Das romantische Projekt

Dieser Sommer ist heiß und der Abend noch zu warm, um das Fenster schon schließen zu können. Sascha sitzt im anderen Zimmer, er sieht fern. Jetzt höre ich ihn durch zwei geschlossene Türen lachen. Vom nahen Sportplatz dringen fast pausenlos laute Rufe bis zu mir herauf. Wie sich die Spieler mit Geschrei gegenseitig anfeuern oder niederzumachen suchen, das geht so Saison für Saison, Generation um Generation, wie ein Naturphänomen. Oder sollte ich sagen: wie eine Naturgewalt? Ich mache mir wieder einmal klar, dass ich nicht mehr jung bin. Es ist schon weit nach der Jahrtausendwende.
Ich will Musik hören, aber sie muss dauernd so laut sein, dass nur sie unter den Kopfhörern zu vernehmen ist, ich will mit ihr allein sein. Eine Zeitlang stehe ich unschlüssig vor dem Regal mit den alten Langspielplatten, ziehe mal diese, mal jene heraus und schiebe sie an ihren Platz zurück. Schließlich gehe ich mit einem Wagner-Querschnitt, produziert 1974, zu dem alten Gerät: die Platte jahrzehntelang nicht mehr aufgelegt. Das Coverbild zeigt das Schloss Neuschwanstein von außen in seiner vollen Pracht und irritiert mich noch immer – so aufgedonnert die Musik sein mag, ein aufgeblasener Abklatsch ist sie nicht.
Ich fange mit der B-Seite an und höre gleich den Walkürenritt. Allmählich verändert sich etwas in mir. Oder um mich herum? Sascha ist nicht hereingekommen. Es scheint sich zu diesen Klängen etwas außerhalb von mir materialisieren zu wollen - oder in mir zu konkretisieren. Mit einem Mal ist sein Name wieder da: Alex wollte diese Musik damals mit mir anhören, er wirkte geradezu verzückt bei diesem Hojotoho! Hojotoho! Und er rollte mit den Augen, reckte sich auf dem Sofa, sah mich groß an.

Ein paar Jahre davor war er mir rasch aufgefallen. Wir waren beide noch sehr jung, annähernd gleichaltrig und verkehrten in denselben Bars und Cafés. Die kleinen Zirkel, denen wir angehörten, überschnitten sich, und sein Bild übertraf an Anziehungskraft bald das aller anderen. Es gab gewiss noch einige, die es mit Alex aufnehmen konnten, was Gestalt und Gesichtszüge anging. Doch keiner besaß diese intensive Ausstrahlung, die mit ihrem tiefen, reinen Ernst etwas alles andere Ausschließendes, Absolutes hatte. Daran war allerdings nichts Dominantes, es war reine Melancholie. Er hatte einen markanten Römerkopf und trug seine dunklen Locken nach damaliger Mode lang. Manchmal sah ich ihm beim Tanzen zu. Er tanzte monoton stampfend und dabei so beherrscht und formbewusst, wie mir alles an ihm vorkam.
Für mich stand bald fest, dass ich ihm näherkommen wollte, so nahe wie möglich. Dann könnte er für mich der Lohn und das Ziel dieser schweren Jahre sein, die ich beinahe hinter mich gebracht hatte, dachte ich oder fühlte es mehr.
Eines Nachts stand er allein auf der Kleiststraße, als ich vorbeikam. Wartete er auf einen anderen oder war er unschlüssig, was er jetzt tun sollte? Ich sprach ihn an und ging mit ihm in die nächste Bar. Wir machten uns oberflächlich miteinander bekannt, den Vornamen nennen, Herkunft und Beruf angeben. Alex war Koch und arbeitete in einer Krankenhausküche. Er war zu Hause hier in Schöneberg, auch da aufgewachsen und hatte im Kiez neuerdings seine erste Wohnung. Ich wohnte selbst in der Nähe, und das war schon alles an Übereinstimmung. Losgerissen von daheim trieb ich dahin von Stadt zu Stadt, während er noch immer nahe seinem Ursprung verharrte. Ich kannte diese Straßen auch bei Tag, mit ihren schlichten Wiederaufbauhäusern und den Hausburgen aus Bismarcks Zeit, jetzt wie Stockzähne in einem lückenhaften Gebiss. Es war etwas immerwährend Verlorenes an der Gegend und ihre Aura deckte sich mit Alex’ Melancholie.
