Muchnara 14
Das Treffen im Hain
Kaum waren die beiden Männer wieder verschwunden, da sprang Samara von dem Baum herunter und rannte los.
Sie hatte beobachtet, wie die beiden Männer, die sie als Mitglieder von Askars Bande wiedererkannt hatte, Keron wie einen hoffnungslos Betrunkenen an den Armen haltend und ziehend in den Hain geführt hatten. Fluchend über die Anstrengung hatten sie ihn dort auf den Boden fallen lassen, und, nachdem sie ihm noch schnell zwei verstohlene Fußtritte gegeben hatten, waren sie wieder verschwunden.
Nun eilte Samara zu Keron und kniete sie sich neben ihm auf den feuchten Waldboden.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie vor Anspannung atemlos.
„Alles in Ordnung“, echote er tonlos.
Samara versuchte ihm in die Augen zu sehen, fand aber nur Blicklosigkeit. Beunruhigt packte sie ihn an seinen Schultern und schüttele sie. Sein Kopf schlenkerte haltlos umher.
„Keron! Keron, ich bin es, Samara. Wach doch wieder auf!“
„Wach doch wieder auf“, wiederholte er.
Gemächliche Schritte raschelten hinter Samara durch das Laub.
„Lass es gut sein“, klang Sylissas kühle Stimme auf. „Die Droge wirkt wie genau so wie gewollt. In einigen Stunden wird er sich davon erholt haben.“
Samara sah zu ihr hoch. Die Zauberin schien ihr abweisender als je zuvor, ihr Gesicht drückte keinerlei Gefühl aus, was von den abweisend blickenden grauen Augen nochmals unterstrichen wurde.
„Willst du ihm nicht das Gegenmittel geben?“, fragte Samara.
Sylissa zog ihre Augenbrauen hoch. „Ich dachte, du wolltest es so.“
„Ja, damit er aus Askars Lager lebend wieder herauskommt. Er hätte sonst bestimmt die Nerven verloren. Jetzt braucht er es nicht mehr.“
„Es wäre besser, wenn er weiter benommen bleibt. So kann er die Verhandlung mit Askar nicht stören.“
„Aber wir können ihn doch nicht ausschließen, wenn es um seine eigene Tochter geht.“
„Askar ist bestimmt bewaffnet, und wenn Keron die Beherrschung verliert und ihn angreift, dann wird er sich wehren. Willst du das riskieren?“
Samara dachte eine Zeit lang nach.
„Sylissa, habe ich dein Wort, dass du Farah nicht für deine Rache opferst?“, fragte sie dann.
„Natürlich hast du das.“
„Gut, dann soll es so sein. Auch wenn es ihm nicht gefallen wird.“
„Ich werde ihm sagen, dass es meine Entscheidung war“, sagte Sylissa.
„Nein“, erwiderte Samara. „Es war mein Vorschlag, ihm den Trank zu geben.“
„Lass uns später darüber streiten,“ meinte Sylissa. „Jetzt sollten wir auf Askar warten.“
Sylissa sah es jetzt auch. Noch war es nur eine undeutliche Kontur in der Ferne, die sich langsam durch die große Ebene auf den Hain zubewegte, doch sie wurde allmählich größer. Das konnte nur Askar sein.
Sie fragte sich, wie Samara ihn bereits hatte bemerken können, als er noch in der Buschlandschaft jenseits der Ebene gewesen sein musste. Während ihrer Bandenzeit waren ihr solche hellseherischen Fähigkeiten nie an Samara aufgefallen. Ganz im Gegenteil, damals hatte sie unsicher und ungeschickt auf sie gewirkt. Das war nun nicht mehr so. Keine Frage, irgendwie hatte sie während ihrer Zeit bei den Baragnars viel hinzugelernt.
Die Kontur löste sich in zwei Teile auf. Es war ein Mann, der einen Karren hinter sich herzog.
„Askar ist erschöpft und gereizt“, sagte Samaras Stimme neben ihr.
„Natürlich ist er wütend. Das ist nicht schwer zu erraten.“
„Ich rate nicht, ich sehe es. Er ist gereizt, aber nicht wütend.“
„Wie kannst du seine Stimmung so genau erkennen?“, fragte Sylissa etwas ungläubig und drehte ihren Kopf zu Samara.
„Daran, wie er die Füße auf den Boden setzt und mit den Armen am Wagen zerrt.“ Sie lächelte versonnen. „Meine Lehrerin wollte immer wissen, wie dick die Luft war, wenn sie etwas ausgefressen hatte.“
„Du wirst sie zurückbekommen“, meinte Sylissa sachlich. „Wenn du dich an unsere Verabredung hältst.“
Herl erreichte die Bäume und stellte den Karren ab. Es hatte ihm stärker als erwartet zugesetzt, ihn die ganze Strecke über querfeldein ziehen zu müssen. Nach Atem ringend stützte er sich mit beiden Armen auf der Ladefläche ab, und fragte sich, ob es die anfängliche Wut oder das Alter war, was ihn so erschöpft hatte. Mit einem Kopfschütteln unterbrach er diesen Gedankengang und stemmte sich hoch. Er öffnete er die Kiste. Die holprige Fahrt hatte Farah umhergeworfen, jetzt lag sie mit seltsam verrenkten Gliedern in der Kiste. Herl starrte sie an, dann richtete er ihre Arme und Beine gerade. Anschließend stemmte er die Karrengriffe nach oben, um die Kiste langsam von der Ladefläche rutschen zu lassen. Plötzlich entglitt ihm die Kiste, und mit einem dumpfen Poltern fiel sie das letzte Stück herunter und Farah rollte aus ihr heraus.
„Sie lebt bestimmt noch“, meinte Sylissa, während Samara nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. „Bleib hier und passe auf die Umgebung auf“, erinnerte sie Samara an die Absprache und stand auf. Mit betont gelassen wirkenden Schritten ging sie auf Herl zu.
Sylissa zwängte sich durch eine Strauchreihe und trat absichtlich auf einen trockenen Zweig. Das scharfe Knacken ließ Herls Kopf in ihre Richtung rucken.
