Das Todespendel

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rotkehlchen

Mitglied
Das Todespendel

Am Morgen des 12. Juni, um 5 Uhr 30, holten sie mich aus der Zelle, in der ich seit einer Woche auf dem nackten Lehmboden lag. Bisher hatte ich eisern geschwiegen; ich sah es ihren Gesichtern an, dass sie langsam ungeduldig wurden und endlich Ergebnisse haben wollten. Wider Erwarten führten sie mich nicht in den bekannten Verhörraum, in dem es nach Urin und Erbrochenem roch; sie verbanden mir die Augen, setzten mich in ein Auto und fuhren mit mir eine gefühlt endlose Zeit in der Gegend herum. Als sie mir die Augenbinde abnahmen und ich wieder sehen konnte, befand ich mich in einem hohen, turmartigen Raum, der nur durch eine kleine, viereckige Luke hart unter dem Dach schwach erhellt wurde. Es war der Turm einer Wehrburg, einer dieser alten Festungsbauten, die überall auf der Welt zu finden sind. Von der Decke hing ein Seil herab, an dem eine große Kugel befestigt war, daneben stand eine kahle Liege.
Einer der schwarz vermummten Gestalten – Mitglieder einer gefürchteten Terrororganisation – befahl mir, die Kleider auszuziehen und mich mit gespreizten Beinen und ausgebreiteten Armen mit dem Rücken auf die Pritsche zu legen. Dann banden sie mich an Füßen und Händen an der Liege fest. Sie setzten die Kugel in Bewegung und verließen den Raum.
Ich war allein.
Trotz der unzureichenden Beleuchtung nahm ich sofort zwei Dinge wahr: Aus der Unterseite der Kugel ragte die zehn Zentimeter lange spitze Klinge eines Messers hervor, und an der Wand mir gegenüber hing eine Videokamera, die genau auf die Liege gerichtet war. Mir war sofort klar: Sie hatten vor, mich aufs Grausamste zu quälen und meine Qualen zu filmen, um ein Exempel ihrer Grausamkeit zu statuieren. Diese Tortur würde alles übertreffen, was mir bisher an perversen Schikanen berichtet worden war.
Die Kugel mit dem Messer – ich konnte nicht erkennen, aus welchem Material sie bestand, Eisen oder Beton, aber es musste eine schwere Masse sein, sonst funktionierte die tödliche Maschinerie nicht – bewegte sich langsam hin und her. Ich kannte diese Vorrichtung noch aus meiner Schulzeit. Im Physiksaal hing solch eine Kugel, sie war aus Eisen, nur viel kleiner. Zu Unterrichtsbeginn zog der Lehrer auf dem Boden einen Kreidestrich, der die ursprüngliche Ausrichtung der Pendelbewegungen anzeigte. Am frühen Nachmittag, zu Schulschluss, pendelte die Kugel im rechten Winkel zu dem Strich. Die Kugel, ein so genanntes Foucaultsche Pendel, war wegen der Trägheit ihrer schweren Masse der Erddrehung nicht oder nur unvollständig gefolgt. Der Fußboden, das Klassenzimmer, die Schule hatten sich scheinbar im Vergleich zum Pendel gedreht. Damals hatte mich diese Erkenntnis fasziniert; die gleichmäßige, gleichsam bedächtige Pendelbewegung hatte ich als Beweis für die unerschütterliche Gültigkeit der Naturgesetze empfunden. Doch jetzt standen mir die Haare zu Berge. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen, was sie mit mir vorhatten. Die Liege würde sich langsam in die Pendelbewegung hineindrehen, und das Messer würde meinen Leib filettieren.
Ich blickte nach oben, wo ein Strahl der aufsteigenden Sonne ein helles Rechteck an die gegenüberliegend Wand des Turms projizierte. Ich überlegte: Sollte das alles ein Traum sein? Ein entsetzlicher, widerlicher Alptraum, bedingt durch Mangel an Sauerstoff und falsches Atmen? Sofort verwarf ich diesen Gedanken wieder. Nein, das konnte kein Traum sein, die Situation war zu real, zu beklemmend, der Geruch nach Urin und Ratten zu deutlich, die Hitze, die sich allmählich einstellte, zu schweißtreibend.
Ich drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite, fasste die Kugel scharf ins Auge und verglich ihre Bahn mit der Stellung der Liege. Noch konnte ich keine Veränderung feststellen, noch stand die Liege unverändert parallel zu den Pendelbewegungen. Doch ich gab mich keinerlei Illusionen hin: Damit, dass ein gütiger Gott meinetwegen die Naturgesetze außer Kraft setze und die Erde in ihrer Drehung anhielt – wo ich noch nicht einmal an ihn glaubte, und wo er doch sonst durch wenig glorreiche Abwesenheit glänzt – damit war doch nun wirklich nicht zu rechnen. Nein, es war einfach so: In der kurzen Zeit, in den wenigen Minuten, die vergangen waren, seitdem die Rebellen die Kugel in Bewegung versetzt hatten, konnte sich auch noch nichts merklich verändert haben, schon gar nicht in einem Land, in dem sich die Erde langsamer dreht als anderswo, und in dem Zeit keine Rolle spielt. Auch ich würde jetzt endlich Zeit haben, viel, viel Zeit, doch diese Zeit würde bald nichts mehr wert sein.
Verschiedene Gedanken gingen mir durch den Kopf. Bekannte, die es gut mit mir meinten, hatten mich gewarnt; geh nicht in dieses Land, hatten sie mich beschworen, du bist ein Mitglied einer ihnen bis aufs Blut verhassten Nation und in Angelegenheiten unterwegs, die sie fürchten; wenn sie dich fassen, ist dein Leben kein Pfifferling mehr wert, du kannst noch froh sein, wenn sie dir nur den Kopf abschlagen.
Dass ich über ein Kopfabschlagen froh sein würde, damit hatten sie wohl Recht. Doch nun war es zu spät.

