Das tanzende Klavier

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Das tanzende Klavier


© Rolf-Peter Wille


(Die Idee dieser Erzählung stammt vom französischen Komponisten Hector Berlioz, der in seinen Memoiren über einen Konzertwettbewerb im Pariser Conservatoire berichtet. Ich habe diese Geschichte hier - bereits vor einigen Jahren - nach Taiwan verpflanzt.)


Dies ist der Monat der Zentralprüfung. Viel ist in den Zeitungen über dieses äußerst wichtige alljährliche Ereignis geschrieben. Aber eine sehr merkwürdige und bedenkliche Begebenheit, die sich vor einigen Jahren (ich möchte aus offensichtlichen Gründen die genaue Jahreszahl verschweigen) bei der Zentralprüfung im Hauptfach Klavier zutrug, ist bisher von allen Beteiligten verschwiegen worden. Lange habe ich mit mir gerungen, ob ich dieses Schweigen brechen soll, aber ich glaube nun, daß man die seltsame Wahrheit den Lesern nicht mehr länger vorenthalten kann. Ich bitte meine Kollegen, die Juroren, die Zeugen dieses Vorfalls waren, meine Schwäche zu entschuldigen.

Man weiß, wie es bei diesen Prüfungen zugeht. Jeder Kandidat spielt drei Minuten lang ein selbstgewähltes Stück. Hunderte von Prüflingen reihen sich aneinander, stundenlang, tagelang… Die graue Monotonie in der schwülen Dschungelluft läßt ahnen, welche Qualen, welch endlos dahinkriechende Martern den zur Hölle verdammten Sünder erwarten.

Wir hörten bereits den dritten Tag, und unser dumpfes Dahindämmern wurde nur alle drei Minuten von der schrillen Klingel unterbrochen. Aber auch dieses Klingeln hatte sich schon längst periodiziert und fiel uns kaum noch auf. ‘Jeux d’eau’ hatten wir bereits 83mal gehört, das ‘Rondo capriccioso’ 50mal und die ‘Waldsteinsonate’ 117mal. Schon längst hatte ich jedes Gefühl für Zeit verloren. Die ewigen Wiederholungen hatten mich hypnotisiert und in eine Art Trance versetzt — wie man sie vielleicht nach ausgiebigem Drogengenuß kennt.

Wahrscheinlich war es dieser Trancezustand, der mich plötzlich die Waldsteinsonate (das 118temal) schneller als gewöhnlich hören ließ. Die Leichtigkeit und der Schwung des Vortrages waren ungewöhnlich. Die nächste Kandidatin spielte ebenfalls die Waldsteinsonate. Die Brillanz war ganz überwältigend. Auch die anderen Juroren schienen plötzlich aufzuwachen, und so war es offensichtlich nicht nur mein eigener subjektiver Eindruck. Es schien so, als wenn sich das Stück von allein spielte. Sogar die Spielerin selbst schien äußerst überrascht, und als nun das Klingelzeichen ertönte, passierte es: Das Klavier spielte einfach von selbst weiter — im gleichen ‘Waldsteinrhythmus’.

Nie, mein ganzes Leben nicht, werde ich diesen Moment der Verblüffung vergessen. Die Schülerin verbeugte sich schnell und rannte hinaus. Die Juroren saßen mit offenen Mündern da. Dann, nachdem er sich etwas gefaßt hatte, rief der Vorsitzende laut: "Stop! Halt!", und ich schlug mit dem Bleistift mehrmals laut und äußerst stark gegen meine Kaffeetasse, aber es half nichts; das Klavier spielte die Waldsteinsonate — und gar nicht so schlecht!

Es schien, als wenn es uns zeigen wollte, wozu es eigentlich fähig sei. Kein Wunder, daß man sich schließlich rächt, wenn man alle drei Minuten unterbrochen wird. Ich konnte in dieser Hinsicht das Klavier gut verstehen. So ein Instrument ist ein kompliziertes und sensibles Gebilde, das aus Myriaden von Einzelteilen besteht. Man hätte sich eigentlich denken können, daß das Klavier nach 119malen die Waldsteinsonate auswendiglernt und von selbst weiterspielt.

