Das Reptil

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Heinrich VII

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Mein Freund Aribert fragte mich eines Tages, als wir im örtlichen Stadtpark saßen und eine Flasche Rotwein teilten, folgendes: „Hast du schon mal
davon gehört, dass es Reptilien unter uns gibt?“
Ich sah ihn verdutzt an: „Meinst du Salamander oder Frösche, Kröten?“
„Frösche und Kröten sind keine Reptilien, das sind Amphibien.“
„Ach so.“
„Ich meine etwas ganz anderes: Reptilien, die wie Menschen aussehen. Sie haben menschliche Gestalt angenommen, sind aber in Wirklichkeit Reptilien.“
Wir hatten die zwei Liter Flasche Lambrusco schon fast ausgetrunken. Auf die leere Flasche schielend entgegnete ich: „Das meinst du aber nicht im Ernst.“
Aribert sah mich an, wie man jemanden ansieht, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat.
„Hast du echt noch nichts davon gehört?“
„Das ist doch Humbug.“
„Ist es nicht: Prinz Charles soll ein Reptil sein. Bill Gates wahrscheinlich auch. Die Oberen von Blackrock, der Präsident von Frankreich und noch ne ganze Menge mehr. Die Reptilien haben inzwischen den ganzen Planeten unter sich, ohne dass wir Menschen es wissen.“
Ich lachte …
„So einen Schwachsinn habe ich noch nicht gehört, aber es hört sich interessant an.“
„Ist es auch – und wie.“
Wir tranken die Flasche leer und überlegten ob wir im Gottlieb (einem Supermarkt in der Nähe) noch eine holen sollten.

„Der Hammer ist“, verriet mir Aribert, „dass ich von einem weiß, der ein Reptil sein soll.“
Ich sah ihn an. „Du weißt von einem Reptil-Menschen?“
„Sicher bin ich mir nicht. Er steht im Verdacht, einer zu sein.“
„Wer verdächtigt ihn denn?“
„Kann ich dir nicht sagen, diese Leute wollen das nicht. Sie forschen im Geheimen in Sachen Reptilien und wollen sich nach und nach einen Überblick verschaffen.“
„Warum haben sie es ausgerechnet dir verraten?“
„Weil ich sie kenne.“
Wir erhoben uns und gingen los. Überquerten die Wiese, am Teich vorbei. Weiter hinten gab es einen Ausgang. Man musste nach links die Straße hoch und kam direkt zum Supermarkt. Ich ging rein und kaufte eine neue zwei Liter Pulle. Die erste hatte Aribert geholt und bezahlt. Er wollte auch jetzt rein gehen und wieder bezahlen. Er war der Sohn eines Anwaltes. Sie wohnten in einem besseren Viertel in der Stadt. Hatten teure Autos in der Garage stehen und so. Aribert hatte trotzdem lange Haare und zerrissene Jeans an. Er sollte im Jahr darauf Abi machen, auf dem hiesigen Gymnasium. Zu Zeiten trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Fuck of“. Man hätte vom Äußeren her nicht vermutet, dass er ein Anwaltssohn war. Ich ließ ihn nicht rein gehen und wieder bezahlen. Ich hatte auch meinen Stolz. Ich wohnte mit meinen Eltern am Rande der Stadt. Ein eigenes Haus hatten wir auch, aber nur einen Nachbarn. Kein vornehmes Viertel. In der Garage standen keine teuren Autos. Aber zumindest ein Mittelklasse Wagen von meinem Vater. Es fehlte mir an nichts und ich konnte auf die Realschule gehen.

Als wir wieder im Stadtpark saßen und die Weinpulle angebrochen hatten, sagte Aribert.
„Wir gehen zu diesem Reptil-Menschen und finden raus, ob er tatsächlich einer ist.“
„Wo wohnt er? Und wie soll das gehen?“
„Ich nehme den Mercedes von meinem Vater. Er ist demnächst für eine Woche auf einer Anwalts-Tagung und fährt vermutlich mit seinem BMW dahin. Wenn er mit dem Mercedes fährt, nehmen wir halt den. Ist n gutes Stück zu fahren.“
„Hast du einen Führerschein?“
Aribert grinste mich an. „Seh ich so aus? Fahren kann ich aber. Hab´ meinem Alten schon oft eine Karre gemopst und bin damit rum gefahren. Er ist zu beschäftigt mit seinem Job, um´s zu merken.“
Ich nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Pulle und reichte sie anschließend meinem verrückt gewordenen Freund.
„Du hast ja ne echte Macke. Wie willst du den Kerl untersuchen? Meinst du, der zieht sich freiwillig aus und legt sich hin, damit wir in aller Ruhe seine Reptilienhaut betrachten können?“

