Das Tier

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steyrer

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„Er ist wie ein Tier“, denkt sie und betrachtet den Jungen, der sich breitbeinig auf die gegenüberliegenden Sitze gelegt und seinen Rucksack auf den Boden geworfen hatte. Er blättert in einem Mathematikbuch und kritzelt etwas in einen Notizblock, danach schüttelt er den Kopf, zerknüllt den Zettel und wirft beides auf den Boden. Das Buch ist eine Ausgabe für Hauptschulen mit einer großen Drei auf dem Umschlag. „Also höchstens dreizehn“, stellt sie fest. Ihre Kopfschmerzen sind nach drei morgendlichen Tabletten beinahe verschwunden, aber sie fühlt sie immer noch wie unter örtlicher Betäubung. Sie fährt gewöhnlich nicht mit dem Zug, aber ein Marder hatte in ihrem Wagen Kabel durchgebissen. Ihre Fingernägel drücken sich beim Gedanken daran in den abgewetzten Kunststoffbezug. Der Junge gähnt und rekelt sich, bis seine in schmuddeligen Turnschuhen steckenden Füße an die Waggonwand stoßen. Seine Haare sind etwas wirr und das T-Shirt und die kurze Hose trägt er schon sehr lange. Bei jeder Bewegung weht ein Schwall spitzer Käsegeruch hinüber. Er holt ein Mobiltelefon aus dem Rucksack, oder besser einen Miniaturcomputer, legt den Kopf auf die linke äußere Armlehne und spricht mit Blick zur Decke. Seine Schneidezähne stehen etwas ab und die Ohren ragen aus einem struppigen Haardickicht. „Ja, wie ein Tier – ein Äffchen“, und gleich danach fällt ihr ihre Tochter Désirée ein, die ebenso alt ist, aber schon beinahe eine echte Dame. Sie fühlt wieder leise Kopfschmerzen. Der Junge riecht ihr Parfüm und verzieht sein Gesicht, danach erzählt er einen ordinären Witz und verbringt die nächsten Minuten damit, dessen Hauptfiguren durch Bekannte, Freunde und Lehrer zu ersetzen. Hinter ihm hängt ein Plakat mit einer Erdkugel in einer Hand und darunter steht: „Die Welt gehört dir.“
Ihre Kopfschmerzen kehren mit voller Stärke zurück. Sie sucht nach ihren Tabletten, aber findet sie nicht sofort. Schließlich schüttelt sie drei aus einem Glasfläschchen und trinkt dazu aus einer Mineralwasserflasche. Sie sieht sich um, ob sie jemand beobachtet, aber da ist nur dieser Junge, der über seinen eigenen Witz lacht. Plötzlich hält er inne und drückt mehrmals die Resettaste, danach schüttelt er es und wirft es mit einem Ausruf auf den gegenüberliegenden Sitz: „uraltes Zeug!“
„So eines will Désirée“, denkt sie beim Blick auf das beinahe neue Gerät, „aber sie muss nicht alles … nein, verflixt, ich habe die falschen Tabletten eingefüllt.“ Plötzlich scheint ihr, als falle sie in einen Abgrund und es wird dunkel. Als sie die Augen aufschlägt, sieht sie Wolken, Wasser, Wüsten und Wälder auf einer Kugel in der Hand dieses Jungen, aber es ist nicht die Welt, sondern sein Spielzeug – solange es funktioniert. Es funktioniert nicht und er schließt wütend die Hand. „Nein!“, ruft sie, und erwacht. Sie sieht sich um: Hat sie etwas gesagt? Der Junge beachtet sie nicht. Sein Spielzeug funktioniert wieder und er hört damit Musik. Nachdem die Übelkeit nachgelassen hatte, stellt sie fest, dass sie über das Ziel hinausgefahren ist. Fünf Minuten später steht sie auf einem Bahnsteig und überlegt, ob sie auf einen Gegenzug warten oder ein Taxi rufen soll. Schließlich fühlt sie Schwindel und setzt sich. Die Sonne geht eben als blutroter Ball auf und sie blinzelt hinein.
„Uraltes Zeug“, hört sie die Stimme des Jungen laut hinter sich. Sie dreht sich um, aber da ist niemand. Mit ohrenbetäubendem Getöse fährt nun der Zug wieder an. „Ich muss zum Arzt", murmelt sie, „zum Arzt.“
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Gefällt mir. An einigen Stellen müsstest du noch genauer arbeiten, damit man den Zusammenhang versteht. Zum Beispiel hier:

Plötzlich hält er inne und drückt mehrmals die Resettaste
Du meinst die Resettaste des Handys, aber das Handy bzw. der Minicomputer wird sehr viel früher im Text erwähnt, so dass man nicht gleich weiß, was gemeint ist. Schreib die 'Resettaste seines Handys' und das Problem ist gelöst.