„Du scheinst meine Botschaft erhalten zu haben, Askar“, rief sie ihm zu und ging weiter.
„Bleib stehen!“, rief Herl zurück und zückte ein Messer. „Und versuche nicht, mich mit einem deiner Zauber anzugreifen. Ich kenne sie und würde das Kind sofort abstechen.“
„Damit wäre Niemandem geholfen“, erwiderte Sylissa. Sie hob demonstrativ ihre Unterarme mit nach vorne weisenden Handflächen hoch und ging weiter.
Erst zwei Schritte vor Herl blieb sie stehen.
„So sieht man sich wieder, Askar“, begrüßte sie ihn mit ironischer Stimme.
„Leider, du hinterhältige Hexe.“
„Du nennst mich eine Hexe?“
„Was bist du denn sonst, wenn du mit den hinterhältigsten Giften gegen mich vorgehst, die es gibt?“ Er deutete mit dem Zeigefinger anklagend auf sie. „Geposporen sind geächtet, man wird dich für dieses Verbrechen bis an das Ende der Welt jagen.“
„Nur, wenn man davon erfährt“, erwiderte Sylissa kühl. „Dann könnte man mich aber auch nach dem Grund für meine Tat fragen.“
Herl winkte ab. „So kommen wir nicht weiter, Sylissa“, sagte er. „Lass uns besser zum Geschäft kommen. Du kannst das Kind für das Gegenmittel bekommen.“
Sylissa ging noch einen Schritt auf Herl zu und ließ langsam ihre Arme herabsinken.
„Ich hätte nie gedacht, dass du so weit gehen würdest“, meinte sie leise. „Mich wegen eines Streits ermorden lassen wollen.“
„Ich konnte es mir nicht bieten lassen, vor meinen Männern so beschimpft zu werden. Du bist mir eine gute Kämpferin gewesen, sogar die Beste von uns, aber ich bin auch dein Anführer gewesen.“
„Nicht mehr? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie es war?“
„Natürlich erinnere ich mich daran. Es ist niemals mehr gewesen, und jetzt ist es Vergangenheit.“
Sylissas Augen verloren ihr Grün und sie senkte ihren Kopf. „Wirklich nicht? Warum?“, flüsterte sie.
„Ich könnte es dir sagen, Sylissa, doch es wäre sinnlos. Es gibt Dinge, die man selbst herausfinden muss, und dies gehört dazu.“
„Ist es wirklich sinnlos?“
Herl fasste ihr vorsichtig unter das Kinn und hob den gesenkten Kopf an, bis er ihr in die grauen Augen blicken konnte, in denen es blau schimmerte.
„Schwer ja, aber nicht sinnlos“, flüsterte Herl mit versöhnlicher Stimme.
Ein bedrückendes Schweigen entstand.
„Gibst du mir jetzt das Gegenmittel?“, fragte Herl schließlich.
Sylissa nickte. „Ja, das Gegenmittel gegen das Kind“, sagte sie mit brüchiger Stimme, dann straffte sich ihr Körper wieder. „Du hast ihr doch nichts angetan?“, fragte sie mit wieder fester gewordener Stimme.
„Natürlich nicht! Ich habe sie auch vor meinen Männern beschützt. Sie ist doch noch ein Kind.“
„Jetzt tue nicht so unschuldig. Du hast ihre Großeltern ermordet, und als Nächstes hättest du sie an den Meistbietenden ausgeliefert, auch wenn es einer von denen ist, der sie beseitigen würde.“
„Das mit den Großeltern hat dieser vorgebliche Bote auch schon behauptet. Wir waren es aber nicht. Als wir mit dem Kind gingen, lebten noch alle.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Dann lass es halt sein“, meinte Herl gereizt. „Mit dem Mädchen hast du Recht, ich hätte das getan. Sie ist doch sowieso tot.“
Herl hob abwehrend die Hände, als Sylissas Augen grün aufblitzten. „Hör mir zu!“, rief er beschwichtigend. „Du kennst die Hintermänner nicht, ich aber schon.“
„Wer sind sie?“, fragte Sylissa scharf. „Der Kommandant der Garnison in der Umheide oder der im Kinitat?“
„Es sind beide!“ Er nickte bekräftigend, als Sylissa ihn überrascht ansah. „Die Soldaten, die damals Samara in der Scheune festnahmen, kamen zwar alle aus der Umheide, doch der Überfall war zuvor mit beiden Kommandanten verabredet worden.“
„Welchen Sinn soll das ergeben?“
Herl zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Bei dem Handel um das Kind ging es nur noch darum, ob die Fürsten von der ganzen Sache erfahren sollten oder nicht. Dann würden sicherlich die Köpfe der Kommandanten rollen.“ Er holte Atem. „Aber auch dann würde es vertuscht werden. Du siehst, egal wer das Kind bekommt, es wird immer sterben müssen. Sie werden es überall suchen, im Kinitat und in der Umheide, und sie werden es finden.“
„Das werden wir sehen“, sagte Sylissa und ging an Herl vorbei zum Karren. Sie kniete sich neben der ohnmächtigen Farah und drehte sie auf den Rücken. Mit einigen Griffen prüfte sie ihre Atmung.
„Es scheint tatsächlich nicht sinnlos zu sein“, hörte sie Herl sagen.
„Sie scheint unversehrt zu sein“, meinte Sylissa und stand wieder auf. Sie griff in ihre Tasche und holte ein Fläschchen hervor. Kurz nahm ihr Gesicht den Ausdruck äußerster Konzentration an, und der blaue Inhalt glomm auf. Sie reichte es Herl. „Trink das Gegenmittel, solange es wirksam ist.“
Herl nahm es entgegen, zog den Korken mit den Zähnen heraus und kippte die Flüssigkeit in einem Zug herunter. „Schmeckt süß“, kommentierte er.
„War außer dir und Keron jemand dabei, als die Sporen aus der Schachtel geschleudert wurden?“, fragte Sylissa.
