Das Unbewältigte oder Das Leben ein langer Traum

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Diesen Traum habe ich in immer neuen Versionen geträumt, viele hunderte Mal oder tausend Mal und mehr, und ich träume ihn noch immer in der einen oder anderen Nacht. Ein Schulfreund – ich habe ihn länger als vierzig Jahre nicht mehr gesehen – ist wieder an meiner Seite. Wir machen eine Gruppenreise, mal handelt es sich um einen Schulausflug, mal um eine betriebliche Veranstaltung (- als wären wir je Berufskollegen gewesen!). Wir reisen gemeinsam, Seite an Seite in einem Zug oder einem Bus sitzend. Wir sprechen uns aus, er stimmt mit mir überein. Es bedeutet Wiederannäherung, Versöhnung, Glück. Dann erwache ich, fühle mich sehr getröstet.

Der reale Hintergrund: Mit sechzehn fixierte ich mich für Jahre auf einen Mitschüler, der größtmögliche Durchschnittlichkeit mit einem recht angenehmen, vor allem akkuraten Äußeren verband. Indem sich mein Selbstbewusstsein damals herausbildete, erkannte ich in ihm zunehmend mein Gegenbild und fühlte mich zu ihm hingezogen, wie zu einem Urgrund, von dem man sich unweigerlich lösen muss und es nicht will. Er war die Folie, die ich von mir abreißen musste, wenn ich erwachsen werden wollte. Es tat weh und genau das war für mich das erste große Gefühl nach der Kindheit.

Ich liebte ihn nicht aufgrund seiner Vorzüge, sondern wegen seiner Mängel, die ich nach Kräften verklärte. Seine unbegabte Unbedarftheit beispielsweise wurde für mich zur liebens- und schützenswerten Naivität. Er schätzte umgekehrt meinen schärferen Verstand und war schlau genug, mein Interesse für ihn schmeichelhaft zu finden. So wurden wir als Primaner Banknachbarn, ohne die geringste Aussicht, Freunde werden zu können, ein höchst paradoxes Kastor-und-Pollux-Paar. Uns verband nichts, außer meinem Entwicklungsschmerz und seiner unterkühlten Reaktion darauf. Ich saß zwei Jahre neben ihm, litt unter seiner Normalität und Ordentlichkeit und fühlte gleichzeitig unablässig die anästhesierende Wirkung seiner Eigenliebe auf mich.

(Es versteht sich von selbst, dass zwischen uns nie etwas Eindeutiges vorfiel. Ich hatte ihn ja unbewusst gerade zu diesem Zweck ausgewählt. Dass er ihm dann in derart idealer Weise entsprach, hat mir sehr geschadet und meine Kontaktfähigkeit auf lange Zeit beschädigt.)

Mitten in diesem Zeitraum fand ein Klassenausflug statt. Ich trug ihm am Vortag an, auch im Bus neben ihm zu sitzen. Er war gleich einverstanden. Als wir dann aber vor der Abfahrt die Plätze einnahmen, ging er zur langen Rückbank, wo schon die Klassenrüpel saßen, und erklärte mir dabei kühl: Setz du dich am besten neben K., du wirst dich bestimmt gut mit ihm unterhalten. – So geschah es. Ich saß auf Hin- und Rückfahrt neben dem superklugen K. und unterhielt mich in der Tat sehr gut mit ihm, z.B. über die Illusion des freien Willens. Hinten rissen sie währenddessen Witze, doch nicht einmal über uns.

Es war eine Zurückweisung und zugleich eine Platzanweisung. Sie waren vollkommen gerechtfertigt. Dennoch habe ich sie damals als schweren Verlust und nicht zu verwindende Niederlage empfunden. Beim Abreißen der Folie scheint ein Stück Haut von mir mitgerissen worden zu sein. Es ist nie ganz verheilt. Und daher träume ich, korrigiere träumend das, was ich als nicht hinnehmbar empfinde. Immerhin träume ich diesen Traum von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger häufig – wobei dann auch das mit ihm verbundene unbeschreibliche Glücksgefühl sich allmählich immer seltener einstellt. Reife ist eben ein Austrocknungs- und Vernarbungsprozess.
 

wirena

Mitglied
Hallo Arno Abendschön

Herzlichen Dank für Deine Traumgeschichte. Auch ich befasse mich immer wieder mit meinen Träumen und lasse mich von diesen leiten. Erlebe ähnliches und vor allem aber auch, dass Reifen ein Verwandlungs-, ein Transformationsprozess ist. Altes kehrt in neuen Bildern wieder, die es im Alltag umzusetzen gilt. Glücksempfindungen sind m.E. einfach dankbar zu geniessen und das dadurch Entstehende findet hin und wieder seinen kreativen Ausdruck, sei dies z.B. in einer Lyrik oder einfach in einer schönen zwischenmenschlichen Begegnung.