„Da drüben, in dem Haus wohnt er.“
Es war ein paar Tage später. Aribert hatte den BMW in der Nähe des vermeintlichen Reptilien-Hauses geparkt und wir sahen rüber. Es war abends. Ich hatte meinen Eltern erzählt, dass ich bei Aribert übernachte und dass wir zuvor zusammen lernen wollen. Was mein Freund seiner Mutter erzählt hatte, wusste ich nicht.
„Und – wie geh´n wir jetzt vor?“
Wir parkten den BMW für alle Fälle ein paar Straßen weiter. Dann gingen wir zum Haus zurück und ich klingelte einfach. Aribert stand etwas versetzt neben mir. Er hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, über dessen Inhalt er mir nichts sagen wollte. Ich werde dann schon sehen. Der Plan war, wenn geöffnet wurde, den Mann zurück in die Wohnung zu stoßen und blitzartig zu überwältigen. Das würde Aribert übernehmen, der größer und kräftiger war als ich.
Ich klingelte ein zweites Mal.
Schließlich ein drittes Mal.
Niemand kam zur Tür, niemand öffnete.
„Das Reptil scheint nicht zuhause zu sein“, flüsterte Aribert.
Ich machte ihm Zeichen, dass wir ums Haus herum gehen und es von hinten probieren. Er nickte und wir schlichen ums Haus. Sahen uns dabei immer wieder nach allen Seiten um, ob vielleicht doch jemand auftaucht. Am Ende standen wir hinten vor der Verandatür, die abgeschlossen war.
„Vielleicht sitzt er gerade im Keller, ist in ein Reptil verwandelt und frisst Fliegen und Spinnen.“
Ich lachte leise und flüsterte: „Du hast doch ne Macke.“

Aribert konnte nichts mehr antworten, denn wir wurden beide von einer kräftigen Hand im Genick gepackt und geschüttelt. Als die Hände los ließen, drehten wir uns um und standen einem zwei Meter Mann gegenüber, der sehr trainiert aussah und einen Bürstenschnitt hatte. Im entsprechenden Outfit wäre er glatt als Wrestler durch gegangen. Er baute sich vor uns auf und musterte uns einen Moment. „Was treibt ihr zwei Rotznasen vor meinem Haus?“
Ist der das Reptil?, fragte ich mich. Dass das so ein massiger Kerl ist, davon hat Aribert nichts verlauten lassen. Oder hat er es nicht gewusst?
Der Wrestler packte mich am Kragen und hob mich ein Stück hoch, als würde ich so gut wie nichts wiegen.
„Ich habe euch etwas gefragt, Rotznasen, was macht ihr hier?“
Aribert, der eine Weile Selbstverteidigung in einem Verein trainiert hatte, nutzte den Moment und trat dem Kerl mehrmals gegen das Knie. Der riesige Mann sackte etwas zusammen, verlor aber nicht das Gleichgewicht.
„Ab!“ schrie Aribert.
Mich hatte er durch den Tritt los gelassen. Mein Hals tat weh, von seinem Würgegriff. Aber das ignorierte ich und rannte hinter Aribert her, so schnell ich konnte. Der Wrestler, der vielleicht ein Reptil war, verfolgte uns. Er humpelte ein wenig, blieb aber hinter uns.
„Nicht zum Auto“, rief mir Aribert zu, „wir müssen ihn davon ablenken, sonst kriegt er uns.“
Ich nickte und folgte ihm einfach. Das Haus des Reptils lag an einer Hauptstraße.
Wir rannten sie ein Stück entlang und dann in eine Seitenstraße und nochmal in eine andere.
Wir sprangen in eine Hofeinfahrt und verschwanden hinter einer hohen Hecke, die als Sichtschutz gedacht war.

