Das Prinzip Hoffnung

Es ist zwölf nach sechs am Dienstag, als Irinas kleine Hoffnung mal wieder sterben geht.
Sowieso eine befleckte Hoffnung, denkt sie sich dabei. Auf ein Stäbchen pinkeln und aufpassen, dass man beim Abzapfen mit dem gelben Strahl nicht versehentlich die Finger erwischt, wie ekelhaft eigentlich.
Dann Augen zu und hoffen, dass irgendwann die richtige Anzahl dieser blassen Striche auftaucht.
Auf den gefliesten Bodenquadraten sieht sie schon wieder Staubflocken fliegen und vereinzelt ein paar Haare, dabei hat sie doch gestern erst gewischt. Kräuselige Kalkränder rund um den Wasserhahn und die Fugen waren auch mal weiß gewesen.
Auf sowas kommt man wohl in seinem eigenen gekachelten Wartezimmer, während man ungeduldig auf den Nägeln kaut wie die Frauen in den gelackten Filmen in denen alles immer glänzt, die hat man bestimmt mal gesehen.
Der eine blaue Strich ist schließlich ziemlich verschwommen.
Irina findet, das alles hat nur wenig Modernes. Nichts von dieser pixelgenauen Entourage, die akkurat alles ordnen will mit immer neuen Aus- und Eindrücken.
‚Guter Hoffnung sein‘ hingegen, das klingt ziemlich altbacken.
Antiquiert wie der steife Stehkragen einer Rüschenbluse und riecht verbrämt nach Mottenkugel.
Sagt heute keiner mehr.
So hat man das früher mal geheißen, wo man die Dinge noch nicht so überdeutlich bei ihrem Namen genannt hat.

„Is nix“, sagt Irina zu dem Mann, als sie aus dem Bad wieder draußen ist und tut dabei möglichst erleichtert.
Der Mann meint, es wäre auch besser so.
„Versteh mich nicht falsch, Irina…“
(er nennt sie beim Namen)
„…aber du weißt ja, wie ich dazu stehe.
Ist jetzt wirklich nicht die Zeit, Kinder in die Welt zu setzen.
Du weißt ja… na, schau sie dir doch an, die Welt!
Das mit dem neuen Job ist doch auch keine sichere Bank, und das Letzte, was dieser Planet gebrauchen kann, ist noch ein Schreihals, der ihm die letzten grünen Haare vom Kopf frisst…“
(er grinst)
„So ist es doch, nicht wahr?“
Nicht wahr, Irina verstand das alles sehr gut.

„Oder willst du jetzt Vater-Mutter-Kind spielen, wo alles immer weiter auseinanderbricht da draußen?“ hätte der Mann sie auch gefragt, zynisch wie Blei, wenn sie ihm auch nur angedeutet hätte, wie schön eigentlich…
Jetzt, im neuen Jahr, mal was Fixes zum Drauffreuen, und bis nächstes Weihnachten dann…
Aber ist ja nix.
Ist nur der kreisrunde Abdruck von einem stehen gelassenen Glas auf dem Küchentisch, den Irina heute noch wegrubbeln muss. Hartnäckig ist der, aber wie.
Der Mann schaut ihr eine Weile wehleidig zu, wie sie scheuert und wischt.
„Sei nicht traurig, wir haben ja immer noch uns!“ (Zustimmung heischend)
Für einen Moment wenigstens ist der Mann jetzt ganz nah bei ihr. Den Arm hat er um sie gelegt und zupft ein paar dunkelgrüne Fussel von ihrem Pullover ab.
Aber sein Knautschgesicht mag sie nicht anschauen. Ist seltsam, grad eben.
Der Mann scheint nicht mal zu merken, wie sehr er sich mit seinem Verhalten selbst widerspricht. Als hätte er sie durch und durch durchschaut und tut aber so, als ob wirklich nix wäre.
„Du, wenn die Dori gleich raufkommt, das macht dir doch nichts aus, oder?“
Irina schüttelt den Kopf.
„Nein, i wo, das wird bestimmt lustig“, sagt sie. „Sie ist ja außerdem meine Freundin. Und ich hab dir ja gesagt…“
Aber Irina sagt es nicht.
„Alles gut!“ sagt sie.

