Das Spiel

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Einsam saß die Gestalt im Halbdunkel zwischen dem Gestern und dem Morgen. Der Raum um sie herum schien sich langsam zusammenzuziehen; während ihr Geist sich immer mehr vom Außen dem Innen zuwandte und die Zeit zu einer dickflüssigen Masse zerrann, die langsam tropfte und schließlich erstarrte. Es war einer jener Momente, in denen man für einen kleinen Augenblick dem Leben zu entrinnen scheint und sich als eine Art Beobachter außerhalb dessen Wirren wiederfindet, mit einem Geist so klar wie ein Kristall.
"Wohin gehe ich ...?" dachte die Gestalt still und stützt sich vornübergebeugt mit den Ellenbogen auf ihren Knien ab.
"Was wird nun...?"
Das Leben hatte sie so urplötzlich eingeholt und mit der Brutalität eines Raubtieres angefallen. Sie hatte es nicht kommen sehen, aber von einem auf den nächsten Moment hatte es sie schon überrollt. Noch immer fühlte sie die innere Panik, den bleibenden Schmerz. Oh, gebrochenes Herz.
"Wie oft schon...?"
So oft, ja, aber es war immer weitergegangen. Immer, wenngleich es ihr zeitweise so sinnleer und hoffnungslos vorgekommen war. Irgendwie war es immer weitergegangen.
"Es geht immer weiter, egal was man tut..."
Man ist Teil des Spieles und auch wenn man sich noch so sträubt, so behält es einen doch immer umschlungen. Auch das Nichts-tun ist ein Zug, manchmal vielleicht sogar der Mächtigste von allen. Und es ging immer weiter. Und es würde immer irgendwie weitergehen. Wenn sie zurückschaute über ihre Schulter, so sah sie viele Erinnerungen, Fragmente gelebter Zeit mit dem Gilb des Vergessens daran. Ihr Geist wehrte sich dagegen, indem sie verlorene Fragmentstücke mit eigenen Interpretationen füllte, so daß sie heute kaum noch wußte was damals wirklich war und was Einbildung. Die Vergangenheit war einen Illusion, eine Halbwahrheit, welche die Farben der subjektiven Interpretation mit Vergessen und Reinterpretation vermischte.
Und die Zukunft? Die Gestalt blickte voraus in das Halbdunkel vor ihr. Vage Schemen bewegten dich vor ihr. Schwer faßbar. Unbestimmt, denn sie ist noch nicht geschrieben, dachte sie. Sie wartet. Früher oder später würde sie sie wieder umschließen und zu Gegenwart werden. Vertraut, aber doch unbegriffen.
"Was, wenn sie sich weigerte?"
Was, wenn sie einfach wartete und alles um sie herum einfach geschehen ließe? Sie könnte einfach nur hier ausharren, hier im Schatten jenseits des Lebens. Sie konnte hier sitzen und warten, vielleicht von Leben träumend. Und dann? Nun, irgendwann würde er vorbeikommen und sie abholen, wie jeden anderen auch. Jeder hatte nur eine begrenzte Zeit geschenkt. "Geschenkte Zeit. Was tue ich mit Dir?" dachte sie und ein Lächeln legte sich langsam auf ihre Lippen. Warten ist langweilig, beschloß sie. Zusehen, wie sich das Spiel um ihn herum entfaltet, ohne Teil zu sein? Nein, das wäre öde.
Aber sich hineinstürzten ins Halbdunkel, es riskieren, zu Leben?
Was, wenn sie Fehler machte, was wenn sie fiele? Nun, sie würde fallen, irgendwann einmal, schätzte sie. Würde sie aufstehen? Vermutlich schon. Es käme auf einen Versuch an, wie bei allem.
Aber was würden die anderen sagen, wenn er fehlen würde, wenn er fiele.