Für eine Weile verfiel ich in eine Art somnambulen Dämmerzustand; als ich die Augen wieder öffnete und meine Benommenheit gewichen war, galt mein erster Blick der Kugel. Es war eine merkliche Veränderung eingetreten, also musste ich eine ganze Weile gedöst haben, ohne es zu merken. Die Liege stand nun nicht mehr parallel zur Pendelbewegung, sondern im Winkel dazu. Sie hatte sich bereits erkennbar gedreht. Noch war die Drehung unbedeutend, noch glitt das Messer in sicherer Entfernung an der Liege vorbei, aber allein die Tatsache, dass sie geschehen war, ließ mich erschauern.
Der Lichtfleck war inzwischen ein gehöriges Stück die Wand herunter gerutscht und zur Raute mutiert. Anhand der Entfernung, die der Fleck zurückgelegt hatte, versuchte ich die Zeit zu bestimmen, die seit meiner Fesselung vergangen war. Die Sonne steigt in diesen Breiten schnell auf, also konnte nicht mehr als eine Stunde vergangen sein. Das bedeutete, bevor die eigentliche Tortur begann, lagen noch Stunden qualvollen Bangens vor mir.
Seltsamerweise hielt sich meine Angst noch in Grenzen; die unbequeme Lage und die Hitze beschäftigten mich jetzt mehr als der Gedanke an mein grausames Ende. Nun ja, ich bin keiner, der schnell Angst bekommt; wenn du ein Hasenfuß bist, darfst du dich nicht als investigativer Journalist in ein Kriegsgebiet mit überbordendem Terrorismus begeben, nicht in einer Region nach Menschenrechten fragen, in der die Menschenrechte nicht mehr gelten. Dann bleib zuhause und berichte über Salmonellen im Softeis. Außerdem nahm ich zu diesem Zeitpunkt noch an, dass es ein brutaler Bluff war; dass sie mich zermürben wollten, um Dinge aus mir herauszupressen, die zu bewahren ich geschworen hatte. Die Vorstellung, sie würden mich auf diese Weise tatsächlich zu Tode martern, war einfach zu abartig, auch für ein Land, wo tagtäglich die entsetzlichen Dinge geschahen. Noch rechnete ich stark damit, dass sie wiederkommen und dem grausamen Spiel ein Ende bereiten würden.
Doch nichts dergleichen geschah. Stunde um Stunde verrann, die helle Raute wurde wieder zum Viereck, immer mehr drehten sich Turm und Liege in die Bahnbewegung der Kugel hinein.
Bald schwang das Messer in bedrohlicher Nähe an meinem Körper vorbei; Schon vermeinte ich, seinen tödlichen Atem zu spüren.
Ich konnte jetzt absehen, an welcher Stelle die Klinge auf meinen wehrlosen Körper treffen würde.
Und auf einmal war die Angst da. Sie kam unverhofft über mich und mit der elementaren Wucht eines Tsunamis. Es war, als habe sich in meinem Gehirn ein Hebel umgelegt und mich in eine andere, animalische Bewusstseinsstufe katapultiert. Die Angst überlagerte alles: Die Schmerzen, die mir die Druckstellen durch das fast bewegungslose Liegen bereiteten; der Vorsatz, nicht klein beizugeben und nichts zu gestehen, was Freunden das Leben kosten konnten; die Hoffnung, dass alles nur ein gewaltiger Bluff war. Mit aller Kraft zerrte ich an meinen Fesseln, wieder und immer wieder bäumte ich mich auf; der Schweiß lief in Strömen an mir herunter, schließlich sank ich entkräftet zurück. Ich schrie um Hilfe, laut, wild, brünstig, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Meine Schreie prallten von den Wänden des Turms ab und kamen gebrochen und vervielfältigt aber ungehört zurück.
Denn natürlich antwortete niemand, nichts rührte sich, nur die messerbewehrte Kugel, diese perverse Ausgeburt eines krankhaftes Hirns, zog unverändert ihre Bahn, und die Pritsche hatte sich noch weiter gedreht. Die schwarzblaue, furchterregende Klinge war jetzt nur noch wenige Zentimeter von meinem Körper entfernt.
In wilder Verzweiflung brach ich in hemmungsloses Schluchzen aus. Es war mir jetzt egal, dass sie meine Hilflosigkeit filmten, dass sie sich an meiner nackten Angst und an meinem Jammer weideten; es war mir egal, dass die Bilder meiner Schmach und meines unwürdigen Ausgebreitetseins im Darknet bald um die Welt gingen. Nur eines tröstete mich: Ich hatte weder Frau noch Kind, die das Entsetzen über mein Ende ins Unglück stürzen würde.
Das furchtbare Todespendel bewegte jetzt nur noch mit halber Kraft; wider besseres Wissen versuchte ich, die Hände auszustrecken und es anzuhalten. Und da geschah etwas Eigenartiges: Die Tränen versiegten, der Jammer verebbte, ein Hoffnungsschimmer blitzte auf. Ich bildete mir ein, die Kugel könnte, bevor die Klinge den ersten Schnitt tat, ganz aufhören zu pendeln, denn ihre Schwingungsweite hatte bereits stark abgenommen. Es war eine Illusion, die jeder physikalischen Grundlage entbehrte, aber wie jede Illusion für den Moment erlösend. Argwöhnisch bestarrte ich die Pendelbewegungen. In meinem Wahn bildete ich mir ein, ich könne das anscheinend kraftlose Monstrum kraft meines Willens anhalten. Ich versuchte, fest an einen Erfolg zu glauben. Hatte man mich nicht gelehrt, dass Glaube Berge versetzen kann? Warum nicht auch eine Eisenkugel zum Stehen bringen, was doch eigentlich viel einfacher ist? Hätte ich wenigstens beten können! Angeblich lernen manche Menschen in ähnliches Situationen wieder das Beten. Ich denke, sie haben es nie gänzlich verlernt, aber ich hatte das Beten nie gelernt! Beten, wenn es einem dreckig geht! Welch furchtbare Menschen-Hybris! Der Allmächtige soll wegen eines Staubkorns, wie ich eines bin, den Lauf der Welt ändern?
Natürlich kann ich mich nicht dafür verbürgen, dass dergleichen Gedanken mir damals eins zu eins durch den Kopf gingen, ich denke eher nicht. Aber ich begriff: Mit oder ohne Gottes Hilfe würde die Kugel noch stundenlang weiterschwingen, bedächtiger zwar, aber nicht weniger gleichmäßig, nicht weniger bedrohlich, nicht weniger furchtbar; die Pritsche würde sich mit gnadenloser Beständigkeit weiter in ihre Bahn hinein drehen, denn diese Bewegung hing ja nicht von der Kugel ab, sondern von der Erddrehung, und ihre Kraft würde immer noch ausreichen, um die Klinge durch mein Fleisch wie durch Butter hindurchzutreiben.
Mit der gnadenlosen Härte eines Arztes, der die Auswirkungen eines gewagten Selbstversuchs beobachtet, starrte ich auf das Messer und erwartete den ersten Schnitt. Wurde ich vor Schmerzen schreien oder würde ich die Schmerzen aushalten? Würde viel Blut fließen? Würde ich schnell ohnmächtig werden? Und, vielleicht ist es ja gar nicht so schmerzhaft, fantasierte ich, man hört ja häufig, dass starke Verletzungen zusammen mit starker Erregung zunächst gar nicht so weh tun, vielleicht würde ich ja bald, geschwächt durch den Blutverlust, in ein barmherziges Koma versinken.
Die Klinge war jetzt nur noch wenige Millimeter von meinem Körper entfernt. Noch ein paar Pendelbewegungen, und dann... Ich hielt den Atem an und konzentrierte mich ganz auf den zu erwartenden Schmerz, da –
Die Tür sprang auf, Soldaten stürzten herein; zwei warfen sich auf die Kugel und hielten sie an, ein anderer löste meine Fesseln, warf mir meine Kleider zu und rief, ein Friedensvertrag der Regierung mit den Rebellen, der die sofortige Freilassung aller Gefangenen bewirke, sei nach Monaten zäher Verhandlungen doch noch zustande gekommen.
Ich hörte die Worte, aber ich begriff sie nicht sofort. Ich hatte nur eines im Sinn: Trinken, trinken, trinken! In meinen Eingeweiden tobte der Durst, meine geschwollene Zunge klebte am Gaumen. Mit versagender Kehle stammelte ich: „Wasser! Wasser!“
Einer der Soldaten lief hinaus und kam mit einer Flasche Wasser zurück.
 