„Keron? Der Bote war der Vater von dem Mädchen?“
„Ja. Keron, Samara und ich sind jetzt zusammen.“
Herl grinste. „Du und Samara? Kaum zu glauben.“ Er wurde wieder ernst. „Nein, nur ich und dieser Keron waren in meinem Wohnwagen, als die Schachtel explodierte. Warum ist das wichtig?“
„Die Sporen verlieren am Tageslicht innerhalb von wenigen Augenblicken ihre Wirksamkeit. Damit sind deine Männer außer Gefahr.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber deine ehemaligen Partner werden hinter euch her sein, so wie hinter uns. Du solltest wissen, dass sie uns in dem Dorf jenseits des Wassergipfels bereits aufgelauert hatten. Ich musste zwei von ihnen töten.“
„Danke für deine Warnung, Sylissa.“ Er lächelte leicht. „Es ist wirklich nicht sinnlos ... Mit den Kommandanten werde ich mich einigen können, es sind Geschäftsleute. Ich werde ihnen erzählen, dass Farah geflohen ist. Sie werden einsehen, dass es ihnen keinen Vorteil einbringt, wenn sie mich töten. Doch euch werden sie weiter verfolgen wollen.“
„Du auch?“
„Nein, selbst wenn sie mich dafür bezahlen würden.“ Er lächelte jetzt. „Der Weg hierher war lang, da konnte ich über alles nachdenken. Ich bin wütend, aber nicht so sehr auf dich, sondern mehr auf mich. Lass uns unseren Streit beenden, er führt zu nichts Gutem mehr.“
„Du machst es dir etwas zu einfach. Wie soll ich vergessen, dass du mich ermorden lassen wolltest?“
Herl verzog sein Gesicht. „Weil du das so einmalig ruhig sagen kannst. Du kannst nichts damit gewinnen, wenn du mich weiter verfolgst.“
„Das ist mir zu wenig. Nur wenn du allen erzählst, du hättest Farah beseitigt, weil dir die Sache zu heiß geworden sei, dann werde ich dich in Ruhe lassen.“
„Das ist mir zu riskant.“
„Wir werden uns verbergen.“
„Es scheint dir wirklich wichtig zu sein?“
„Sine qua non, mein Lieber.“
Herl lächelt überraschend. „Das freut mich für dich! Abgemacht!“ Er löste einen Lederbeutel von seinem Gürtel. „Hier hast du etwas Gold, damit ihr besser untertauchen könnt.“ Er drückte den Beutel in Sylissas Hand, lachte über ihr verblüfftes Gesicht und drehte sich um. Weiter lachend verließ er den Hain.
Sylissa schüttelte ihren Kopf und gab das Zeichen für die wartende Samara. Stumm sah sie zu, wie die hagere Frau herbeieilte und sich sofort um Farah kümmerte, wobei sie das Kind mit nervösen Händen auf Verletzungen hin absuchte.
„Beruhige dich, Samara!“, rief Sylissa schließlich. „Farah ist in Ordnung. Sie stinkt zwar schlimmer als ein Tier, doch ansonsten ist ihr nichts geschehen.“ Sie wartete, bis Samara zu ihr hin sah. „Ich kenne das Mittel, das Askar verwendet hat. Es wirkt einen knappen halben Tag lang, danach wacht man mit leichten Kopfschmerzen auf.“
„Kannst du ihr nichts geben?“
„Dazu müsste sie schlucken können.“ Sylissa lächelte leicht. „Hab Geduld!“ Aber ich werde mich jetzt um Keron kümmern. Bleib du inzwischen bei Farah.“
Nach einigen Minuten kam Sylissa zusammen mit Keron zurück. Es sah seltsam aus, wie sie den viel größeren und schwereren Mann wie ein Kind an einer Hand führte. Er konnte nur mit Mühe gehen und wirkte noch sehr abwesend, doch als er seine Tochter auf dem Boden liegend sah, kam Leben in sein starres Gesicht.
„Farah!“, flüsterte er kaum hörbar und kniete sich seitlich neben sie. Sanft fuhren seine Fingerkuppen über das blasse Gesicht. Er lächelte offen und eine Träne rollte über seine Wange.
„Sie wird bald zu sich kommen“, meinte Samara.
„Ja ... Ich spüre, dass es ihr gut geht. Und sie kann auch uns spüren.“ Er sah kurz zu Samara auf. „Verstehst du? Sie ist wie Janina.“ Er sah wieder zu seinem Kind herab und flüsterte erneut.
Samara versuchte Kerons Worte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht. Sie waren nicht nur zu undeutlich, sondern schienen ihr auch in einer fremden Sprache zu sein.
„Komm“, forderte Sylissa sie auf und zog an ihrem Hemd. „Lass die Beiden alleine.“
Im ersten Moment wollte Samara der Zauberin widersprechen, doch dann nickte sie und stand auf.
Etwas Abseits lehnte Sylissa sich an einen Baum. Ihr Gesicht war wie gewohnt undurchdringlich, doch ihre Augen strahlten in einem tiefen Blau.
„Ich habe einiges von eurem Gespräch mitbekommen“, meinte Samara. „Warum hast du nicht gleich gesagt, was du wirklich willst?“, fragte sie.
„Hättest du es geglaubt?“
Samara schüttelte den Kopf. „Nein, wahrscheinlich nicht.“
Sylissa nickte nachdenklich. „Ich habe es selbst nicht geglaubt.“ Sie reagierte auf Samaras verwunderten Blick mit einer wegwischenden Geste. „Dann hätte es nur noch mehr Misstrauen eingebracht, und dies hätte uns letztlich Zeit gekostet. Die Zeit war viel knapper, als du und Keron auch nur ahnten. Askar konnte sich jeden Moment mit seinen Auftraggebern einigen, oder, was am wahrscheinlichsten gewesen war, sie könnten sein Lager finden. Dann wäre Farah verloren gewesen.“ Bevor Samara etwas erwidern konnte, sah Sylissa an ihr vorbei in Kerons Richtung. „Keron wird in einer halben Stunde wieder völlig normal sein“, meinte sie und sah wieder zu Samara. „Er kann dann Farah auf den Karren legen und zusammen mit uns zu Deogenes zurückkehren.“
„Damit würden wir den Schmied in die Sache hineinziehen.“
„Warum glaubst du, solltest du das Huhn zubereiten? Ihr könnt so lange bei uns bleiben, wie ihr wollt.“
„Unsere Vereinbarung ist zu Ende, wir wollten uns nach Farahs Befreiung trennen.“
„Bestehst du darauf?“
Samara schüttelte nachdenklich ihren Kopf. „Nein, wenn Keron zustimmt, können wir zusammenbleiben.“
„Wie geht es ihr?“, fragte Sylissa am Fuß der Treppe wartend.