Unser Gespräch geriet schon ins Stocken. Wir sprachen noch über Filme. Er hatte „Flesh“ von Warhol gesehen, ja, doch, und Fellinis „Satyricon“ hatte ihn gelangweilt. Wir wussten uns dann nichts mehr zu sagen, ihm schien nichts daran zu liegen, mich noch näher kennenzulernen. Also gingen wir, beide verlegen, für diesen Abend auseinander.
Ich gab jedoch mein Projekt, ihm näherzukommen, nicht auf. Wir begegneten uns häufig, begrüßten uns flüchtig, wechselten wenige Worte. Manchmal ignorierte er mich zum Schein. Damals war ich oft mit dem etwas älteren Danziger unterwegs. Er beobachtete uns und kritisierte mich: „Du machst es falsch, du gehst zu rational vor, du analysierst zu viel. Er ist einfach strukturiert, ein bisschen animalisch, weißt du …“ - „Und woher willst du das wissen?“ - „Er war mal bei mir, es lag mir gar nichts daran. Wir waren zu dritt unterwegs auf Kneipentour und im Auto hat er mich plötzlich umhalst und wollte von mir mitgenommen werden. Da hat uns der andere einfach vor meiner Haustür abgesetzt. Alles idiotisch, der ganze Ablauf … So funktioniere ich doch gar nicht. Was dabei rauskam? Eine Josefsehe für eine Nacht, haha …“
Danziger bohrte weiter: „Er ist schwermütig, und das reizt dich an ihm, so ist es doch? Aber du bist es ja selbst, mehr oder weniger. Pass auf!“ - „Das sagt der Richtige.“
Danziger wusste, worauf ich anspielte. Alex zog damals viel mit einem jungen Blonden umher, in den sich Danziger vergafft hatte. Er war so aufgesetzt arrogant wie Alex glaubwürdig melancholisch und ich nannte ihn unter uns den Modejüngling. In einer Zeit, in der lässige Sportlichkeit sich langsam durchsetzte, kultivierte er noch immer den Chic und die inzwischen überholte Eleganz der Sechzigerjahre. Womöglich war sein Haar gebleicht. Danziger sprach ihn an und erfuhr nicht viel mehr als seinen Namen. Oliver ließ ihn abblitzen. Mein väterlicher Freund betete ihn weiter aus der Distanz an. Als Mann vom Theater bewunderte er gerade dessen forcierte Künstlichkeit.
Ich richtete mich mit den Verhältnissen ein. Alex war und blieb mein Leitstern und mein Dämon zugleich. Ob ich ihn beachtete oder nicht, ob er wegsah oder mir zunickte oder einen Gruß widerwillig grummelte – unsere Verbindung war beständig. Ich irritierte ihn nun mal mit meinem hartnäckigen Interesse und verfinstert führte er mir diese Irritation immer wieder vor. Vielleicht war ich Opfer eigener Überinterpretation? Äußerte sich sein allgemeiner Überdruss nicht erst recht, wenn es nicht um mich ging? Ich sah und hörte ihn im Gespräch mit Oliver andere durchnehmen. Sein Blick war eingangs gewöhnlich gesenkt – es war alles zum Nichtmitansehen – und dann hob er seine warmen braunen Augen wie zum Protest und brachte bloß ein so leises wie entschiedenes „Widerlich!“ zustande.
Das ging Monate so. Einmal standen Alex und Oliver in meiner Nähe am Tresen und diesmal schien ich Gesprächsgegenstand zu sein, so gleich mein Verdacht. Oliver musterte mich mit neutralem Ausdruck, sogar eine Spur wohlwollend. Ich verstand sie nicht, doch waren sie offenbar unterschiedlicher Meinung, während sie mich im Blick behielten. Oliver rückte etwas zur Seite, näher zu mir hin. Ich blieb, wo ich stand, und hoffte, von beiden einbezogen zu werden. Die Blicke von uns dreien wechselten jetzt zwischen uns, während wir schwiegen. Da begann Alex, sich in diesem Teil der überfüllten Bar ein wenig hin- und herzubewegen. Dabei rempelte er uns beide mehrmals gezielt an und schaute dem gerade mit dem Ellbogen Touchierten provokant ins Gesicht. Es dauerte nur zwei, drei Minuten, dann ging er allein fort. Oliver folgte ihm kurz darauf. Ich blieb zurück.