rotkehlchen

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Das Todespendel

(In Memoriam Edgar E. Poe)

Am Morgen des 12. Juni, um 5 Uhr 30, holten sie mich aus der Zelle, in der ich seit einer Woche auf dem nackten Lehmboden lag. Bisher hatte ich eisern geschwiegen; ich sah es ihren Gesichtern an, dass sie langsam ungeduldig wurden und endlich Ergebnisse haben wollten. Wider Erwarten führten sie mich nicht in den bekannten Verhörraum, in dem es nach Urin und Erbrochenem roch; sie verbanden mir die Augen, setzten mich in ein Auto und fuhren mit mir eine gefühlt endlose Zeit in der Gegend herum. Als sie mir die Augenbinde abnahmen und ich wieder sehen konnte, befand ich mich in einem hohen, turmartigen Raum, der nur durch eine kleine, viereckige Luke hart unter dem Dach schwach erhellt wurde. Es war der Turm einer Wehrburg, einer dieser alten Festungsbauten, die überall auf der Welt zu finden sind. Von der Decke hing ein Seil herab, an dem eine große Kugel befestigt war, daneben stand eine kahle Liege.
Einer der schwarz vermummten Gestalten – Mitglieder einer gefürchteten Terrororganisation – befahl mir, die Kleider auszuziehen und mich mit gespreizten Beinen und ausgebreiteten Armen mit dem Rücken auf die Pritsche zu legen. Dann banden sie mich an Füßen und Händen an der Liege fest. Sie setzten die Kugel in Bewegung und verließen den Raum.
Ich war allein.
Trotz der unzureichenden Beleuchtung nahm ich sofort zwei Dinge wahr: Aus der Unterseite der Kugel ragte die zehn Zentimeter lange spitze Klinge eines Messers hervor, und an der Wand mir gegenüber hing eine Videokamera, die genau auf die Liege gerichtet war. Mir war sofort klar: Sie hatten vor, mich aufs Grausamste zu quälen und meine Qualen zu filmen, um ein Exempel ihrer Grausamkeit zu statuieren. Diese Tortur würde alles übertreffen, was mir bisher an perversen Schikanen berichtet worden war.
Die Kugel mit dem Messer – ich konnte nicht erkennen, aus welchem Material sie bestand, Eisen oder Beton, aber es musste eine schwere Masse sein, sonst funktionierte die tödliche Maschinerie nicht – bewegte sich langsam hin und her. Ich kannte diese Vorrichtung noch aus meiner Schulzeit. Im Physiksaal hing solch eine Kugel, sie war aus Eisen, nur viel kleiner. Zu Unterrichtsbeginn zog der Lehrer auf dem Boden einen Kreidestrich, der die ursprüngliche Ausrichtung der Pendelbewegungen anzeigte. Am frühen Nachmittag, zu Schulschluss, pendelte die Kugel im rechten Winkel zu dem Strich. Die Kugel, ein so genanntes Foucaultsche Pendel, war wegen der Trägheit ihrer schweren Masse der Erddrehung nicht oder nur unvollständig gefolgt. Der Fußboden, das Klassenzimmer, die Schule hatten sich scheinbar im Vergleich zum Pendel gedreht. Damals hatte mich diese Erkenntnis fasziniert; die gleichmäßige, gleichsam bedächtige Pendelbewegung hatte ich als Beweis für die unerschütterliche Gültigkeit der Naturgesetze empfunden. Doch jetzt standen mir die Haare zu Berge. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen, was sie mit mir vorhatten. Die Liege würde sich langsam in die Pendelbewegung hineindrehen, und das Messer würde meinen Leib filettieren.
Ich blickte nach oben, wo ein Strahl der aufsteigenden Sonne ein helles Rechteck an die gegenüberliegend Wand des Turms projizierte. Ich überlegte: Sollte das alles ein Traum sein? Ein entsetzlicher, widerlicher Alptraum, bedingt durch Mangel an Sauerstoff und falsches Atmen? Sofort verwarf ich diesen Gedanken wieder. Nein, das konnte kein Traum sein, die Situation war zu real, zu beklemmend, der Geruch nach Urin und Ratten zu deutlich, die Hitze, die sich allmählich einstellte, zu schweißtreibend.
Ich drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite, fasste die Kugel scharf ins Auge und verglich ihre Bahn mit der Stellung der Liege. Noch konnte ich keine Veränderung feststellen, noch stand die Liege unverändert parallel zu den Pendelbewegungen. Doch ich gab mich keinerlei Illusionen hin: Damit, dass ein gütiger Gott meinetwegen die Naturgesetze außer Kraft setze und die Erde in ihrer Drehung anhielt – wo ich noch nicht einmal an ihn glaubte, und wo er doch sonst durch wenig glorreiche Abwesenheit glänzt – damit war doch nun wirklich nicht zu rechnen. Nein, es war einfach so: In der kurzen Zeit, in den wenigen Minuten, die vergangen waren, seitdem die Rebellen die Kugel in Bewegung versetzt hatten, konnte sich auch noch nichts merklich verändert haben, schon gar nicht in einem Land, in dem sich die Erde langsamer dreht als anderswo, und in dem Zeit keine Rolle spielt. Auch ich würde jetzt endlich Zeit haben, viel, viel Zeit, doch diese Zeit würde bald nichts mehr wert sein.
Verschiedene Gedanken gingen mir durch den Kopf. Bekannte, die es gut mit mir meinten, hatten mich gewarnt; geh nicht in dieses Land, hatten sie mich beschworen, du bist ein Mitglied einer ihnen bis aufs Blut verhassten Nation und in Angelegenheiten unterwegs, die sie fürchten; wenn sie dich fassen, ist dein Leben kein Pfifferling mehr wert, du kannst noch froh sein, wenn sie dir nur den Kopf abschlagen.
Dass ich über ein Kopfabschlagen froh sein würde, damit hatten sie wohl Recht. Doch nun war es zu spät.