In diesem Sinne wünsche ich Dir viele glückliche Stunden bei bester Gesundheit.
LG wirena
 
Danke, wirena, für die freundliche Meinungsäußerung. Die von dir aufgezeigte Verarbeitungsmöglichkeit ist natürlich vorzuziehen, falls sich das überhaupt anbietet. Allerdings gibt es eben auch so altes (und dabei hartnäckiges) Traummaterial, das im Wachzustand kaum konstruktiv zu verwenden ist. Im günstigsten Fall kann man sich noch einen Erkenntnisgewinn gutschreiben.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
D

Dominik Klama

Gast
Hallo Arno,
ich mag im Allgemeinen Traumnacherzählungen in literarischen Texte ja gar nicht. Mich stört daran, dass diese Träume ganz offenkundig nie von jemandem geträumt wurden, sondern vom Autor geschaffene Textpassagen sind. Als solche verfolgen sie im Rahmen des Gesamtwerks einen dramaturgischen Zweck, welcher meist leicht durchschaubar ist. Mir kommt das oft wie ein billiges Mittel, ein simpler Trick vor. Indem Träume bekannt sind für ihre "Fantastik", kann der Autor in ihnen alles und jedes erzählen, wozu er grad Lust hat. Soweit es halbwegs zum sonstigen Text passt. Der Autor kann aber sowieso alles und jedes erzählen, wozu er Lust hat, sofern es halbwegs ins Konzept seines Werkes passt. Texte müssen nicht "realistisch" sein. Darum ist dieses Mittel "Traum" eigentlich nicht notwendig. Es verleitet aber zum Hineinoperieren von "Poesie" in die Prosa. Und dagegen habe ich etwas.

In diesem Fall kann der Text aber anscheinend als autobiografisch und "wahrhaftig" verstanden werden. Er ist übrigens sehr gut geschrieben und der Traum scheint für den Leser einen Schlüssel zum wirklich gelebten Leben des Autors zu enthalten. Dies macht dann neugierig, erzeugt die Spannung im Text. "Was für eine Beziehung zwischen zwei Schuljungen war das, wenn die kleine Episode von einer Klassenfahrt, wo der eine Schüler dem anderen das erwartete Nebensitzen verweigerte, nachher ein ganzes Leben lang immer wieder im Traum korrigiert werden muss und diese Korrektur immer wieder Glücksgefühle beschert?"

An diese Frage anknüpfend setzt meine Kritik ein, welche eine ist, die ich schon bei manch anderem Text von dir hätte anbringen können.

Du bist eine Art Gentleman der Literatur. Dein Erzähler-Ich geht oft still beobachtend durch deine Texte hindurch. Du behelligst weder die von dir beobachteten Personen noch dich selber, sobald du als Figur in deinen Texten auftrittst, mit dem Aufschreiben von Details, welche von euch als "geht mir zu nahe" aufgefasst werden könnten. Das ist ein angenehm dezentes Erzählen, aber man wird oft den Eindruck nicht los, dass du uns Lesern wesentliche Informationen vorenthältst, was eigentlich Sache ist. Dadurch werden wir natürlich auch angeregt, die Leerstellen selber zu füllen. Der Text enthält aber die Angaben nicht, die wir bräuchten, um zuletzt entscheiden zu können, ob wir richtig oder falsch gedacht haben. Es klingt erst mal hübsch für eine Idee von Literatur: dem Leser Fingerzeige geben und ihn dann seine eigene Geschichte schreiben lassen. Aber es ärgert einen doch auch, wenn man weiß, dass es "wirklich passiert" ist. Dann will man immer wissen, "wie es wirklich war", bzw., da wir so naiv ja nun nicht sind und schon ahnen, dass sämtliche Schriftsteller ihre eigene Existenz umfrisieren, wenn sie davon schreiben, wie es der Autor wirklich will, dass wir es verstehen sollten.