Welche anderen? Die, die wie sie in ein unbekanntes Chaos geboren worden waren, die, die nicht wirklich mehr von alledem verstanden wie sie, die sich schutzsuchend aneinanderklammerten, um nicht ihr Gefühl von Eigenwert zu verlieren; Gedanken ohne Sinn vom Gestern zum Morgen treibend in dem trägen Schlamm der Maße.
"Warum war es so wichtig, was sie sagten...?"
120 Jahre, wahrscheinlich weniger, dachte er, dann sind sie alle weg, der letzte Atemzug erloschen und alle Gesichter, die sie heute ansahen, die sie heute vielleicht verhöhnten werden fort sein. Alle, die sie verachteten währen weg. Alle, die sie liebte wären fort. Sie selbst wäre nicht mehr da. Es gibt dann neue Gesichter, neue Geschichten, neue Fragen und Antworten auf alte Probleme, die sich der menschliche Geist zum Zeitvertreib erdenkt.
Waren sie wichtig? Ja....Nein? War er wichtig. Warum, war es überhaupt wichtig, wichtig zu sein...? Warum mußte es besser und schlechter geben? Was ist schön? War alles nur Einbildung? Gab es überhaupt Gut und Böse, oder waren es nur vom menschlichen Geist gezogene Kategorien???
Sie konnte warten auf daß das Leben sie überflutete und konnte es dann an sich vorbeifließen lassen.
Ja, sie konnte hier warten und nachdenken, über all dies und noch vieles mehr. Vielleicht würde sie auch irgendwann Antworten finden. Aber warum? War es wichtig all dies zu wissen? Warum? Warum nicht einfach das Spiel spielen und in der Vorwärtsbewegung das Gehen lernen. Nicht auf einmal. Nur Morgen ein Stückchen besser als heute. Und übermorgen dann noch ein Stückchen... Einfach spielen.
Das Leben ist eine Einladung, die man annehmen oder ablehnen kann. Man konnte sich dem Leben entziehen und in Selbstzufriedenheit und ziemlicher Sicherheit auf die große Dunkelheit warten. Oder man konnte das Spiel spielen. Ein Spiel, dessen Regeln und Ziele nicht vorgeschrieben sind, die dem eigenen Herzen entspringen und dich leiten. Es gab nur eine wahre Vergangenheit. Aber es gab viele verschiedene Interpretationen davon. Es wird nur eine Zukunft geben, aber sie wird aus Myriaden von Möglichkeiten gegossen, aus dem Wollen und Tun von uns allen. Was ist der Sinn des Lebens? Was ist der Sinn einer solche Fragen, wenn die Antwort doch auf der Hand liegt. Der Sinn des Lebens ist das leben selbst. Es trägt seinen Sinn in sich.
Das ewige Spiel. Hineingeworfen, ohne Anleitung und Probezeit. Na und? Andere hatten ihr immer gesagt wie es lief - aber nie warum eigentlich so und nicht anders. Warum nicht besser? Ist das Leben nicht das, was wir aus unseren Illusionen und unserer Hoffnung durch das Streben nach Erfüllung Wirklichkeit wird? Kann nicht alles wahr sein, alles, was sich der menschliche Geist nur erdenken kann?
Irgendwann war ihr Spiel zu Ende. Irgendwann hieß es ab auf die Ersatzbank. Hier bis dort, wie lange? Unbekannt. Vielleicht schon in einem Augenblick, vielleicht aber erst in vielen Jahren. Was tun. Warten? Nein. Warum nicht hinein tauchen in die Wirren des Lebens, hinein in das Spiel, hinein in unzählige Schmerzen und Verletzungen, an ihnen wachsend, und hinein in die Momente des Glückes, die nur der zu schätzten weiß, der das Leiden kennt?
Der Geist ist frei zu fliegen.(Alles erwächst aus dem Geist. Es ist unwichtig was wahr ist, unwichtig was stimmt. Was hilft ist wahr.)
Die Gestalt zögerte einen kurzen Moment, sah in das vage Flackern vieler möglicher Zukünfte, faßte einen Entschluß und tauchte ein.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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