computerfirma gerne trank, bis er sich schließlich zu Tode gesoffen hatte (die Firma lag damals gleich hinter der Siedlung). Es schien auch schon einiger Gastbetrieb dort zu sein. Ich hörte Stimmen-Geraune und ein helles Frauen-Lachen. Dennoch blieb ich noch eine Weile auf der Empore stehen, lehnte meine Unterarme gegen die Brüstung und blickte in den Innenhof hinunter, wie das vormittägliche Leben allmählich in seiner Art verging. Insgeheim dachte ich an die damalige Vorarbeiterin der Reinigungsdamen bei der Computerfirma, die auch hier eine Wohnung mit ihrem Mann und ihrem Sohn gehabt hatte. Oder vielleicht auch noch hatte? Sie stand gerne bei mir am Empfangspult, um zu plaudern, während ihre Arbeiterinnen ohnehin wussten und taten, was sie zu tun hatten. In der Erinnerung erscheint sie mir immer in Verbindung mit dem Siebdruck von Andy Warhol, den er von Marylin Monroe gemacht hatte. Sie sah so ähnlich aus; gelockt und platiniert, den Lippenstift dick, grellrot aufgetragen, ein Muttermal im Gesicht, üppige Rundungen, um die 50. Eines Tages holte sie mich vor meinem Rundgang, den ich immer zu Dienstbeginn machte, ab, um mir etwas im Keller zu zeigen. Sie führte mich zu einem Raum, öffnete die Tür, beugte mit offenen Beinen den Rumpf plötzlich vor mir, sodass ihre knappe Kittelschürze hinten in die Höhe rutschte und bot sich mir ohne Unterwäsche dar.
So einfach war das - vor gut 20 Jahren!
Von da an waren meine Rundgänge sorgfältiger geworden, was natürlich viel mehr Zeit beanspruchte, sodass ich oft “die Befehlsausgabe” bei meinem Vorgesetzten, dem Säufer, versäumte, der ohnehin kaum auf mich warten wollte. Ich mochte eben diese Art rudimentären Charme an Frauen mehr als den der eingebildeten Damen, die einen ohne Leidenschaft kaltherzig leiden ließen. Schließlich hatte diese Frau ein eindeutig spürbares Herz für mich. Hier war ich immer der Ritter in strahlender Rüstung, obwohl man mich womöglich längst aus dem Sattel gestoßen und geschunden hatte. Mich an ihren griffigen Hüften festhaltend, verlor ich alle Furcht. Der Tod blieb abgeschirmt hinter Milchglasscheiben. Jeder hat jemand, der ihn liebt. Trotzdem verschwand ich eines Tages und tauchte nie wieder auf.
In diesem kleinen Einkaufszentrum, das sich über einen Durchgang von der Empore aus erreichen lässt, gab es ein Asia-Restaurant, einen Imbiss, ein Cafe und ein Gasthaus. Bei dreien lagen Schanigärten vor den Türen, die schon recht gut besucht waren. Ich bekam direkt Lust, mich irgendwo dazu zu setzen, ein kühles Bier zu trinken, und unter dem Tisch mit irgendeiner der Frauen anzubandeln. Aber ich hatte daheim noch haufenweise Arbeit zu tun, und um meinen Bus zu bekommen, ging ich Richtung Apotheke, wo die Stufen runter zur Straße führen. Ein Mann in den 30ern kam mir entgegen. Er war feist; in seinen listigen Schweinsäuglein lauerte Konfrontation. Mit sich führte er eine deutsche Dogge, die er wohl kaum an der kurzen Leine halten würde können, wenn diese losging. Dennoch war es der Auftritt eines Imperators mit seinem Löwen. Sie schritten an mir vorüber, und während ich die Stufen hinunter stieg, hörte ich auch schon hinter mir das tiefe satte Gebell der Dogge und dazwischen das helle Kläffen eines Hündchens, das sich da wohl mit dem Riesenvieh anlegte ... David gegen Goliath, das ewige Spiel. Aber Goliath hatte diesmal keine wirklichen Schranken und keinen Beißkorb … Das Stärkere gewinnt eben das Prinzip der Auslese.
 



 
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