„Und frohes Neues!“
Die Dori hat außer dem Neujahrsgruß ein Marzipanschwein mit hereingebracht, das ist so lächerlich rosafarben, dass Irina fast schon grinsen muss.
Rosafarben wie Doris Gesicht, ein bisschen zu rundlich vielleicht, überspannt mit dieser saftigen Haut, wie pralle Apfelblüten im Schnee; die Wangen getönt von der Kälte draußen und von den Stiegen herinnen, die man heraufsteigen muss in die Wohnung, und Rouge trägt sie wahrscheinlich auch.
„Für einen süßen Neuanfang“ steht auf dem angehängten Etikett am Mitbringsel, in krakeliger Dori-Schrift mit den ausladenden Buchstaben.
Irgendwas rührt Irina an an der Sache, aber das lässt sie sich natürlich nicht anmerken.
Keiner von den Dreien sieht sich als jemand, der was übrig hätte für kitschige, bauchige Marzipanschweinchen, welche in ihrem Cellophan-Gefängnis so lange in einer Zimmerecke ersticken, bis sie steinhart werden und in der Tonne landen.
„Ein kleiner Spaß!“ augenzwinkert Dori, den wird man sich in Zeiten wie diesen schon mal erlauben dürfen.
„Sind ja humorlose Zeiten“, wie der Mann findet, und er lacht zu laut als dass es glaubwürdig wäre.
„Es kann nur aufwärts gehen.
Es MUSS!“ beschließt Dori ebenso wenig glaubhaft, während sie die Schlinge an ihrer Jacke über den Garderobenknauf fummelt.

- Verrückte Zeiten -
- Harte Zeiten -
- Jetzt ist nicht die Zeit für -
Irina fragt sich schon auch, wann die Zeiten je gut genug waren für die Menschen, um mit froher Hoffnung nach vorne zu schauen. Strahlend, rund und einladend. Süß und weich wie Marzipan. (sachte verfrachtet sie Doris Mitbringsel auf dem streifenfrei gewischten Küchentisch)
Diese Zeiten waren wohl zu kurz, um von Irina erlebt zu werden, und den anderen geht es da nicht besser.

(sie schaut zu, wie die anderen rüber gehen ins Wohnzimmer)

Sicher, die Zeiten waren auch schon mal schlechter.
Dass sie sich überhaupt so einen Schwangerschaftstest mirnixdirnix kaufen kann, ist ja schon eigentlich ein Glücksfall und ein Wunder irgendwie. Und Ärzte in der Nähe, die sich im Bedarfsfall wahrscheinlich zuwenden.
Die meisten Menschen haben nicht mal das, auch sowieso kein Marzipan, schon klar.
Da fragt, da kümmert sich keiner.
(Irina kümmert sich ums Auftischen von Gläsern und Porzellan, ganz schlicht)
Der Mann hilft ihr.
Er hat Musik aufgelegt.

Aber wenn man es genau nimmt, auch Irina hat noch keiner viel gefragt.
Krachen und Ächzen und Stöhnen im Gebälk, immer nur. In Wirtschaft, Politik, beim großen Geld (und beim kleinen erst!), Krise hier und Krise da.
Immer schon, seit Irina denken kann, und keine guten Chancen für eine, die ausgezogen ist, einfach nur um auszuziehen.
Nur weg von Zuhause, das hat als Lebensentwurf nicht gereicht.
Es reicht schon lange nicht mehr, einfach vor sich hinzuleben, und einfach ist im Grunde gar nicht mehr viel.
Sogar, wenn man sich treiben lässt, ist man am Ende nur Getriebener, und hektisch, denkt Irina im Stillen.
Und sie denkt an die Musik, die im Hintergrund abläuft.

