Das Puppenspiel

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Es gibt da diesen Mann, der im vierten Stock eines Wohnblocks lebt. Von seinem großen Schlafzimmerfenster aus blickt er immer wieder auf den gegenüberliegenden, einen Steinwurf entfernten Wohnblock. Er ist darauf aus, dort hinter den Fenstern irgendetwas zu entdecken, ohne genau sagen zu können, was. Wiederholt sieht er jemanden an einem der Fenster stehen, der ebenfalls hinaussieht, nur eben in die entgegengesetzte Richtung. Manchmal winkt der Mann (im Weiteren ist es ´unser Mann´) hinüber, aber in fast allen Fällen bleibt das ohne ein Gegenwinken. Im Gegenteil, die meisten weichen vom Fenster zurück oder schließen die Gardine (oder beides). Unser Mann blickt nicht hinüber, um mit irgendwelchen Frauen anbandeln zu wollen. Er tut das zum einen, weil er ein freundlicher Zeitgenosse ist und zum anderen – das gesteht er sich durchaus ein –, weil er sich zuweilen einsam fühlt. Er war geschieden und kinderlos. Seiner Arbeit als Sachbearbeiter bei einer Versicherung kann er nur wenig abgewinnen und seine Freizeitaktivitäten sind dürftig.

Über die Jahre hinweg kristallisierte sich eine Person heraus – ebenso ein Mann und wie er glaubte, in seinem Alter –, zu der er gerne Kontakt aufgenommen hätte. Dieser wohnt ebenfalls im vierten Stock; dass dessen Fenster in gerader Linie gegenüber liegen, kommt seinem Anliegen sehr gelegen. Was ihn zuversichtlich macht, diesen Mann aufzusuchen, ist, dass dieser in letzter Zeit ein paar Mal zurück gewunken hatte. Es geht unserem Mann nicht darum, jenen Gegenüber näher kennenzulernen oder gar auf du und du mit ihm zu werden. Sein Ansinnen ist – und hier offenbart sich sein wahres Motiv –, einmal von dort drüben zu seiner Wohnung herüberzusehen. Aber damit nicht genug – es ist darüber hinaus sein großer Wunsch, dass er von gegenüber seiner selbst ansichtig zu sein. Wie das vonstattengehen soll, hat er sich lange und genau überlegt: Er wird sich von einem ihm bekannten Schaufensterdekorateur eine Schaufensterpuppe und eine Perücke, die in etwa an den Schnitt, der Länge und Farbe seine Haare herankam, ausleihen. Bekleidet mit seinen Klamotten wird er die so ausstaffierte Puppe an sein Schlafzimmerfenster stellen, und zwar mit erhobener rechter Hand, so als winke sie. (Das daneben liegende Küchenfenster ist hierfür zu klein; das große Wohnzimmerfenster geht zu seinem Bedauern auf die dem Block abgewandte Seite.)

An einem Samstagnachmittag im Frühling beschließt er, sein Vorhaben umzusetzen und eilt entschlossenen Schrittes zu dem Wohnblock gegenüber. Kurz zuvor hat er wie geplant die mit einem seiner karierten Hemden und einer braunen Cordhose bekleidete Puppe mit erhobener rechter Hand ans Fenster gestellt und sich selbst ähnlich bekleidet.

Da beide Häuser baugleich sind, weiß er, welchen der drei Eingänge er nehmen muss. Die erste Hürde ist überwunden, als die Haustüre auf seinen Druck mit der Hand aufgeht. Im vierten Stock angekommen, klingelt er an der mittleren Wohnungstüre. Sein Herzschlag beschleunigt sich daraufhin merklich. Es dauert nicht lange und ein Mann öffnet einen Spalt die Tür und sagt misstrauisch, aber nicht unfreundlich: „Ja bitte, was wollen Sie.“
Obwohl unser Mann diese Szene bei sich zuhause gedanklich zigfach durchgespielt hat, sind ihm mit einem Schlag seine zurechtgelegten Worte entfallen und er antwortete stockend:

„Äh, entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte…also, ich habe da eine ungewöhnliche Bitte.“ Kaum hat er die beiden letzten Worte ausgesprochen, hätte er sich Ohrfeigen können, hatte er sich doch fest vorgenommen, nicht den Eindruck erwecken, er sei ein Spendensammler oder ähnliches. Und tatsächlich macht der Angesprochene Anstalten, die Tür zu schließen.
Einem spontanen Impuls folgend tritt unser Mann die Flucht nach vorne an und es platzte aus ihm heraus: „Halt, bitte warten Sie, ich wohne im Haus gegenüber und möchte einmal von ihrem Fenster aus zu mir ´rüberschauen. Wir haben uns ja schon ein paar Mal zugewunken.“

Der Mann ist genauso perplex wie angenehm berührt, so dass er die Tür öffnet, unseren Mann freundlich begrüßt und in seine Wohnung bittet. In seinem Wohnzimmer entspinnt sich zwischen beiden gleich ein belangloses Gespräch, in deren Verlauf sich zeigt, dass der Mann alleinstehender Frührentner ist und die Tage nicht sehr abwechslungsreich verbringt. „Darum schaue ich ganz gern mal noch drüben“ gesteht er.