Die Jahrtausendwende war noch lange nicht in unser Blickfeld geraten. Wir waren immer noch jung, sehr jung, und Alex war verschwunden, ein Jahr nach Beginn unserer seltsamen Beziehung. Man sah ihn in den Kneipen nie mehr. Mein neues Stammlokal war eine Lederbar, die in einem anderen Stadtviertel lag. Danziger sah ich dort nur selten, und wenn er sich mal zeigte, dann distanzierte er sich von diesem Milieu mit abschätzigen Blicken und Bemerkungen. Gestalten wie Oliver verkehrten da nicht.
Eines Abends redete ich wieder einmal mit ***. Er war direkt aus der Oper gekommen und schwärmte von einer Janáček-Aufführung. Dabei fiel ihm das Programmheft zu Boden und er bat mich, es für ihn aufzuheben – er hätte sich in seinem engen Dress nicht bücken können. Als ich mich aufrichtete, begegnete ich dabei dem Blick eines Fremden, der uns beobachtete. Er nickte mir zu, nicht amüsiert über die kleine Szene, sondern ganz ernsthaft. Dann kam er herüber und sprach mich auf Englisch an, wechselte aber gleich ins Deutsche mit leichtem Berliner Akzent. Erst am mir noch vertrauten Klang seiner Stimme, dunkel und klagend, erkannte ich ihn wieder. Alex hatte sich äußerlich in der Zwischenzeit beträchtlich verändert, geradeso wie ich selbst. Auch er entsprach jetzt dem neuerdings herrschenden Kurzhaar- und Schnurrbart-Ideal. Aber die Farbe seiner Lederjacke war braun wie früher, während alle anderen in der Bar Schwarz trugen.
Ich bekam nie heraus, ob er sich wirklich an mich erinnerte. Er sagte: „Ich lebe jetzt in London, seit gut vier Jahren schon … Besuche meine Mutter übers Wochenende …“ Er war zum ersten Mal in diesem Lokal und fragte mich nach den Gebräuchen aus. Als er erfuhr, dass es einen Kontaktraum gab, zog er mich dorthin. Wir schmusten, aber ich war nicht recht bei der Sache. Er gefiel mir noch immer sehr gut, doch sein abruptes Erscheinen wie das total veränderte Verhalten kamen mir allzu phantastisch vor, wie eine erfundene und schlecht motivierte Geschichte. Passte diese ganz reale Fortsetzung überhaupt zu meiner Vision, meinem Projekt damals? Und dennoch freute ich mich zur selben Zeit sehr. Vielleicht ging es ihm ähnlich, auch er hielt sich zurück. Dann wollte er mit mir etwas trinken gehen.
Am Tresen sagte er: „Ich wohne bei meiner Mutter und fliege morgen früh zurück nach London. Ich kann also nicht mit zu dir … Gibst du mir deine Telefonnummer?“

Es war im Jahr darauf, auch im Spätsommer, als er mich an einem Montag aus London anrief. Er werde am Wochenende in Berlin seine Mutter wieder besuchen und würde mich gern treffen. In der Zwischenzeit hatte ich nichts von ihm gehört, kaum einmal an ihn gedacht. Er überraschte mich jetzt wieder und es passte mir gerade nicht. Ich erwartete schon Besuch, Freunde aus Hannover. Alex war einverstanden, dass wir uns am Samstagabend einfach nur sehen würden, in derselben Kneipe wie im Vorjahr. Es kam so, aber ich hatte auch in der Bar kaum Zeit für ihn. Er nahm es hin und kam mir in dem Gewühl bald aus den Augen …
… und rief mitten am Sonntagmorgen wieder an. Er fliege am Montag zurück und wolle mich diesen Nachmittag unbedingt noch besuchen. Ob die Hannoveraner schon fort seien? - „Gerade eben.“
Er kam gegen drei und umarmte mich hinter der Wohnungstür. Während ich Kaffee brühte, besah er sich meine Plattensammlung und wollte gleich das Wagner-Potpourri hören. Wir saßen dabei einander gegenüber. Als die Musik verklungen und der Kaffee getrunken war, erschien er mir offener denn je und ich fragte ihn nach seinen Verhältnissen aus. Nach London war er gegangen, um dort mit einem Freund zusammenzuleben. „Er war Lehrer, älter als ich. Er kam aus Burma, war Buddhist. Schon nach einem Jahr ist er gestorben, da war ich wieder allein …“ Er schwieg und ich sah ihn wortlos an. Das Verhängnis, das über ihm zu brüten schien, so war es mir immer vorgekommen, wenn ich ihn betrachtete, dieses Fatum hatte sich materialisiert. Ich wusste nichts zu sagen und er fuhr bald fort: „Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich bin ihm nie wirklich nahegekommen. Ich hab gar nicht verstanden, wie er tickt. Er nahm alles hin, immer auf dieselbe Weise, als ob alles gleich wäre. Er war eben Buddhist.“
Ob er noch als Koch arbeite? - Das war nicht der Fall. Er war jetzt Gehilfe in einem Krankenhaus, und zwar in den Operationssälen.