Erst nach einer guten Weile trauten wir uns raus und sahen uns vorsichtig um. Das Reptil schien verschwunden zu sein. Oder lauerte es irgendwo, bis wir auftauchten? Als nach einer weiteren Weile warten niemand zu sehen war in dieser Größe, trauten wir uns raus und liefen die Straße runter. Wir kamen bis zu Ariberts BMW, setzten uns rein und sahen zu, dass wir Land gewannen.
„Sag mal, wusstest du, was das für ein Bär ist?“, fragte ich unterwegs.
Aribert sah weiter geradeaus auf die Straße und behielt den Verkehr im Auge.
„Ich wusste es nicht. Die haben mir gesagt, dass es ein Reptil gibt und wo es wohnt, mehr nicht.“
Ich musste lachen …
„Die haben dich verarscht. Die wussten, was das für ein Kerl ist und dass er uns packen würde.
Die haben dich da rein laufen lassen. Vermutlich ist der Mann gar kein Reptil. Falls es solche Reptilien-Menschen überhaupt gibt.“
Aribert sah weiter auf die Straße und schwieg.
Nach einer Weile sagte er.
„Es gibt sie, da kannst du einen drauf lassen.“

„Was ist in dem Rucksack drin?“, wollte der Polizist wissen.
Kurz bevor wir zuhause waren, rasselten wir unverhofft in eine Straßen-Kontrolle. Aribert konnte keinen Führerschein vorweisen, weil er keinen hatte. Also mussten wir das Auto stehen lassen und wurden in einen Mannschaftswagen der Polizei verbracht. Den Rucksack, der auf dem Rücksitz gelegen hatte, fanden die Polizisten und nahmen ihn mit.
Es gab eine Bank für mich und Aribert. Dann kam ein kleiner Tisch und dahinter saß der Polizist. Er griff in den Rucksack, holte eine Spritze heraus und legt sie auf den Tisch. Dann griff er nochmal hinein und förderte ein Skalpell zutage, das ebenfalls auf den Tisch kam. Er sah uns der Reihe nach an. „Was wolltet ihr damit?“
Ich sagte nichts, weil ich ja nicht wusste, warum Aribert das mitgenommen hatte.
Mein Freund schwieg auch.
„Ich weiß, für was ihr das gebrauchen wolltet“, gab der Polizist die Antwort.
Aribert und ich sahen ihn an und waren beide gespannt auf die Erklärung.
„Ihr wolltet einen Reptil-Menschen betäuben und ihm ein Stück Haut entfernen, um zu sehen, ob drunter ein Schuppenpanzer ist.“
Aribert und mir stand der Mund offen.
Der Polizist lachte. „War nur n Scherz."

Wir ließen eine Flasche Lambrusco im Stadtpark hin und her gehen. Es war vier Wochen später.
Aribert hatte so lange Hausarrest gehabt und durfte den ersten Tag wieder raus. Sein Vater hatte ihm zudem verboten, je wieder eines seiner Autos anzurühren. Wegen fahren ohne Führerschein gab es eine Geldstrafe, die Pappa zahlte. Und eine Führerschein-Sperre für Aribert gab es auch.
„Sag mal: Mir geht nicht aus dem Kopf, was der Polizist gesagt hat, auch wenn es ein Scherz gewesen sein soll.“
Aribert nahm noch einen kräftigen Schluck. Dann rülpste er und antwortete: „Wie hätten wir sonst fest stellen sollen, ob er ein Reptil ist. Er hatte ja gerade menschliche Gestalt angenommen, wie du sehen konntest.“
Wir tranken die Flasche leer und machten uns anschließend auf zum Gottlieb um noch eine weitere zu holen. Zurück im Stadtpark tranken wir auch die noch. Als nur noch eine kleiner Rest in der Flasche war, sagte Aribert: „Die Sache mit den Reptilien ist noch nicht vom Tisch. Da muss noch was hinterher kommen.“
Ich sah ihn an: „Okay - aber diesmal fahren wir mit der Bahn.“
Wir lachten uns halb tot ...
 
Zuletzt bearbeitet:

molly

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Hallo Heinrich VII,

jaa, recht schräg und sehr spannend geschrieben.
Gibt es den " Gottlieb " noch?

Gruß von molly
 

Klaus K.

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Hallo Heinrich VII,

sehr nett! Ich hatte als Kind mal einen "echten" ausgestopften Kaiman aus Südamerika. Der ging damals als Souvenir noch problemlos durch den Zoll, denn Artenschutz war noch kein Thema. Mein Exemplar hat mich dann auch in einigen Träumen verfolgt - ich weiß nur, dass ich befürchtete, er könne noch wachsen!
Mit Gruß, Klaus K.
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo Molly und Klaus,

danke für euer Interesse an meinem Text. Dass er euch gefallen hat, ehrt mich.
Man freut sich ja gerne, wenn man etwas richtig gemacht hat. :)
Ob es den "Gottlieb" noch gibt, weiß ich nicht. Da müsste ich nachsehen. ;)

Gruß, Heinrich VII
 



 
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