Für eine Weile verfiel ich in eine Art somnambulen Dämmerzustand; als ich die Augen wieder öffnete und meine Benommenheit gewichen war, galt mein erster Blick der Kugel. Es war eine merkliche Veränderung eingetreten, also musste ich eine ganze Weile gedöst haben, ohne es zu merken. Die Liege stand nun nicht mehr parallel zur Pendelbewegung, sondern im Winkel dazu. Sie hatte sich bereits erkennbar gedreht. Noch war die Drehung unbedeutend, noch glitt das Messer in sicherer Entfernung an der Liege vorbei, aber allein die Tatsache, dass sie geschehen war, ließ mich erschauern.
Der Lichtfleck war inzwischen ein gehöriges Stück die Wand herunter gerutscht und zur Raute mutiert. Anhand der Entfernung, die der Fleck zurückgelegt hatte, versuchte ich die Zeit zu bestimmen, die seit meiner Fesselung vergangen war. Die Sonne steigt in diesen Breiten schnell auf, also konnte nicht mehr als eine Stunde vergangen sein. Das bedeutete, bevor die eigentliche Tortur begann, lagen noch Stunden qualvollen Bangens vor mir.
Seltsamerweise hielt sich meine Angst noch in Grenzen; die unbequeme Lage und die Hitze beschäftigten mich jetzt mehr als der Gedanke an mein grausames Ende. Nun ja, ich bin keiner, der schnell Angst bekommt; wenn du ein Hasenfuß bist, darfst du dich nicht als investigativer Journalist in ein Kriegsgebiet mit überbordendem Terrorismus begeben, nicht in einer Region nach Menschenrechten fragen, in der die Menschenrechte nicht mehr gelten. Dann bleib zuhause und berichte über Salmonellen im Softeis. Außerdem nahm ich zu diesem Zeitpunkt noch an, dass es ein brutaler Bluff war; dass sie mich zermürben wollten, um Dinge aus mir herauszupressen, die zu bewahren ich geschworen hatte. Die Vorstellung, sie würden mich auf diese Weise tatsächlich zu Tode martern, war einfach zu abartig, auch für ein Land, wo tagtäglich die entsetzlichen Dinge geschahen. Noch rechnete ich stark damit, dass sie wiederkommen und dem grausamen Spiel ein Ende bereiten würden.
Doch nichts dergleichen geschah. Stunde um Stunde verrann, die helle Raute wurde wieder zum Viereck, immer mehr drehten sich Turm und Liege in die Bahnbewegung der Kugel hinein.
Bald schwang das Messer in bedrohlicher Nähe an meinem Körper vorbei; Schon vermeinte ich, seinen tödlichen Atem zu spüren.
Ich konnte jetzt absehen, an welcher Stelle die Klinge auf meinen wehrlosen Körper treffen würde.
Und auf einmal war die Angst da. Sie kam unverhofft über mich und mit der elementaren Wucht eines Tsunamis. Es war, als habe sich in meinem Gehirn ein Hebel umgelegt und mich in eine andere, animalische Bewusstseinsstufe katapultiert. Die Angst überlagerte alles: Die Schmerzen, die mir die Druckstellen durch das fast bewegungslose Liegen bereiteten; der Vorsatz, nicht klein beizugeben und nichts zu gestehen, was Freunden das Leben kosten konnten; die Hoffnung, dass alles nur ein gewaltiger Bluff war. Mit aller Kraft zerrte ich an meinen Fesseln, wieder und immer wieder bäumte ich mich auf; der Schweiß lief in Strömen an mir herunter, schließlich sank ich entkräftet zurück. Ich schrie um Hilfe, laut, wild, brünstig, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Meine Schreie prallten von den Wänden des Turms ab und kamen gebrochen und vervielfältigt aber ungehört zurück.
Denn natürlich antwortete niemand, nichts rührte sich, nur die messerbewehrte Kugel, diese perverse Ausgeburt eines krankhaftes Hirns, zog unverändert ihre Bahn, und die Pritsche hatte sich noch weiter gedreht. Die schwarzblaue, furchterregende Klinge war jetzt nur noch wenige Zentimeter von meinem Körper entfernt.