Mir gefällt, wie du mit wenigen Worten eine sonderbare Stimmung erzeugst und die wenige wörtliche Rede aus dem ursprünglichen Kontext nimmst und neu verwendest:

„Uraltes Zeug“, hört sie die Stimme des Jungen laut hinter sich
Die blutrote Sonne als 'uraltes Zeug', das gefällt mir.

Ich frage mich nur, ob du mit dem Hauptschüler hier nicht das Klischee des HONKS ausreizt. Die Tochter Desirée dagegen als junge Dame zu charakterisieren lässt die Protagonistin fast schon unsympathisch wirken.

Gruß,

CPMAn
 

Ji Rina

Mitglied
Mir hat die kurze Geschichte gefallen: Die Atmosphäre zwischen dem nervigen Jungen und der genervten Frau wird gut beschrieben.
An zwei Stellen fehlte mir ein bisschen “das Bild”:
- Sie sieht sich um, ob jemand sie beobachtet (Wo sind sie denn? In einem Abteil? Im “offenen Zug”? Wenn ja, wie reagieren denn die anderen nahesitzenden auf den Jungen?
- Er erzählt einen ordinären Witz: Das ist eine “längere” Angelegenheit….Was macht er dann? Lacht er? Ist ausser der Frau, da sonst kein Mensch in der Nähe? Wie reagieren die anderen darauf?

Diese Stimmung (die auch ich aus Zugfahrten gut kenne) hast Du gut beschrieben!
Lieben Gruss,
Ji
 