Mit sechzehn fixierte ich mich für Jahre auf einen Mitschüler, der größtmögliche Durchschnittlichkeit mit einem recht angenehmen, vor allem akkuraten Äußeren verband. Indem sich mein Selbstbewusstsein damals herausbildete, erkannte ich in ihm zunehmend mein Gegenbild und fühlte mich zu ihm hingezogen, wie zu einem Urgrund, von dem man sich unweigerlich lösen muss und es nicht will.
(...)
Ich liebte ihn nicht aufgrund seiner Vorzüge, sondern wegen seiner Mängel, die ich nach Kräften verklärte. Seine unbegabte Unbedarftheit beispielsweise wurde für mich zur liebens- und schützenswerten Naivität.
(...)
So wurden wir als Primaner Banknachbarn, ohne die geringste Aussicht, Freunde werden zu können...
Jahrzehntelanges Rückerinnern an den Mitschüler im Traum belegt ja, dass es damals eine Art von Liebe gab. Die muss seinerzeit nicht mal erkannt worden sein, aber die späteren Träume weisen sie nach. Es gibt unterschiedliche Arten von Liebe und es ist nicht wichtig für den Leser, dass ihm genau erklärt wird, welche Art es war. Für den Jugendlichen mag es Idole geben, an denen er sich kritiklos orientiert, aber auch Spiegel, in denen er sich vor allem selber liebt, dann natürlich körperliche Reize, die erotisches Begehren verursachen, es mag den Ersatz-Bruder oder Ersatz-Vater beim Scheidungs- oder Einzelkind geben, aber auch den allerbesten Kameraden auf der Welt, mit dem man durch Dick und Dünn gehen wird (wie man in dem Alter wohl noch glaubt, später verlieren sich solche Freunde meist irgendwann "wie von selbst" aus den Augen). Und es gibt auch die Gegenpole, die etwas haben, was man bei sich selbst schmerzlich entbehrt, wo man im anderen dann die natürliche Ergänzung sieht, ein platonisches Modell. In Filmen oft schon gesehen: das Freundespaar aus hoch intelligentem Schwächling und eher etwas einfach gestrickter Sportskanone, die in ihrer Verbindung erst unschlagbar werden, wenn sie sich dann als Paar unter anderen Menschen bewegen.

Der Punkt ist, dass man in all diesen Fällen sagen kann, warum die Liebe da ist. Es ist ja so ein beliebtes Stereotyp der Gedanken über Liebe, dass sie so geheimnisvoll, unlogisch und undirigierbar wäre. Das wird zwar gern gedacht und oft gesagt, stimmt meines Erachtens aber eher selten. Da sind eigentlich immer handfeste Gründe für die Liebe vorhanden und die könnte man auch benennen.

Genau das tut dein Text aber nicht. Du erzählst uns, dass dieser andere Junge durchschnittlich, unauffällig, nicht besonders intelligent, sehr adrett und korrekt war. Du erzählst uns, dass das Zusammentun mit ihm den schreibenden Homosexuellen auf Jahre hinaus davon abgehalten hat, sich Partner zu suchen, die ihm mehr hätten geben können. Du erzählst uns aber nicht, was an dem Jungen dran war, das bewirkte, dass der Ich-Erzähler als Jugendlicher ständig bei ihm sein wollte. Da muss aber was gewesen sein. Man sucht sich aus einer durchschnittlichen Population nicht den Allerdurchschnittlichsten heraus, um Zeit mit ihm zu verbringen. Sondern man sucht sich den heraus, der einem irgendwie jrgendetwas gibt. Die Frage ist bloß, was das in diesem Fall gewesen ist. Mit deiner dezenten Erzählweise teilst du uns diese wichtige Information nicht mit.
 
Deine Anmerkungen, Dominik, sind klug und nicht ganz von der Hand zu weisen. Ich kann nur versuchen, ihre Bedeutung zu relativieren. Da ist zum einen der formale Umstand, dass es sich hier nicht um einen traditionellen Erzähltext für den Druck und die Papierform handelt. Dieser Text ist fürs Internet geschrieben worden, er ist Lektüre für Minuten. Er soll aus einem komplexen Zusammenhang heraus zwei oder drei Aspekte herausgelöst dem Leser präsentieren, wie ein Schlaglicht, das etwas heraushebt.

Stellst du dir nie die Frage, inwieweit deine im Allgemeinen recht umfangreichen Texte überhaupt fürs Lesen im Internet geeignet sind? Soweit mir bekannt, sind sie zunächst nicht dafür geschrieben worden. Ich denke schon, dass zwei so verschiedene Arten des Veröffentlichens wie des Lesens auch zu Unterschieden in der Länge und in der Struktur des Textes führen sollten. Die Form sollte bis zu einem gewissen Grad die Bedingungen von Produktion und Konsum widerspiegeln bzw. ihnen entsprechen. (Analog der Architekturentwicklung: Ornament galt als Verbrechen, als die Bauweise industrialisiert wurde und sich nun auf die Bedürfnisse breiterer Schichten bezog.) Die Ratschläge, die du jetzt gibst, habe ich noch vor zehn Jahren selbst beherzigt. Meine älteren Texte belegen das. Je mehr ich mich aber aufs Internet konzentriert habe, umso antiquierter erschienen mir diese alten Erzählstrukturen.