Samara stieg die letzten Stufen beschwingt herab.
„Sie schläft jetzt. Das Bad hat sie weiter erschöpft, doch es ist jetzt eine gute Erschöpfung, wenn du verstehst.“
Sylissa fasste sich an das Kinn. „Ich denke schon. Dann können wir uns jetzt um dich kümmern.“
„Was meinst du damit?“
„Komm mit nach draußen, Deogenes will dir etwas zeigen.“
Es war inzwischen Nacht geworden. Die Kohlen in der Esse, vor der Deogenes mit verschränkten Armen wartete, glommen nur noch düster. Als er Samara erblickte, hob er seine rechte Hand. Zwischen seinen kräftigen Fingern hielt einen kleinen Stift.
„Der sollte echt genug aussehen, oder?“
Samara nahm den Stift und betrachtete ihn im Licht einer der umstehenden Fackeln.
„Was soll das sein? Ist das ein Niet?“
Deogenes lachte leise. „Du kannst ihn als Einzige nicht sehen. Es ist der Niet, der deinen Sklavenring verschließt.“ Er bemerkte, wie Samara sich an ihren Ring aus Kupfer fasste, der um ihren Hals lag. „Gemäß dem Muchnara muss er beim Tod eines Sklaven zurückgegeben werden. Um Betrug auszuschließen, darf er dabei nicht geöffnet sein.“ Er verzog angewidert sein Gesicht. „Kein schöner Gedanke, aber ein wirksamer. Damit er auch funktioniert, ist der Ring mit einem besonderen Niet verschlossen, in dessen Kopf das Siegel des Fürsten eingeprägt ist.“
Samara sah den Niet jetzt noch einmal an und entdeckte zahlreiche feine Linien, die in einem komplizierten Muster seinen pilzförmigen Kopf überzogen.
„Du hast das Siegel des Fürsten gefälscht?“
„Nein, mit meinen dicken Fingern könnte ich das nicht. Sie war es.“ Er deutete auf Sylissa, die mit einem Lächeln einen Stempel hochhielt. „Sie hat einen Monat daran gearbeitet.“
Samara starrte die Zauberin mit offenem Mund an. „Einen Monat?“
„Das ist kurz im Vergleich zu der Zeit, die ich brauchte, um ein Muster vom Siegel aufzutreiben.“
„Aber ...“
„Jetzt rede nicht herum. Der Ring muss ab, um unsere Tarnung zu ermöglichen. Also lege deinen Hals auf den Amboss und halte still. Deogenes darf den Ring nicht beschädigen, wenn er ihn öffnet.“
„Und was ist mit Keron?“
„Der freut sich darüber“, klang dessen dunkle Stimme hinter ihr auf.
Samara drehte sich zu ihm um. „Du hasst davon gewusst?“
„Seit heute Morgen, doch man bat mich, es bis jetzt zu verschweigen.“
„Ja“, warf Sylissa ein. „Du solltest einen klaren Kopf behalten.“
Als Samara sich vor dem Amboss auf die Knie begab und ihren Hals auf ihn legen wollte, drängen sich wieder die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft im Kerker nach vorne. Ihr Körper erstarrte eine Handbreit über dem Amboss und fing an zu zittern.
„Du musst sie festhalten“, forderte Sylissa Keron auf.
„Das kann ich nicht.“
„Du siehst doch, dass sie es alleine nicht schafft. Sie braucht deine Hilfe.“
Keron zögerte immer noch, dann legten sich seine Hände um den Ring. Samaras Körper verkrampfte sich, als er sie auf den Amboss drückte. Deogenes nahm trat heran, tauschte einen Blick mit Keron aus, dann fing er an, den Nietkopf abzufeilen. Das schabende Kratzen der Feile vermischte sich mit dem fast unhörbaren Stöhnen Samaras.
„Mach schnell“, bat Keron.
„Natürlich“, knurrte der Schmied, „es ist unerträglich.“
Nach einer halben Stunde halfen sie Samara, aufzustehen. Ihr Gesicht war von tiefer Erschöpfung gezeichnet, und in ihren Augen spiegelte sich das erfahrene Leid wieder.
Diogenes packte mit beiden Händen an den Ring. Begleitet von einem trockenen Knacken sprang der Niet heraus. Er zog weiter am Ring und bog ihn vorsichtig auf. Nach einem prüfenden Blick drückte Deogenes ihn in Samaras Hände.
„Schau ihn dir noch einmal an“, forderte Keron sie auf. „Morgen wird Deogenes ihn herrichten und später in der Umheide in irgendeiner Garnison abgeben. Dann wird Aylene für immer Tod sein.“
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, stammelte Samara.
„Ich hoffe, mit Aylene werden auch ihre Erinnerungen sterben“, meinte Sylissa. Sie wischte sich über ihre blauen Augen und räusperte sich. „Jetzt müssen wir nur noch unser Aussehen verändern, dann werden wir einigermaßen sicher sein.“
„Wie sollen wir das machen?“
„Ich schneide meine Haare ab und du lässt deine etwas länger wachsen. Außerdem kann ich unsere Augenfarben verändern. Damit werden sie nicht rechnen.“ Sie lachte über Kerons Blick. „Keine Sorge, das ist nicht von Dauer. Farah wird ihre schönen grünen Augen wieder zurückbekommen.“
Das Treffen im Hain
Kaum waren die beiden Männer wieder verschwunden, da sprang Samara von dem Baum herunter und rannte los.