steyrer

Mitglied
„Er ist wie ein Tier“, denkt sie und betrachtet den Jungen, der sich in der Sitzreihe gegenüber hingelegt und seinen Rucksack auf den Boden geworfen hatte. Er blättert in einem Mathematikbuch und kritzelt etwas in einen Notizblock, danach schüttelt er den Kopf, zerknüllt den Zettel und wirft beides auf den Boden. Das Buch ist eine Ausgabe für Hauptschulen mit einer großen Drei auf dem Einband. „Also höchstens dreizehn“, stellt sie fest. Ihre Kopfschmerzen sind nach drei morgendlichen Tabletten beinahe verschwunden, aber sie fühlt sie immer noch wie unter örtlicher Betäubung. Sie fährt gewöhnlich nicht mit dem Zug, aber ein Marder hatte in ihrem Wagen Kabel durchgebissen. Ihre Fingernägel drücken sich beim Gedanken daran in den abgewetzten Kunststoffbezug. Der Junge gähnt und rekelt sich, bis seine in schmuddeligen Turnschuhen steckenden Füße über die Armlehne in den Gang ragen. Seine Haare sind etwas wirr und das T-Shirt und die kurze Hose trägt er schon sehr lange. Bei jeder Bewegung weht ein Schwall spitzer Käsegeruch hinüber. Er holt ein Mobiltelefon aus dem Rucksack, oder besser einen Miniaturcomputer, legt den Kopf auf die Armlehne bei der Waggonwand und spricht mit Blick zur Decke. Seine Schneidezähne stehen etwas ab und die Ohren ragen aus einem struppigen Haardickicht. „Ja, wie ein Tier – ein Äffchen“, und gleich danach fällt ihr ihre Tochter Désirée ein, die ebenso alt ist, aber wie eine Dame aussieht. Ob es in Ordnung ist, einen fremden Jungen so anzustarren, fragt sie sich und beruhigt sich selbst: „Aber natürlich, da ist noch nichts los“. Der Junge riecht ihr Parfüm und verzieht sein Gesicht, danach erzählt er einen ordinären Witz und verbringt die nächsten Minuten feixend damit, dessen Hauptfiguren durch Bekannte, Freunde und Lehrer zu ersetzen. Auf einer Zeitschrift, die hinter ihm an einem Haken hängt, ist eine Erdkugel in einer Hand zu sehen und darunter steht: „Die Welt gehört dir.“
Ihre Kopfschmerzen kehren mit voller Stärke zurück. Sie sucht nach ihren Tabletten, aber findet sie nicht sofort. Schließlich schüttelt sie drei aus einem Glasfläschchen und trinkt dazu aus einer Mineralwasserflasche. Sie sieht sich um, ob sie jemand beobachtet, aber da ist nur dieser Junge, der über den Witz lacht. Plötzlich hält er inne und drückt mehrmals die Resettaste des Telefons, danach schüttelt er es und wirft es mit einem Ausruf auf den gegenüberliegenden Sitz: „uraltes Zeug!“
„So eines will Désirée“, denkt sie beim Blick auf das beinahe neue Gerät, „aber sie muss nicht alles … nein, verflixt, ich habe die falschen Tabletten eingefüllt.“ Plötzlich scheint ihr, als falle sie in einen Abgrund und es wird dunkel. Als sie die Augen aufschlägt, sieht sie Wolken, Wasser, Wüsten und Wälder auf einer Kugel in der Hand dieses Jungen, aber es ist nicht die Welt, sondern sein Spielzeug – solange es funktioniert. Es funktioniert nicht und er schließt wütend die Hand. „Nein!“, ruft sie, und erwacht. Sie sieht sich um: Hat sie etwas gesagt? Der Junge beachtet sie nicht. Sein Spielzeug funktioniert wieder und er hört damit Musik. Nachdem die Übelkeit nachgelassen hatte, stellt sie fest, dass sie über das Ziel hinausgefahren ist. Fünf Minuten später steht sie auf einem Bahnsteig und überlegt, ob sie auf einen Gegenzug warten oder ein Taxi rufen soll. Schließlich fühlt sie Schwindel und setzt sich. Die Sonne geht eben als blutroter Ball auf und sie blinzelt hinein.
„Uraltes Zeug“, hört sie die Stimme des Jungen laut neben sich. Sie sieht sich um, aber da ist niemand. Mit ohrenbetäubendem Getöse fährt nun der Zug wieder an. „Ich muss zum Arzt“, murmelt sie, „zum Arzt.“
 

steyrer

Mitglied
Hallo, CPMan und Ji Rina!

@CPMan:
Du meinst die Resettaste des Handys, aber das Handy bzw. der Minicomputer wird sehr viel früher im Text erwähnt, so dass man nicht gleich weiß, was gemeint ist. Schreib die 'Resettaste seines Handys' und das Problem ist gelöst.
Nun, das habe ich jetzt geändert.

Was das angesprochene Klischee betrifft: Die Charaktereigenschaften sind stark zugespitzt und vereinfacht, denn die Geschichte hat weniger als 600 Wörter. Der Junge verärgert/verunsichert mit seiner demonstrativen Unbekümmertheit seine Umgebung – hier eben die kultivierte Dame. Ich habe ihn als Aspekt der Hauptfigur gedacht, er verkörpert also bestimmte Gefühle bzw. Befürchtungen.

@Ji Rina:
Sie sieht sich um, ob jemand sie beobachtet (Wo sind sie denn? In einem Abteil? Im “offenen Zug”?
Es ist ein frühmorgendlicher Regionalzug, also einer, der alle paar Minuten hält. Ich habe jetzt versucht, das deutlicher zu machen. Ich hatte anfangs vor, mehrere Personen auftreten zu lassen, habe mich dann aber wegen der Kürze auf zwei beschränkt.

Er erzählt einen ordinären Witz: Das ist eine “längere” Angelegenheit….Was macht er dann? Lacht er?
Dito.

An beide: Ich freue mich, dass meine Geschichte ansonsten gefällt.

Schöne Grüße
steyrer
 

Ji Rina

Mitglied
@ steyrer

""Ich hatte anfangs vor, mehrere Personen auftreten zu lassen, habe mich dann aber wegen der Kürze auf zwei beschränkt.""

Also ich find die Story so, kurz und knackig. Wäre mit mehreren Personen wohl ein ganz anderer Effekt.
Mit Gruss,
Ji
 



 
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