In wilder Verzweiflung brach ich in hemmungsloses Schluchzen aus. Es war mir jetzt egal, dass sie meine Hilflosigkeit filmten, dass sie sich an meiner nackten Angst und an meinem Jammer weideten; es war mir egal, dass die Bilder meiner Schmach und meines unwürdigen Ausgebreitetseins im Darknet bald um die Welt gingen. Nur eines tröstete mich: Ich hatte weder Frau noch Kind, die das Entsetzen über mein Ende ins Unglück stürzen würde.
Das furchtbare Todespendel bewegte jetzt nur noch mit halber Kraft; wider besseres Wissen versuchte ich, die Hände auszustrecken und es anzuhalten. Und da geschah etwas Eigenartiges: Die Tränen versiegten, der Jammer verebbte, ein Hoffnungsschimmer blitzte auf. Ich bildete mir ein, die Kugel könnte, bevor die Klinge den ersten Schnitt tat, ganz aufhören zu pendeln, denn ihre Schwingungsweite hatte bereits stark abgenommen. Es war eine Illusion, die jeder physikalischen Grundlage entbehrte, aber wie jede Illusion für den Moment erlösend. Argwöhnisch bestarrte ich die Pendelbewegungen. In meinem Wahn bildete ich mir ein, ich könne das anscheinend kraftlose Monstrum kraft meines Willens anhalten. Ich versuchte, fest an einen Erfolg zu glauben. Hatte man mich nicht gelehrt, dass Glaube Berge versetzen kann? Warum nicht auch eine Eisenkugel zum Stehen bringen, was doch eigentlich viel einfacher ist? Hätte ich wenigstens beten können! Angeblich lernen manche Menschen in ähnliches Situationen wieder das Beten. Ich denke, sie haben es nie gänzlich verlernt, aber ich hatte das Beten nie gelernt! Beten, wenn es einem dreckig geht! Welch furchtbare Menschen-Hybris! Der Allmächtige soll wegen eines Staubkorns, wie ich eines bin, den Lauf der Welt ändern?
Natürlich kann ich mich nicht dafür verbürgen, dass dergleichen Gedanken mir damals eins zu eins durch den Kopf gingen, ich denke eher nicht. Aber ich begriff: Mit oder ohne Gottes Hilfe würde die Kugel noch stundenlang weiterschwingen, bedächtiger zwar, aber nicht weniger gleichmäßig, nicht weniger bedrohlich, nicht weniger furchtbar; die Pritsche würde sich mit gnadenloser Beständigkeit weiter in ihre Bahn hinein drehen, denn diese Bewegung hing ja nicht von der Kugel ab, sondern von der Erddrehung, und ihre Kraft würde immer noch ausreichen, um die Klinge durch mein Fleisch wie durch Butter hindurchzutreiben.
Mit der gnadenlosen Härte eines Arztes, der die Auswirkungen eines gewagten Selbstversuchs beobachtet, starrte ich auf das Messer und erwartete den ersten Schnitt. Wurde ich vor Schmerzen schreien oder würde ich die Schmerzen aushalten? Würde viel Blut fließen? Würde ich schnell ohnmächtig werden? Und, vielleicht ist es ja gar nicht so schmerzhaft, fantasierte ich, man hört ja häufig, dass starke Verletzungen zusammen mit starker Erregung zunächst gar nicht so weh tun, vielleicht würde ich ja bald, geschwächt durch den Blutverlust, in ein barmherziges Koma versinken.
Die Klinge war jetzt nur noch wenige Millimeter von meinem Körper entfernt. Noch ein paar Pendelbewegungen, und dann... Ich hielt den Atem an und konzentrierte mich ganz auf den zu erwartenden Schmerz, da –
Die Tür sprang auf, Soldaten stürzten herein; zwei warfen sich auf die Kugel und hielten sie an, ein anderer löste meine Fesseln, warf mir meine Kleider zu und rief, ein Friedensvertrag der Regierung mit den Rebellen, der die sofortige Freilassung aller Gefangenen bewirke, sei nach Monaten zäher Verhandlungen doch noch zustande gekommen.
Ich hörte die Worte, aber ich begriff sie nicht sofort. Ich hatte nur eines im Sinn: Trinken, trinken, trinken! In meinen Eingeweiden tobte der Durst, meine geschwollene Zunge klebte am Gaumen. Mit versagender Kehle stammelte ich: „Wasser! Wasser!“
Einer der Soldaten lief hinaus und kam mit einer Flasche Wasser zurück.
 