Sie hatte beobachtet, wie die beiden Männer, die sie als Mitglieder von Askars Bande wiedererkannt hatte, Keron wie einen hoffnungslos Betrunkenen an den Armen haltend und ziehend in den Hain geführt hatten. Fluchend über die Anstrengung hatten sie ihn dort auf den Boden fallen lassen, und, nachdem sie ihm noch schnell zwei verstohlene Fußtritte gegeben hatten, waren sie wieder verschwunden.
Nun eilte Samara zu Keron und kniete sie sich neben ihm auf den feuchten Waldboden.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie vor Anspannung atemlos.
„Alles in Ordnung“, echote er tonlos.
Samara versuchte ihm in die Augen zu sehen, fand aber nur Blicklosigkeit. Beunruhigt packte sie ihn an seinen Schultern und schüttele sie. Sein Kopf schlenkerte haltlos umher.
„Keron! Keron, ich bin es, Samara. Wach doch wieder auf!“
„Wach doch wieder auf“, wiederholte er.
Gemächliche Schritte raschelten hinter Samara durch das Laub.
„Lass es gut sein“, klang Sylissas kühle Stimme auf. „Die Droge wirkt wie genau so wie gewollt. In einigen Stunden wird er sich davon erholt haben.“
Samara sah zu ihr hoch. Die Zauberin schien ihr abweisender als je zuvor, ihr Gesicht drückte keinerlei Gefühl aus, was von den abweisend blickenden grauen Augen nochmals unterstrichen wurde.
„Willst du ihm nicht das Gegenmittel geben?“, fragte Samara.
Sylissa zog ihre Augenbrauen hoch. „Ich dachte, du wolltest es so.“
„Ja, damit er aus Askars Lager lebend wieder herauskommt. Er hätte sonst bestimmt die Nerven verloren. Jetzt braucht er es nicht mehr.“
„Es wäre besser, wenn er weiter benommen bleibt. So kann er die Verhandlung mit Askar nicht stören.“
„Aber wir können ihn doch nicht ausschließen, wenn es um seine eigene Tochter geht.“
„Askar ist bestimmt bewaffnet, und wenn Keron die Beherrschung verliert und ihn angreift, dann wird er sich wehren. Willst du das riskieren?“
Samara dachte eine Zeit lang nach.
„Sylissa, habe ich dein Wort, dass du Farah nicht für deine Rache opferst?“, fragte sie dann.
„Natürlich hast du das.“
„Gut, dann soll es so sein. Auch wenn es ihm nicht gefallen wird.“
„Ich werde ihm sagen, dass es meine Entscheidung war“, sagte Sylissa.
„Nein“, erwiderte Samara. „Es war mein Vorschlag, ihm den Trank zu geben.“
„Lass uns später darüber streiten,“ meinte Sylissa. „Jetzt sollten wir auf Askar warten.“
*
Sylissa sah es jetzt auch. Noch war es nur eine undeutliche Kontur in der Ferne, die sich langsam durch die große Ebene auf den Hain zubewegte, doch sie wurde allmählich größer. Das konnte nur Askar sein.
Sie fragte sich, wie Samara ihn bereits hatte bemerken können, als er noch in der Buschlandschaft jenseits der Ebene gewesen sein musste. Während ihrer Bandenzeit waren ihr solche hellseherischen Fähigkeiten nie an Samara aufgefallen. Ganz im Gegenteil, damals hatte sie unsicher und ungeschickt auf sie gewirkt. Das war nun nicht mehr so. Keine Frage, irgendwie hatte sie während ihrer Zeit bei den Baragnars viel hinzugelernt.
Die Kontur löste sich in zwei Teile auf. Es war ein Mann, der einen Karren hinter sich herzog.
„Askar ist erschöpft und gereizt“, sagte Samaras Stimme neben ihr.
„Natürlich ist er wütend. Das ist nicht schwer zu erraten.“
„Ich rate nicht, ich sehe es. Er ist gereizt, aber nicht wütend.“
„Wie kannst du seine Stimmung so genau erkennen?“, fragte Sylissa etwas ungläubig und drehte ihren Kopf zu Samara.
„Daran, wie er die Füße auf den Boden setzt und mit den Armen am Wagen zerrt.“ Sie lächelte versonnen. „Meine Lehrerin wollte immer wissen, wie dick die Luft war, wenn sie etwas ausgefressen hatte.“
„Du wirst sie zurückbekommen“, meinte Sylissa sachlich. „Wenn du dich an unsere Verabredung hältst.“
Herl erreichte die Bäume und stellte den Karren ab. Es hatte ihm stärker als erwartet zugesetzt, ihn die ganze Strecke über querfeldein ziehen zu müssen. Nach Atem ringend stützte er sich mit beiden Armen auf der Ladefläche ab, und fragte sich, ob es die anfängliche Wut oder das Alter war, was ihn so erschöpft hatte. Mit einem Kopfschütteln unterbrach er diesen Gedankengang und stemmte sich hoch. Er öffnete er die Kiste. Die holprige Fahrt hatte Farah umhergeworfen, jetzt lag sie mit seltsam verrenkten Gliedern in der Kiste. Herl starrte sie an, dann richtete er ihre Arme und Beine gerade. Anschließend stemmte er die Karrengriffe nach oben, um die Kiste langsam von der Ladefläche rutschen zu lassen. Plötzlich entglitt ihm die Kiste, und mit einem dumpfen Poltern fiel sie das letzte Stück herunter und Farah rollte aus ihr heraus.
„Sie lebt bestimmt noch“, meinte Sylissa, während Samara nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. „Bleib hier und passe auf die Umgebung auf“, erinnerte sie Samara an die Absprache und stand auf. Mit betont gelassen wirkenden Schritten ging sie auf Herl zu.
Sylissa zwängte sich durch eine Strauchreihe und trat absichtlich auf einen trockenen Zweig. Das scharfe Knacken ließ Herls Kopf in ihre Richtung rucken.