„Bleibst du in London?“ - Nein, das wollte er nicht. „Mit England geht`s immer mehr bergab, alles, auch der ganze Alltag. Nichts funktioniert mehr richtig und das Schlimmste: Es macht ihnen nichts aus. Du hörst ständig nur dieses Don’t worry, Don’t worry …“ Im selben Ton, anklagend und resignierend zugleich, hatte er in Berlin früher sein „Widerlich, einfach widerlich“ herausgebracht.
„Ich will jedenfalls zurück, aber es ist nicht so einfach. Sei froh, dass du in Berlin leben kannst.“ Ich sagte ihm, ich würde gern wegziehen. „West-Berlin ist keine normale Großstadt.“ - „Und wohin dann?“ - „Am liebsten nach München.“ - „Bloß nicht. Ein alter Freund von mir ist oft da, dabei wohnt er jetzt in Hamburg, war vorher auch in Berlin. Er ist Model und muss sich überall umsehen und will auch zum Film. Aber das scheint schwer zu sein.“ - Ich hatte einen Verdacht und fragte: „Ist es dieser Blonde, dieser Schönling?“ Er nickte. Ich setzte nach: „Wart ihr … zusammen?“ Er schüttelte den Kopf und sagte nichts weiter.
Entweder war Danziger im Unrecht gewesen oder Alex hatte sich in London stark entwickelt – ich fand ihn alles andere als einfach strukturiert oder bloß animalisch. Er war jetzt kultiviert und zartfühlend. Er schien zu begreifen, dass die Zeit etwas mit uns gemacht hatte – falls er sich überhaupt an jene Begegnungen erinnerte - und dass ich womöglich an diesem Sonntagnachmittag etwas ausgelaugt sein könnte. Wir fielen nicht übereinander her.
Das Telefon klingelte. Mein größter Busenfeind wollte mich herunterputzen und ich setzte mich zur Wehr. Als ich auflegte, hatte sich Alex inzwischen wieder etwas Musikalisches herausgesucht.
Ein paar Wochen später schickte er eine Karte von Korfu. Er werde diesen Herbst noch einmal nach Berlin kommen und freue sich sehr darauf, mich wieder zu treffen. Es sollten Jahre werden.

Als ich seinetwegen nach Hamburg gezogen war, ließ mir Sascha die Freiheit, die ich brauchte. Ich ging weiter viel aus, machte oft Bekanntschaften. Sehr selten begegnete ich Oliver in den Bars. Einmal hatte er einen attraktiven Münchner in unserem Alter dabei. Er ähnelte Alex im Aussehen, nur schien er frei von jeder Melancholie und bewegte sich mit schöner Selbstverständlichkeit. Er beobachtete mich eine Zeitlang, wir wechselten Blicke, dann kam er zu mir herüber und stellte sich vor: Manfred. Er war so offen und direkt wie möglich und sagte schon nach kurzem: „Würd gern mit dir ins Bett. Geht aber heut nicht, du kannst dir denken warum.“ Oliver sah laufend zu uns herüber, merklich beunruhigt. Manfred sagte, er komme ab und zu nach Hamburg. Es würde sich schon mal ergeben …
Im Jahr darauf traf ich ihn im selben Kellerlokal wieder. Er ging sogleich auf mich zu und sagte: „Oliver kanntest du doch auch? Ich muss es dir sagen: Er hat sich umgebracht.“ Er habe es nicht mehr verkraftet, ewig nur Model sein zu müssen. „Und für den Film hat es leider nicht gereicht. Er hatte genug von allem.“ Wir versuchten es einzuordnen, drehten es ein wenig hin und her und gingen nicht zusammen weg. Manfred hoffte, mich mal in München zufällig zu treffen. Was aber nie geschah, da ich mit Reisen dieser Art allmählich aufhörte.