„You've thrown the worst fear
That can ever be hurled
Fear to bring children
Into the world…”


Ist eins der Lieblingsstücke des Mannes, er hat es ihr erklärt. Dass es um die schier endlosen Kriege und um alles geht, was sich die Menschen so antun und dass all das nicht zufällig passiert, sondern manche Wenige schier endlos reich macht.
So einer ist der.
Hört Dylan wie schon sein Vater und will natürlich die Welt besser machen. Wenn es sein muss, auch auf die harte Tour.
Protestieren.
Auch daran muss Irina grade denken, es geht nicht anders.
„Ihr habt die schlimmste Angst verbreitet,
Die jemals geschürt werden kann:
Die Angst, Kinder
In diese Welt zu bringen…“

Was für eine Ansage.

„Aber jetzt, jetzt wird erst mal angestoßen!“ (typisch Mann)
Das Jahr ist noch jung, der Tag ist es auch.
„Und wir erst!“ kokettiert die Dori eine Spur zu aufgekratzt und kneift Irina spaßeshalber in die Seite.
Und doch fühlt Irina diese schwere Kraft, die ihr die Mundwinkel nach unten zieht und ihre Bewegungen müde macht. Sie will sich justament nicht einen Millimeter rühren. Nur ja nichts verändern, nur da sein, nur ein bisschen.
„Sag, bist du so nett, holst du die Milch aus der Küche?“
Für den Kaffee, na klar.
Da bitteschön.
Irina setzt sich zurück zu ihren Freunden an den Tisch und sie reden.
Obwohl, Irina sitzt nur eher so dabei.
Hin und wieder stemmt sie ihre Mundwinkel gegen die Schwerkraft und sagt „Nein, wirklich?“ „Ach ja?“ und „Finde ich auch!“
Nur wenn wirklich keiner hinschaut, streichelt Irina unauffällig - ganz leise! - über den Bund ihrer Jeans, mit voller Absicht.
 
Zuletzt bearbeitet:

lexor

Mitglied
Hallo Erdling

Der Anfang war toll, hat mir sofort die Stimmung übermittelt und diese Stimmung wurde auch beibehalten. Dein Schreibstil ist speziell und das gefällt mir, obwohl es erforderte, dass ich aktiver lese und mir überlege, was du sagen wolltest, zum Beispiel hier:
Irina findet, das alles hat nur wenig Modernes. Nichts von dieser pixelgenauen Entourage, die akkurat alles ordnen will mit immer neuen Aus- und Eindrücken.
‚Guter Hoffnung sein‘ hingegen, das klingt ziemlich altbacken.
Das Tempo war gut, ich wurde mitgerissen in Irinas kalter Trauer, passende Stimmung zu dem heutigen grauen Wetter! :)

Mir haben diese Stellen besonders gefallen (inkl. kurzer Erklärung wieso):

Auf den gefliesten Bodenquadraten sieht sie schon wieder Staubflocken fliegen und vereinzelt ein paar Haare, dabei hat sie doch gestern erst gewischt. Kräuselige Kalkränder rund um den Wasserhahn und die Fugen waren auch mal weiß gewesen.
Schöne, bildliche Beschreibung

„Is nix“, sagt Irina zu dem Mann
Die Stimmung wird gehalten, keine grosse Erklärung oder Gefühle, nur ein "is nix" und es ist nicht ihr Mann oder Schatz oder Peter sondern einfach der Mann.

Nicht wahr, Irina verstand das alles sehr gut.
Mehrere Bedeutungen, für mich jedenfalls.

Aber ist ja nix.
Ist nur der kreisrunde Abdruck
Wieder kalte Deprimierung

Hin und wieder stemmt sie ihre Mundwinkel gegen die Schwerkraft und sagt „Nein, wirklich?“ „Ach ja?“ und „Finde ich auch!“
wieder schöne, bildliche Beschreibung

Es gibt noch einige andere, aber ich belasse es bei diesen, die beim Überfliegen herausstachen.

Hier ist noch ein Fehler:

denen alles immer glänzt, die man hat man bestimmt mal gesehen.
Die man, hat man

Liebe Grüsse
Lexor
 
Hallo Lexor!

So eine wohlmeinende Kritik freut mich sehr.
Danke fürs aktive, genaue Lesen und das Aufspüren des Schlampigkeitsfehlers, hab ich sogleich korrigiert.

Noch einen schönen Abend und liebe Grüße zurück,

Erdling
 



 
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