„Du scheinst meine Botschaft erhalten zu haben, Askar“, rief sie ihm zu und ging weiter.
„Bleib stehen!“, rief Herl zurück und zückte ein Messer. „Und versuche nicht, mich mit einem deiner Zauber anzugreifen. Ich kenne sie und würde das Kind sofort abstechen.“
„Damit wäre Niemandem geholfen“, erwiderte Sylissa. Sie hob demonstrativ ihre Unterarme mit nach vorne weisenden Handflächen hoch und ging weiter.
Erst zwei Schritte vor Herl blieb sie stehen.
„So sieht man sich wieder, Askar“, begrüßte sie ihn mit ironischer Stimme.
„Leider, du hinterhältige Hexe.“
„Du nennst mich eine Hexe?“
„Was bist du denn sonst, wenn du mit den hinterhältigsten Giften gegen mich vorgehst, die es gibt?“ Er deutete mit dem Zeigefinger anklagend auf sie. „Geposporen sind geächtet, man wird dich für dieses Verbrechen bis an das Ende der Welt jagen.“
„Nur, wenn man davon erfährt“, erwiderte Sylissa kühl. „Dann könnte man mich aber auch nach dem Grund für meine Tat fragen.“
Herl winkte ab. „So kommen wir nicht weiter, Sylissa“, sagte er. „Lass uns besser zum Geschäft kommen. Du kannst das Kind für das Gegenmittel bekommen.“
Sylissa ging noch einen Schritt auf Herl zu und ließ langsam ihre Arme herabsinken.
„Ich hätte nie gedacht, dass du so weit gehen würdest“, meinte sie leise. „Mich wegen eines Streits ermorden lassen wollen.“
„Ich konnte es mir nicht bieten lassen, vor meinen Männern so beschimpft zu werden. Du bist mir eine gute Kämpferin gewesen, sogar die Beste von uns, aber ich bin auch dein Anführer gewesen.“
„Nicht mehr? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie es war?“
„Natürlich erinnere ich mich daran. Es ist niemals mehr gewesen, und jetzt ist es Vergangenheit.“
Sylissas Augen verloren ihr Grün und sie senkte ihren Kopf. „Wirklich nicht? Warum?“, flüsterte sie.
„Ich könnte es dir sagen, Sylissa, doch es wäre sinnlos. Es gibt Dinge, die man selbst herausfinden muss, und dies gehört dazu.“
„Ist es wirklich sinnlos?“
Herl fasste ihr vorsichtig unter das Kinn und hob den gesenkten Kopf an, bis er ihr in die grauen Augen blicken konnte, in denen es blau schimmerte.
„Schwer ja, aber nicht sinnlos“, flüsterte Herl mit versöhnlicher Stimme.
Ein bedrückendes Schweigen entstand.
„Gibst du mir jetzt das Gegenmittel?“, fragte Herl schließlich.
Sylissa nickte. „Ja, das Gegenmittel gegen das Kind“, sagte sie mit brüchiger Stimme, dann straffte sich ihr Körper wieder. „Du hast ihr doch nichts angetan?“, fragte sie mit wieder fester gewordener Stimme.
„Natürlich nicht! Ich habe sie auch vor meinen Männern beschützt. Sie ist doch noch ein Kind.“
„Jetzt tue nicht so unschuldig. Du hast ihre Großeltern ermordet, und als Nächstes hättest du sie an den Meistbietenden ausgeliefert, auch wenn es einer von denen ist, der sie beseitigen würde.“
„Das mit den Großeltern hat dieser vorgebliche Bote auch schon behauptet. Wir waren es aber nicht. Als wir mit dem Kind gingen, lebten noch alle.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Dann lass es halt sein“, meinte Herl gereizt. „Mit dem Mädchen hast du Recht, ich hätte das getan. Sie ist doch sowieso tot.“
Herl hob abwehrend die Hände, als Sylissas Augen grün aufblitzten. „Hör mir zu!“, rief er beschwichtigend. „Du kennst die Hintermänner nicht, ich aber schon.“
„Wer sind sie?“, fragte Sylissa scharf. „Der Kommandant der Garnison in der Umheide oder der im Kinitat?“
„Es sind beide!“ Er nickte bekräftigend, als Sylissa ihn überrascht ansah. „Die Soldaten, die damals Samara in der Scheune festnahmen, kamen zwar alle aus der Umheide, doch der Überfall war zuvor mit beiden Kommandanten verabredet worden.“
„Welchen Sinn soll das ergeben?“
Herl zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Bei dem Handel um das Kind ging es nur noch darum, ob die Fürsten von der ganzen Sache erfahren sollten oder nicht. Dann würden sicherlich die Köpfe der Kommandanten rollen.“ Er holte Atem. „Aber auch dann würde es vertuscht werden. Du siehst, egal wer das Kind bekommt, es wird immer sterben müssen. Sie werden es überall suchen, im Kinitat und in der Umheide, und sie werden es finden.“
„Das werden wir sehen“, sagte Sylissa und ging an Herl vorbei zum Karren. Sie kniete sich neben der ohnmächtigen Farah und drehte sie auf den Rücken. Mit einigen Griffen prüfte sie ihre Atmung.
„Es scheint tatsächlich nicht sinnlos zu sein“, hörte sie Herl sagen.
„Sie scheint unversehrt zu sein“, meinte Sylissa und stand wieder auf. Sie griff in ihre Tasche und holte ein Fläschchen hervor. Kurz nahm ihr Gesicht den Ausdruck äußerster Konzentration an, und der blaue Inhalt glomm auf. Sie reichte es Herl. „Trink das Gegenmittel, solange es wirksam ist.“
Herl nahm es entgegen, zog den Korken mit den Zähnen heraus und kippte die Flüssigkeit in einem Zug herunter. „Schmeckt süß“, kommentierte er.
„War außer dir und Keron jemand dabei, als die Sporen aus der Schachtel geschleudert wurden?“, fragte Sylissa.