Der Vorsitzende stand schließlich auf und knallte den Pianodeckel — das Klavier spielte weiter. Der Herr Direktor eilte herbei — äußerst nervös — denn der funkelnagelneue Flügel hatte viel Geld gekostet. Man sprach mit dem Klavier, man flehte es an, man drohte ihm — es half nichts: Das Klavier spielte die Waldsteinsonate und zitterte im Rhythmus mit.

Man schlug schließlich vor, den General Manager der Klavierfirma zu holen. Schließlich hatte er das Klavier importiert und war verantwortlich. Der Manager eilte mit dem Firmenauto herbei und sprach japanisch mit dem Klavier — das Klavier spielte die Waldsteinsonate. Der Techniker erschien und drehte an allen Wirbeln — das Klavier spielte weiter — verstimmt, aber im Tempo.

Schließlich mußte der Direktor mit Tränen in den Augen zustimmen, den Flügel zu zerhacken. Nachdem die Arbeiter den Flügel zerhackt hatten, tanzten alle Einzelteile im Waldsteinrhythmus auf der Bühne weiter, und einige Tasten hopsten sogar ins Freie und versuchten zu flüchten. Die Polizei konnte sie erst nach einigen Tagen wieder einfangen, und seitdem befinden sie sich in einem Depot für gefährlichen Atommüll auf den Pescadoren.

Man hört hin und wieder heute noch Gerüchte, daß Touristen auf den Pescadoren vermeinen, auf einem Inselrundgang plötzlich die Waldsteinsonate gehört zu haben.


PS: Meine Beschreibung der Zentralprüfungen ist leider eher realistisch als ironisch. Der taiwanesische Atommüll jedoch ist eigentlich nicht auf den Pescadoren sondern auf Orchid Island deponiert. Ich fand damals folgenden Bericht in einer Zeitung hier:
Insulaner lieben Atommüll

Die Einwohner von Orchid Island verstehen nicht, was all' diese Aufregung um den Atommüll bedeutet. Die Bewohner dieser kleinen Insel behaupten, stolz darüber zu sein, dass Orchid Island als Ablageplatz für unbehandelten radioaktiven Abfall erwählt wurde und bedrängen die Provinzregierung, das Depot zur nationalen Touristenattraktion zu erklären.
...die Wahrheit übertrifft meine Ironie...
 

Zefira

Mitglied
Lieber Rolf-Peter,
jetzt will ich's aber WISSEN!!

Wo gibt es so ein Klavier zu KAUFEN??

Ich habe z.B. Schumanns Aufschwung bestimmt schon viel öfter als 118mal gespielt, aber der verdammte Kasten kann's immer noch nicht. :(

Gut zu wissen, daß es an dem Kasten liegt und nicht an mir... :cool:

Toll wie immer, Deine Geschichte. Mich erinnerte das an Zolas Darstellung der Preisvergaben in der Pariser Kunstakademie, wo ein Dutzend Tattergreise in zwei Tagen ein paar tausend Gemälde besichtigt und die zehn besten auswählt. Am besten an den Fingern abzählen... Gibt es denn noch taiwanesische Musiker, die nach einer solchen Prüfung noch Musik lieben??

Grüße aus der Rhön
Zefira

P.S. ja, die Flegeljahre hab ich angelesen, im Sommerurlaub ein Drittel, dann ging mir die Puste aus. Ich werde es im Winter beenden :rolleyes: und dann gleich mit den Papillons anfangen :rolleyes: :rolleyes:
 
Hallo Zefira,

es gibt noch historische Pianolas (ca. 1900-1930) und Klavierrollen mit den Fantasiestücken bestimmt auch (Paderewski?). Da spielt das Klavier dann "von selbst". Es gibt übrigens auch moderne "electronic playback systems" für Klaviere bzw. Flügel (Pianocorder, Pianodisc, Pianomation, Disclavier). Der Vorteil ist, daß man sie alle leicht ausschalten kann und nur in Notfällen zerhacken muß.