rotkehlchen

Mitglied
Das Todespendel

(In Memoriam Edgar A. Poe)

Am Morgen des 12. Juni, um 5 Uhr 30, holten sie mich aus der Zelle, in der ich seit einer Woche auf dem nackten Lehmboden lag. Bisher hatte ich eisern geschwiegen; ich sah es ihren Gesichtern an, dass sie langsam ungeduldig wurden und endlich Ergebnisse haben wollten. Wider Erwarten führten sie mich nicht in den bekannten Verhörraum, in dem es nach Urin und Erbrochenem roch; sie verbanden mir die Augen, setzten mich in ein Auto und fuhren mit mir eine gefühlt endlose Zeit in der Gegend herum. Als sie mir die Augenbinde abnahmen und ich wieder sehen konnte, befand ich mich in einem hohen, turmartigen Raum, der nur durch eine kleine, viereckige Luke hart unter dem Dach schwach erhellt wurde. Es war der Turm einer Wehrburg, einer dieser alten Festungsbauten, die überall auf der Welt zu finden sind. Von der Decke hing ein Seil herab, an dem eine große Kugel befestigt war, daneben stand eine kahle Liege.
Einer der schwarz vermummten Gestalten – Mitglieder einer gefürchteten Terrororganisation – befahl mir, die Kleider auszuziehen und mich mit gespreizten Beinen und ausgebreiteten Armen mit dem Rücken auf die Pritsche zu legen. Dann banden sie mich an Füßen und Händen an der Liege fest. Sie setzten die Kugel in Bewegung und verließen den Raum.
Ich war allein.
Trotz der unzureichenden Beleuchtung nahm ich sofort zwei Dinge wahr: Aus der Unterseite der Kugel ragte die zehn Zentimeter lange spitze Klinge eines Messers hervor, und an der Wand mir gegenüber hing eine Videokamera, die genau auf die Liege gerichtet war. Mir war sofort klar: Sie hatten vor, mich aufs Grausamste zu quälen und meine Qualen zu filmen, um ein Exempel ihrer Grausamkeit zu statuieren. Diese Tortur würde alles übertreffen, was mir bisher an perversen Schikanen berichtet worden war.
Die Kugel mit dem Messer – ich konnte nicht erkennen, aus welchem Material sie bestand, Eisen oder Beton, aber es musste eine schwere Masse sein, sonst funktionierte die tödliche Maschinerie nicht – bewegte sich langsam hin und her. Ich kannte diese Vorrichtung noch aus meiner Schulzeit. Im Physiksaal hing solch eine Kugel, sie war aus Eisen, nur viel kleiner. Zu Unterrichtsbeginn zog der Lehrer auf dem Boden einen Kreidestrich, der die ursprüngliche Ausrichtung der Pendelbewegungen anzeigte. Am frühen Nachmittag, zu Schulschluss, pendelte die Kugel im rechten Winkel zu dem Strich. Die Kugel, ein so genanntes Foucaultsche Pendel, war wegen der Trägheit ihrer schweren Masse der Erddrehung nicht oder nur unvollständig gefolgt. Der Fußboden, das Klassenzimmer, die Schule hatten sich scheinbar im Vergleich zum Pendel gedreht. Damals hatte mich diese Erkenntnis fasziniert; die gleichmäßige, gleichsam bedächtige Pendelbewegung hatte ich als Beweis für die unerschütterliche Gültigkeit der Naturgesetze empfunden. Doch jetzt standen mir die Haare zu Berge. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen, was sie mit mir vorhatten. Die Liege würde sich langsam in die Pendelbewegung hineindrehen, und das Messer würde meinen Leib filettieren.
Ich blickte nach oben, wo ein Strahl der aufsteigenden Sonne ein helles Rechteck an die gegenüberliegend Wand des Turms projizierte. Ich überlegte: Sollte das alles ein Traum sein? Ein entsetzlicher, widerlicher Alptraum, bedingt durch Mangel an Sauerstoff und falsches Atmen? Sofort verwarf ich diesen Gedanken wieder. Nein, das konnte kein Traum sein, die Situation war zu real, zu beklemmend, der Geruch nach Urin und Ratten zu deutlich, die Hitze, die sich allmählich einstellte, zu schweißtreibend.
Ich drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite, fasste die Kugel scharf ins Auge und verglich ihre Bahn mit der Stellung der Liege. Noch konnte ich keine Veränderung feststellen, noch stand die Liege unverändert parallel zu den Pendelbewegungen. Doch ich gab mich keinerlei Illusionen hin: Damit, dass ein gütiger Gott meinetwegen die Naturgesetze außer Kraft setze und die Erde in ihrer Drehung anhielt – wo ich noch nicht einmal an ihn glaubte, und wo er doch sonst durch wenig glorreiche Abwesenheit glänzt – damit war doch nun wirklich nicht zu rechnen. Nein, es war einfach so: In der kurzen Zeit, in den wenigen Minuten, die vergangen waren, seitdem die Rebellen die Kugel in Bewegung versetzt hatten, konnte sich auch noch nichts merklich verändert haben, schon gar nicht in einem Land, in dem sich die Erde langsamer dreht als anderswo, und in dem Zeit keine Rolle spielt. Auch ich würde jetzt endlich Zeit haben, viel, viel Zeit, doch diese Zeit würde bald nichts mehr wert sein.
Verschiedene Gedanken gingen mir durch den Kopf. Bekannte, die es gut mit mir meinten, hatten mich gewarnt; geh nicht in dieses Land, hatten sie mich beschworen, du bist ein Mitglied einer ihnen bis aufs Blut verhassten Nation und in Angelegenheiten unterwegs, die sie fürchten; wenn sie dich fassen, ist dein Leben kein Pfifferling mehr wert, du kannst noch froh sein, wenn sie dir nur den Kopf abschlagen.
Dass ich über ein Kopfabschlagen froh sein würde, damit hatten sie wohl Recht. Doch nun war es zu spät.