Weiter: Ich habe ja den vorliegenden Stoff durchaus intensiver dargestellt, nur eben aufgeteilt auf eine Reihe von Einzeltexten. Wer meine Sachen regelmäßig zur Kenntnis nimmt, erfährt noch Weiteres zu diesem Komplex. Über den Mitschüler hier findet sich wesentlich mehr in "Tantalus am Gymnasium" (im Autorenweb auffindbar). Er taucht in "Schulweg der Erinnerung" (bei Versalia) kurz auf und wieder deutlicher in "Eros in der Religionsstunde" (zzt. nicht im Internet). Und dann gibt es noch einen Text mit dem gleichen Personal, der viel mehr in die Tiefe geht, den ich jedoch bisher aus triftigen Gründen nicht veröffentlicht habe, die mit dem autobiographischen Charakter zusammenhängen.

Abschließend: Wir beide fassen, glaube ich, das Wesen und die Rolle individueller Liebesregungen recht verschieden auf. (Haben wir ja schon mal woanders erörtert.) Gerade das Individuelle daran erscheint mir immer fraglicher. Bei Musil gibt es in einem Aufsatz diesen schönen Vergleich, wonach sich junge Leute wie die Tauben auf alles stürzen, was in der Nähe nach Futter aussieht, egal wie es beschaffen ist. Er bezieht das aufs Geistige, aber es gilt auch fürs Erotische. Nimm eine Schulklasse von Siebzehnjährigen, da hast du eine kleine Gruppe junger liebesbedürftiger Menschen, die permanent zusammentreffen. Dass sich da Liebesgefühle und -romane entwickeln, ist zwangsläufig, und ihre Träger müssen dafür gar keine besonderen Eigenschaften aufweisen. Insofern ist es dann auch müßig, in Texten darüber die Personen mit vielen Details auszustatten. Das Individuelle ist meist nur die Zufallsmaske, die ein notwendig ablaufender überindividueller Prozess annimmt.

Schönen Abendgruß
Arno Abendschön
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Arno,

(Es versteht sich von selbst, dass zwischen uns nie etwas Eindeutiges vorfiel. Ich hatte ihn ja unbewusst gerade zu diesem Zweck ausgewählt. Dass er ihm dann in derart idealer Weise entsprach, hat mir sehr geschadet und meine Kontaktfähigkeit auf lange Zeit beschädigt.)
wieder eine Stelle in einem Text von dir, wo ich einfach nur loslachen musste! Als Leser habe ich ein Faible für Stellen, wo Weinen und Lachen ineinanderfallen.
Nicht wirklich erspüren kann ich dabei, inwieweit du ganz bewusst als Schreibender mit dieser Komik arbeitest; aber es scheint mir auch nicht die entscheidende Frage zu sein. Ich glaube, es darf ruhig ein wenig im Nebel verbleiben, ob der Autor selbst an dieser Stelle mitlacht oder das Ganze überhaupt nicht zum Lachen findet. Es ist wirklich nicht zu ergründen. Das begeistert mich.

Du schreibst Nichtigkeiten, in denen sich Abgründe auftun. Das lese ich gerne.

lg wüstenrose
 
Ja, Wüstenrose, ich lache oder grinse zumindest beim Schreiben wie Überlesen oft mit, wenn auch vielleicht nicht gerade an dieser Stelle. Es freut mich, dass jemand die Ambivalenz spürt.

Ohne mich in irgendeiner Weise mit Kafka vergleichen zu wollen, passt hierzu vielleicht das: Kafka soll beim Vorlesen seiner eigenen Texte (z.B. von "Die Verwandlung") gern gelacht haben.

Freundlichen Abendgruß
Arno
 

wüstenrose

Mitglied
Guten Morgen Arno,
ja, und seit ich im Prozess gelesen habe, dass man sich beim unvermittelten Auftauchen übermächtiger Instanzen auch mit der Radfahrerlegitimation auweisen kann, trage ich die meinige stets und allüberall bei mir. Es gibt mir ein sicheres Gefühl. Ich bin dann weniger verloren.
schönen Tag noch!
wüstenrose
 
Danke, Gabriele, dafür, dass du zwei der mir wesentlichen Aspekte so gut herausgestellt hast. Ich reagiere erst heute, da ich mehrere Wochen nicht im Internet war.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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