Ich wünsche Deinem Klavier viel Erfolg mit den Papillons!

Viele Gruesse,
Rolf-Peter
 
P

Parsifal

Gast
Das tanzende Klavier

Lieber Rolf-Peter,

die Firma Welte hat seinerzeit den Welte-Mignon-Flügel gebaut, der nicht nur lediglich die Töne, sondern auch feinste Anschlags-Nuancen registiert (und wiedergibt). Um die Wiedergabe zu verbessern, hat die Firma einen Mechanismus entwickelt, der einen modernen Konzertflügel in Bewegung setzt (ich stelle mir so etwas wie künstliche Anschlagshämmer vor). Auf diese Weise kann man z.B. Aufnahmen von Grieg so hören, wie er sie selbst gespielt hat.

Ich besitze eine Aufnahme "Eugen d'Abert und seine Schüler", die nach diesem Verfahren hergestellt wurde und es - abgesehen vom historischen Interesse - möglich macht, Interpretationen von früher und heute zu vergleichen.

Liebe Grüße
Parsifal
 

Antaris

Mitglied
Hochbegabtes Klavier

Hallo Rolf Peter,

die Idee zu der Geschichte ist toll, egal woher sie kommt! Ich hätte es dem Klavier allerdings gegönnt, die Leute einschließlich den Direktor so weit auszutricksen dass es weiterleben darf und nicht zerhackt wird :(. Schließlich ist es ein ungewöhnlich cleveres, talentiertes Ding...

LG

Antaris
 
Lieber Parsifal,

ja, auch ich habe viele Überspielungen von Rollenaufnahmen, aber ich ziehe akustische und elektrische Aufnahmen vor. Es gibt auch viele Rollensammler in Australien, Amerika und England. Man braucht unglaublich viel Platz, um diese Rollen zu lagern. Die Grieg Aufnahmen sind z. T. wiederum akustische Zylinder, die noch mit dem Edison Phonograph aufgenommen sind. Auch Brahms hat mal ein paar Takte gespielt (erster ungarischer Tanz) und einen Satz gesprochen. Leider kann man fast nichts verstehen.

Liebe Grüße,
Rolf-Peter

PS: Vielen Dank für die beiden Artikel, die ich bereits gelesen habe!
 

Antaris

Mitglied
Geistreiches Klavier

Hallo Rolf Peter,

dass es wenigstens noch ein bisschen spukt ist tröstlich! Ich muss gestehen, dass mir zu Deiner Geschichte auch etwas einfällt - ich weiß nur noch nicht wie die Geschichte ausgeht;). Darf ich sie hier bei Gelegenheit ins Forum stellen wenn ich fertig bin?

LG

Antaris
 
Hallo Antaris,

ja natuerlich! Parodie ist die Seele der Kunst. Auch ich hab' ja nur die Berlioz Idee fortgesetzt, und wer weiss, von wem der's hatte. Bin schon gespannt!

Viele Gruesse,
Rolf-Peter
 

Antaris

Mitglied
Ideen

Hallo Rolf-Peter,

klar, manche Ideen sind einfach viel zu gut um sie nur einmal auszuarbeiten,:cool: und wer weiß, wieviele eigensinnige Instrumente noch in den Blätterwäldern herumgeistern. Ich habe jedenfalls schon mal angefangen, aber so wie es ausschaut, wird es eher ein Melodram als eine Parodie, also vielleicht nichts für Dich, aber auf jeden Fall eine ziemlich andere Geschichte.

Übrigens habe ich mal einige Japaner aus der Provinz Fukushima kennengelernt, die alle stolz wie Oskar auf ihre Riesenatomkraftwerke dort waren!!!

LG

Antaris
 



 
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