Unser Mann kann es kaum erwarten, ans Fenster zu treten. Der Bewohner zieht die Gardine zurück und unserem Mann fahrt trotz seines Wissens, was ihn erwarten würde, der Schreck in die Glieder. Da sieht er sich gegenüber im Fenster stehen, zu sich herüberwinkend. Auch der neben ihm stehende Mann staunt nicht schlecht, als er den Mann, der jetzt hier bei ihm ist, von gegenüber zuwinken sieht. „Aber…aber…“ stammelt der Bewohner, dann reißt der Satz ab. Beide blicken sich verwundert bis entsetzt an und es tritt eine bedrückende Pause ein.

Ein Unbeteiligter, der in die Gesichter der Männer hätte sehen können, hätte den Eindruck gewonnen, dass beide in gleicher Weise bestürzt sind. Doch in deren Innerem geht unterschiedliches vor. Während unser Mann über den Anblick seiner Person erschrocken ist (in jenem ersten Moment blendete er aus, dass es sich um eine Puppe handelt), ergreift den anderen schiere Fassungslosigkeit darüber, dass er eine Person im Fenster gegenüber sieht, die leibhaftig neben ihm steht. Nachdem sich beide aus der kurzen Starre gelöst haben, wenden sie ihre Blicke wieder dem Fenster gegenüber zu. Und was müssen sie da sehen – nichts, ein leeres Fenster! Wie auf Knopfdruck öffnen beide den Mund und sind sprachlos: für den einen ist der gegenüber und unbegreiflicherweise gleichzeitig neben ihm stehende Mann verschwunden, als ob sich eine Halluzination in Luft aufgelöst hat. Für unseren Mann war er selbst es, der in Gestalt der Puppe verschwunden ist. Gleichwohl bringen beide unisono den Satz hervor: „Das gibt es ja nicht!“

Unseren Mann erfasst der unausgesprochene Impuls ´Ich muss sofort rüber´; diesem folgend dreht er sich um und eilt zur Tür. Er bringt gerade noch eine knappe Verabschiedung über die Lippen, bevor er die Wohnung verlässt und die Treppen hinunterstürzt. Der Zurückgelassene kann gar nichts mehr sagen; er weiß nicht, wie ihm geschieht. Da lebt er seit etlichen Jahren ein ruhiges, beschauliches Leben und dann plötzlich das…

Unser Mann läuft in einem Tempo, das er schon länger nicht mehr hingelegt hat, zu seinem Haus hinüber, sperrt die Haustüre auf (wozu er aufgrund seiner Erregung und Luftnot mehrere Versuche braucht), spurtet hinauf, öffnet die Wohnungstür (hier fand der Schlüssel auf Anhieb das Schloss), wirft diese zu und rennt ohne die Schuhe auszuziehen (was er sich sonst niemals gestatten würde) ins Schlafzimmer. Und was muss er da sehen: Die Puppe war umgefallen. Auf den ersten Schreck sieht er sich widersprüchlichen Empfindungen ausgesetzt. Zum einen wirft er sich vor, die Puppe offensichtlich nicht standfest genug aufgestellt zu haben, zum anderen ist er erleichtert, dass das von der Wohnung gegenüber
wahrgenommene Verschwinden der Puppe und damit seiner selbst keine bedenkliche Sinnestäuschung war, sondern einen ganz einleuchtenden Grund hat. Mit der Entdeckung
der am Boden liegenden, aber unversehrten Puppe lässt er sich erschöpft und voll bekleidet ins Bett fallen, was für ihnen ebenfalls ein krasser Bruch seiner Lebensart darstellt. Daher schnellt er gleich wieder hoch, auch weil es seinen Blick magisch zum Fenster seines Gegenübers zieht. Wie er vermutete, steht dort der Mann, den er zuvor fluchtartig verlassen hat. Da er ihm in diesem Moment leidtut, entschließt unser Mann kurzerhand, sich zusammen mit der Puppe zu zeigen. Er denkt sich, dass es ein Akt von gutgemeinter Ironie sei, wenn er sich leibhaftig mit der Puppe zeigt.

So richtet unser Mann in Windeseile die Puppe, die immer noch den rechten Arm grußartig nach oben hält, auf und stellt sich mit der gleichen Armstellung daneben hin. Und dann geschieht das ganz und gar Unfassbare: Der Mann gegenüber grüßt nicht wie erwartet zurück, sondern kippt nach hinten um wie eine starre Puppe. Gleichzeitig fällt unser Mann mit dem erschreckten Ausruf „Um Gottes willen“ in sich zusammen wie eine Gliederpuppe. Nur die Puppe bleibt diesmal stehen und winkt gegenüber einem leeren Fenster zu.
 



 
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