Für eine Weile verfiel ich in eine Art somnambulen Dämmerzustand; als ich die Augen wieder öffnete und meine Benommenheit gewichen war, galt mein erster Blick der Kugel. Es war eine merkliche Veränderung eingetreten, also musste ich eine ganze Weile gedöst haben, ohne es zu merken. Die Liege stand nun nicht mehr parallel zur Pendelbewegung, sondern im Winkel dazu. Sie hatte sich bereits erkennbar gedreht. Noch war die Drehung unbedeutend, noch glitt das Messer in sicherer Entfernung an der Liege vorbei, aber allein die Tatsache, dass sie geschehen war, ließ mich erschauern.
Der Lichtfleck war inzwischen ein gehöriges Stück die Wand herunter gerutscht und zur Raute mutiert. Anhand der Entfernung, die der Fleck zurückgelegt hatte, versuchte ich die Zeit zu bestimmen, die seit meiner Fesselung vergangen war. Die Sonne steigt in diesen Breiten schnell auf, also konnte nicht mehr als eine Stunde vergangen sein. Das bedeutete, bevor die eigentliche Tortur begann, lagen noch Stunden qualvollen Bangens vor mir.
Seltsamerweise hielt sich meine Angst noch in Grenzen; die unbequeme Lage und die Hitze beschäftigten mich jetzt mehr als der Gedanke an mein grausames Ende. Nun ja, ich bin keiner, der schnell Angst bekommt; wenn du ein Hasenfuß bist, darfst du dich nicht als investigativer Journalist in ein Kriegsgebiet mit überbordendem Terrorismus begeben, nicht in einer Region nach Menschenrechten fragen, in der die Menschenrechte nicht mehr gelten. Dann bleib zuhause und berichte über Salmonellen im Softeis. Außerdem nahm ich zu diesem Zeitpunkt noch an, dass es ein brutaler Bluff war; dass sie mich zermürben wollten, um Dinge aus mir herauszupressen, die zu bewahren ich geschworen hatte. Die Vorstellung, sie würden mich auf diese Weise tatsächlich zu Tode martern, war einfach zu abartig, auch für ein Land, wo tagtäglich die entsetzlichen Dinge geschahen. Noch rechnete ich stark damit, dass sie wiederkommen und dem grausamen Spiel ein Ende bereiten würden.
Doch nichts dergleichen geschah. Stunde um Stunde verrann, die helle Raute wurde wieder zum Viereck, immer mehr drehten sich Turm und Liege in die Bahnbewegung der Kugel hinein.
Bald schwang das Messer in bedrohlicher Nähe an meinem Körper vorbei; Schon vermeinte ich, seinen tödlichen Atem zu spüren.
Ich konnte jetzt absehen, an welcher Stelle die Klinge auf meinen wehrlosen Körper treffen würde.
Und auf einmal war die Angst da. Sie kam unverhofft über mich und mit der elementaren Wucht eines Tsunamis. Es war, als habe sich in meinem Gehirn ein Hebel umgelegt und mich in eine andere, animalische Bewusstseinsstufe katapultiert. Die Angst überlagerte alles: Die Schmerzen, die mir die Druckstellen durch das fast bewegungslose Liegen bereiteten; der Vorsatz, nicht klein beizugeben und nichts zu gestehen, was Freunden das Leben kosten konnten; die Hoffnung, dass alles nur ein gewaltiger Bluff war. Mit aller Kraft zerrte ich an meinen Fesseln, wieder und immer wieder bäumte ich mich auf; der Schweiß lief in Strömen an mir herunter, schließlich sank ich entkräftet zurück. Ich schrie um Hilfe, laut, wild, brünstig, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Meine Schreie prallten von den Wänden des Turms ab und kamen gebrochen und vervielfältigt aber ungehört zurück.
Denn natürlich antwortete niemand, nichts rührte sich, nur die messerbewehrte Kugel, diese perverse Ausgeburt eines krankhaftes Hirns, zog unverändert ihre Bahn, und die Pritsche hatte sich noch weiter gedreht. Die schwarzblaue, furchterregende Klinge war jetzt nur noch wenige Zentimeter von meinem Körper entfernt.