„Keron? Der Bote war der Vater von dem Mädchen?“
„Ja. Keron, Samara und ich sind jetzt zusammen.“
Herl grinste. „Du und Samara? Kaum zu glauben.“ Er wurde wieder ernst. „Nein, nur ich und dieser Keron waren in meinem Wohnwagen, als die Schachtel explodierte. Warum ist das wichtig?“
„Die Sporen verlieren am Tageslicht innerhalb von wenigen Augenblicken ihre Wirksamkeit. Damit sind deine Männer außer Gefahr.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber deine ehemaligen Partner werden hinter euch her sein, so wie hinter uns. Du solltest wissen, dass sie uns in dem Dorf jenseits des Wassergipfels bereits aufgelauert hatten. Ich musste zwei von ihnen töten.“
„Danke für deine Warnung, Sylissa.“ Er lächelte leicht. „Es ist wirklich nicht sinnlos ... Mit den Kommandanten werde ich mich einigen können, es sind Geschäftsleute. Ich werde ihnen erzählen, dass Farah geflohen ist. Sie werden einsehen, dass es ihnen keinen Vorteil einbringt, wenn sie mich töten. Doch euch werden sie weiter verfolgen wollen.“
„Du auch?“
„Nein, selbst wenn sie mich dafür bezahlen würden.“ Er lächelte jetzt. „Der Weg hierher war lang, da konnte ich über alles nachdenken. Ich bin wütend, aber nicht so sehr auf dich, sondern mehr auf mich. Lass uns unseren Streit beenden, er führt zu nichts Gutem mehr.“
„Du machst es dir etwas zu einfach. Wie soll ich vergessen, dass du mich ermorden lassen wolltest?“
Herl verzog sein Gesicht. „Weil du das so einmalig ruhig sagen kannst. Du kannst nichts damit gewinnen, wenn du mich weiter verfolgst.“
„Das ist mir zu wenig. Nur wenn du allen erzählst, du hättest Farah beseitigt, weil dir die Sache zu heiß geworden sei, dann werde ich dich in Ruhe lassen.“
„Das ist mir zu riskant.“
„Wir werden uns verbergen.“
„Es scheint dir wirklich wichtig zu sein?“
„Sine qua non, mein Lieber.“
Herl lächelt überraschend. „Das freut mich für dich! Abgemacht!“ Er löste einen Lederbeutel von seinem Gürtel. „Hier hast du etwas Gold, damit ihr besser untertauchen könnt.“ Er drückte den Beutel in Sylissas Hand, lachte über ihr verblüfftes Gesicht und drehte sich um. Weiter lachend verließ er den Hain.
Sylissa schüttelte ihren Kopf und gab das Zeichen für die wartende Samara. Stumm sah sie zu, wie die hagere Frau herbeieilte und sich sofort um Farah kümmerte, wobei sie das Kind mit nervösen Händen auf Verletzungen hin absuchte.
„Beruhige dich, Samara!“, rief Sylissa schließlich. „Farah ist in Ordnung. Sie stinkt zwar schlimmer als ein Tier, doch ansonsten ist ihr nichts geschehen.“ Sie wartete, bis Samara zu ihr hin sah. „Ich kenne das Mittel, das Askar verwendet hat. Es wirkt einen knappen halben Tag lang, danach wacht man mit leichten Kopfschmerzen auf.“
„Kannst du ihr nichts geben?“
„Dazu müsste sie schlucken können.“ Sylissa lächelte leicht. „Hab Geduld!“ Aber ich werde mich jetzt um Keron kümmern. Bleib du inzwischen bei Farah.“
Nach einigen Minuten kam Sylissa zusammen mit Keron zurück. Es sah seltsam aus, wie sie den viel größeren und schwereren Mann wie ein Kind an einer Hand führte. Er konnte nur mit Mühe gehen und wirkte noch sehr abwesend, doch als er seine Tochter auf dem Boden liegend sah, kam Leben in sein starres Gesicht.
„Farah!“, flüsterte er kaum hörbar und kniete sich seitlich neben sie. Sanft fuhren seine Fingerkuppen über das blasse Gesicht. Er lächelte offen und eine Träne rollte über seine Wange.
„Sie wird bald zu sich kommen“, meinte Samara.
„Ja ... Ich spüre, dass es ihr gut geht. Und sie kann auch uns spüren.“ Er sah kurz zu Samara auf. „Verstehst du? Sie ist wie Janina.“ Er sah wieder zu seinem Kind herab und flüsterte erneut.
Samara versuchte Kerons Worte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht. Sie waren nicht nur zu undeutlich, sondern schienen ihr auch in einer fremden Sprache zu sein.
„Komm“, forderte Sylissa sie auf und zog an ihrem Hemd. „Lass die Beiden alleine.“
Im ersten Moment wollte Samara der Zauberin widersprechen, doch dann nickte sie und stand auf.
Etwas Abseits lehnte Sylissa sich an einen Baum. Ihr Gesicht war wie gewohnt undurchdringlich, doch ihre Augen strahlten in einem tiefen Blau.
„Ich habe einiges von eurem Gespräch mitbekommen“, meinte Samara. „Warum hast du nicht gleich gesagt, was du wirklich willst?“, fragte sie.
„Hättest du es geglaubt?“
Samara schüttelte den Kopf. „Nein, wahrscheinlich nicht.“
Sylissa nickte nachdenklich. „Ich habe es selbst nicht geglaubt.“ Sie reagierte auf Samaras verwunderten Blick mit einer wegwischenden Geste. „Dann hätte es nur noch mehr Misstrauen eingebracht, und dies hätte uns letztlich Zeit gekostet. Die Zeit war viel knapper, als du und Keron auch nur ahnten. Askar konnte sich jeden Moment mit seinen Auftraggebern einigen, oder, was am wahrscheinlichsten gewesen war, sie könnten sein Lager finden. Dann wäre Farah verloren gewesen.“ Bevor Samara etwas erwidern konnte, sah Sylissa an ihr vorbei in Kerons Richtung. „Keron wird in einer halben Stunde wieder völlig normal sein“, meinte sie und sah wieder zu Samara. „Er kann dann Farah auf den Karren legen und zusammen mit uns zu Deogenes zurückkehren.“
„Damit würden wir den Schmied in die Sache hineinziehen.“
„Warum glaubst du, solltest du das Huhn zubereiten? Ihr könnt so lange bei uns bleiben, wie ihr wollt.“
„Unsere Vereinbarung ist zu Ende, wir wollten uns nach Farahs Befreiung trennen.“
„Bestehst du darauf?“
Samara schüttelte nachdenklich ihren Kopf. „Nein, wenn Keron zustimmt, können wir zusammenbleiben.“
*
„Wie geht es ihr?“, fragte Sylissa am Fuß der Treppe wartend.