Einige Übervorsichtige dachten jetzt allmählich an das kommende Millenium. Wie würde es dann sein, falls man noch lebte? Ich reiste noch einige Male nach Berlin und einmal, an einem Sonntagabend, stoße ich in derselben Bar wie Jahre davor auf Alex. Er hat es geschafft, er lebt schon ein Jahr lang wieder in Berlin, gibt mir gleich einen feurigen Kuss und will für einen der folgenden Abende eine Verabredung treffen. Nur an diesem Abend könnten wir nichts nachholen, sein Freund sei dabei. - „Tja, und ich Unglücksrabe muss morgen früh weiter nach Regensburg. Aber ich bin in ein paar Wochen wieder in Berlin. Sehen wir uns dann am Wochenende abends hier?“ - „Wahrscheinlich.“ Er kommt mir gelöst vor, unbelastet wie früher nie.
Tatsächlich bin ich ihm in jenem Herbst noch einmal begegnet, aber nicht in der Bar. Ich hätte die Reise wegen einer Infektion am liebsten verschoben, musste aber zu einer Anprobe hinfliegen. Selbstverständlich mied ich die Kneipen, ging lieber ins Kino. Da es noch Zeit war bis zur Vorstellung, schlenderte ich durchs Kudamm-Karree. Im Innern hatte ein Antiquar seine Bücherstände aufgebaut. Während ich da stöbere, fühle ich mich beobachtet und blicke mich um: Da drüben steht Alex mit seinem Freund, der ein Schaufenster betrachtet. Alex winkt mir freundlich zu, vielleicht lächelt er sogar ein wenig. Dann setzen die beiden ihren Bummel entlang der Auslagen fort. Wie normalbürgerlich sie wirken, Schaufensterbummel zu zweit am frühen Samstagabend zwischen Restaurant- und Kinobesuch … Und ich würde mir in diesem Augenblick gern etwas hinzudenken, um das Bild zu retuschieren, um die Zeit zehn Jahre zurückdrehen zu können, mindestens ein härenes oder besser noch ein Kettenhemd unter seinem Pulli.

Längst bin auch ich nach Berlin zurückgekehrt. Ob er noch lebt? Mir bleibt wenig als erneut zum Regal mit den alten Platten zu gehen und herauszusuchen, was er damals, bei seinem einzigen Besuch, auch noch hatte anhören wollen. Er hatte die Kassette mit den Mahler-Sinfonien in seinen Händen und fragte: „Haben wir noch Zeit dafür?“ - „Na ja, Zeit schon, aber wohl nicht für alle neun Sinfonien.“ - „Was wählen wir dann aus?“ - „Vielleicht die Dritte? Du weißt: Pan erwacht, der Sommer marschiert ein.“ Wenn ihm der Walkürenritt zusage, müsse es diese Musik erst recht tun. Aber es war nicht die Dritte, die er im Sinn hatte, es war die Sechste. Und genau diese hochtragische Katastrophenmusik hätte ich ihm in Wahrheit doch von jeher zugeordnet. Er sagte, Mahlers Sechste sei an Musik das Schönste überhaupt für ihn. Allerdings beließ er es damals beim noch triumphalen ersten Satz, danach stand er auf, umarmte mich und sagte im Weggehen: „Wird einmal fortgesetzt.“
Am Tag danach kam verspätet – die englischen Verhältnisse damals! - die Kunstpostkarte, mit der er seine Ankunft hatte vorbereiten wollen, Michelangelo: „Die Erschaffung Adams“. Ich stutzte, Adams Züge wie Gestalt ähnelten nicht wenig denen von Axel. Doch das Mirakel war keines, nur Übereinstimmung in einem mediterranen Typ. Damit beruhigte ich mich.
 
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