In wilder Verzweiflung brach ich in hemmungsloses Schluchzen aus. Es war mir jetzt egal, dass sie meine Hilflosigkeit filmten, dass sie sich an meiner nackten Angst und an meinem Jammer weideten; es war mir egal, dass die Bilder meiner Schmach und meines unwürdigen Ausgebreitetseins im Darknet bald um die Welt gingen. Nur eines tröstete mich: Ich hatte weder Frau noch Kind, die das Entsetzen über mein Ende ins Unglück stürzen würde.
Das furchtbare Todespendel bewegte jetzt nur noch mit halber Kraft; wider besseres Wissen versuchte ich, die Hände auszustrecken und es anzuhalten. Und da geschah etwas Eigenartiges: Die Tränen versiegten, der Jammer verebbte, ein Hoffnungsschimmer blitzte auf. Ich bildete mir ein, die Kugel könnte, bevor die Klinge den ersten Schnitt tat, ganz aufhören zu pendeln, denn ihre Schwingungsweite hatte bereits stark abgenommen. Es war eine Illusion, die jeder physikalischen Grundlage entbehrte, aber wie jede Illusion für den Moment erlösend. Argwöhnisch bestarrte ich die Pendelbewegungen. In meinem Wahn bildete ich mir ein, ich könne das anscheinend kraftlose Monstrum kraft meines Willens anhalten. Ich versuchte, fest an einen Erfolg zu glauben. Hatte man mich nicht gelehrt, dass Glaube Berge versetzen kann? Warum nicht auch eine Eisenkugel zum Stehen bringen, was doch eigentlich viel einfacher ist? Hätte ich wenigstens beten können! Angeblich lernen manche Menschen in ähnliches Situationen wieder das Beten. Ich denke, sie haben es nie gänzlich verlernt, aber ich hatte das Beten nie gelernt! Beten, wenn es einem dreckig geht! Welch furchtbare Menschen-Hybris! Der Allmächtige soll wegen eines Staubkorns, wie ich eines bin, den Lauf der Welt ändern?
Natürlich kann ich mich nicht dafür verbürgen, dass dergleichen Gedanken mir damals eins zu eins durch den Kopf gingen, ich denke eher nicht. Aber ich begriff: Mit oder ohne Gottes Hilfe würde die Kugel noch stundenlang weiterschwingen, bedächtiger zwar, aber nicht weniger gleichmäßig, nicht weniger bedrohlich, nicht weniger furchtbar; die Pritsche würde sich mit gnadenloser Beständigkeit weiter in ihre Bahn hinein drehen, denn diese Bewegung hing ja nicht von der Kugel ab, sondern von der Erddrehung, und ihre Kraft würde immer noch ausreichen, um die Klinge durch mein Fleisch wie durch Butter hindurchzutreiben.
Mit der gnadenlosen Härte eines Arztes, der die Auswirkungen eines gewagten Selbstversuchs beobachtet, starrte ich auf das Messer und erwartete den ersten Schnitt. Wurde ich vor Schmerzen schreien oder würde ich die Schmerzen aushalten? Würde viel Blut fließen? Würde ich schnell ohnmächtig werden? Und, vielleicht ist es ja gar nicht so schmerzhaft, fantasierte ich, man hört ja häufig, dass starke Verletzungen zusammen mit starker Erregung zunächst gar nicht so weh tun, vielleicht würde ich ja bald, geschwächt durch den Blutverlust, in ein barmherziges Koma versinken.
Die Klinge war jetzt nur noch wenige Millimeter von meinem Körper entfernt. Noch ein paar Pendelbewegungen, und dann... Ich hielt den Atem an und konzentrierte mich ganz auf den zu erwartenden Schmerz, da –
Die Tür sprang auf, Soldaten stürzten herein; zwei warfen sich auf die Kugel und hielten sie an, ein anderer löste meine Fesseln, warf mir meine Kleider zu und rief, ein Friedensvertrag der Regierung mit den Rebellen, der die sofortige Freilassung aller Gefangenen bewirke, sei nach Monaten zäher Verhandlungen doch noch zustande gekommen.
Ich hörte die Worte, aber ich begriff sie nicht sofort. Ich hatte nur eines im Sinn: Trinken, trinken, trinken! In meinen Eingeweiden tobte der Durst, meine geschwollene Zunge klebte am Gaumen. Mit versagender Kehle stammelte ich: „Wasser! Wasser!“
Einer der Soldaten lief hinaus und kam mit einer Flasche Wasser zurück.
 



 
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