Samara stieg die letzten Stufen beschwingt herab.
„Sie schläft jetzt. Das Bad hat sie weiter erschöpft, doch es ist jetzt eine gute Erschöpfung, wenn du verstehst.“
Sylissa fasste sich an das Kinn. „Ich denke schon. Dann können wir uns jetzt um dich kümmern.“
„Was meinst du damit?“
„Komm mit nach draußen, Deogenes will dir etwas zeigen.“
Es war inzwischen Nacht geworden. Die Kohlen in der Esse, vor der Deogenes mit verschränkten Armen wartete, glommen nur noch düster. Als er Samara erblickte, hob er seine rechte Hand. Zwischen seinen kräftigen Fingern hielt einen kleinen Stift.
„Der sollte echt genug aussehen, oder?“
Samara nahm den Stift und betrachtete ihn im Licht einer der umstehenden Fackeln.
„Was soll das sein? Ist das ein Niet?“
Deogenes lachte leise. „Du kannst ihn als Einzige nicht sehen. Es ist der Niet, der deinen Sklavenring verschließt.“ Er bemerkte, wie Samara sich an ihren Ring aus Kupfer fasste, der um ihren Hals lag. „Gemäß dem Muchnara muss er beim Tod eines Sklaven zurückgegeben werden. Um Betrug auszuschließen, darf er dabei nicht geöffnet sein.“ Er verzog angewidert sein Gesicht. „Kein schöner Gedanke, aber ein wirksamer. Damit er auch funktioniert, ist der Ring mit einem besonderen Niet verschlossen, in dessen Kopf das Siegel des Fürsten eingeprägt ist.“
Samara sah den Niet jetzt noch einmal an und entdeckte zahlreiche feine Linien, die in einem komplizierten Muster seinen pilzförmigen Kopf überzogen.
„Du hast das Siegel des Fürsten gefälscht?“
„Nein, mit meinen dicken Fingern könnte ich das nicht. Sie war es.“ Er deutete auf Sylissa, die mit einem Lächeln einen Stempel hochhielt. „Sie hat einen Monat daran gearbeitet.“
Samara starrte die Zauberin mit offenem Mund an. „Einen Monat?“
„Das ist kurz im Vergleich zu der Zeit, die ich brauchte, um ein Muster vom Siegel aufzutreiben.“
„Aber ...“
„Jetzt rede nicht herum. Der Ring muss ab, um unsere Tarnung zu ermöglichen. Also lege deinen Hals auf den Amboss und halte still. Deogenes darf den Ring nicht beschädigen, wenn er ihn öffnet.“
„Und was ist mit Keron?“
„Der freut sich darüber“, klang dessen dunkle Stimme hinter ihr auf.
Samara drehte sich zu ihm um. „Du hasst davon gewusst?“
„Seit heute Morgen, doch man bat mich, es bis jetzt zu verschweigen.“
„Ja“, warf Sylissa ein. „Du solltest einen klaren Kopf behalten.“
Als Samara sich vor dem Amboss auf die Knie begab und ihren Hals auf ihn legen wollte, drängen sich wieder die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft im Kerker nach vorne. Ihr Körper erstarrte eine Handbreit über dem Amboss und fing an zu zittern.
„Du musst sie festhalten“, forderte Sylissa Keron auf.
„Das kann ich nicht.“
„Du siehst doch, dass sie es alleine nicht schafft. Sie braucht deine Hilfe.“
Keron zögerte immer noch, dann legten sich seine Hände um den Ring. Samaras Körper verkrampfte sich, als er sie auf den Amboss drückte. Deogenes nahm trat heran, tauschte einen Blick mit Keron aus, dann fing er an, den Nietkopf abzufeilen. Das schabende Kratzen der Feile vermischte sich mit dem fast unhörbaren Stöhnen Samaras.
„Mach schnell“, bat Keron.
„Natürlich“, knurrte der Schmied, „es ist unerträglich.“
Nach einer halben Stunde halfen sie Samara, aufzustehen. Ihr Gesicht war von tiefer Erschöpfung gezeichnet, und in ihren Augen spiegelte sich das erfahrene Leid wieder.
Diogenes packte mit beiden Händen an den Ring. Begleitet von einem trockenen Knacken sprang der Niet heraus. Er zog weiter am Ring und bog ihn vorsichtig auf. Nach einem prüfenden Blick drückte Deogenes ihn in Samaras Hände.
„Schau ihn dir noch einmal an“, forderte Keron sie auf. „Morgen wird Deogenes ihn herrichten und später in der Umheide in irgendeiner Garnison abgeben. Dann wird Aylene für immer Tod sein.“
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, stammelte Samara.
„Ich hoffe, mit Aylene werden auch ihre Erinnerungen sterben“, meinte Sylissa. Sie wischte sich über ihre blauen Augen und räusperte sich. „Jetzt müssen wir nur noch unser Aussehen verändern, dann werden wir einigermaßen sicher sein.“
„Wie sollen wir das machen?“
„Ich schneide meine Haare ab und du lässt deine etwas länger wachsen. Außerdem kann ich unsere Augenfarben verändern. Damit werden sie nicht rechnen.“ Sie lachte über Kerons Blick. „Keine Sorge, das ist nicht von Dauer. Farah wird ihre schönen grünen Augen wieder zurückbekommen.“
ENDE