Arno Abendschön
Mitglied
Diesen Traum habe ich in immer neuen Versionen geträumt, viele hunderte Mal oder tausend Mal und mehr, und ich träume ihn noch immer in der einen oder anderen Nacht. Ein Schulfreund – ich habe ihn länger als vierzig Jahre nicht mehr gesehen – ist wieder an meiner Seite. Wir machen eine Gruppenreise, mal handelt es sich um einen Schulausflug, mal um eine betriebliche Veranstaltung (- als wären wir je Berufskollegen gewesen!). Wir reisen gemeinsam, Seite an Seite in einem Zug oder einem Bus sitzend. Wir sprechen uns aus, er stimmt mit mir überein. Es bedeutet Wiederannäherung, Versöhnung, Glück. Dann erwache ich, fühle mich sehr getröstet.
Der reale Hintergrund: Mit sechzehn fixierte ich mich für Jahre auf einen Mitschüler, der größtmögliche Durchschnittlichkeit mit einem recht angenehmen, vor allem akkuraten Äußeren verband. Indem sich mein Selbstbewusstsein damals herausbildete, erkannte ich in ihm zunehmend mein Gegenbild und fühlte mich zu ihm hingezogen, wie zu einem Urgrund, von dem man sich unweigerlich lösen muss und es nicht will. Er war die Folie, die ich von mir abreißen musste, wenn ich erwachsen werden wollte. Es tat weh und genau das war für mich das erste große Gefühl nach der Kindheit.
Ich liebte ihn nicht aufgrund seiner Vorzüge, sondern wegen seiner Mängel, die ich nach Kräften verklärte. Seine unbegabte Unbedarftheit beispielsweise wurde für mich zur liebens- und schützenswerten Naivität. Er schätzte umgekehrt meinen schärferen Verstand und war schlau genug, mein Interesse für ihn schmeichelhaft zu finden. So wurden wir als Primaner Banknachbarn, ohne die geringste Aussicht, Freunde werden zu können, ein höchst paradoxes Kastor-und-Pollux-Paar. Uns verband nichts, außer meinem Entwicklungsschmerz und seiner unterkühlten Reaktion darauf. Ich saß zwei Jahre neben ihm, litt unter seiner Normalität und Ordentlichkeit und fühlte gleichzeitig unablässig die anästhesierende Wirkung seiner Eigenliebe auf mich.
(Es versteht sich von selbst, dass zwischen uns nie etwas Eindeutiges vorfiel. Ich hatte ihn ja unbewusst gerade zu diesem Zweck ausgewählt. Dass er ihm dann in derart idealer Weise entsprach, hat mir sehr geschadet und meine Kontaktfähigkeit auf lange Zeit beschädigt.)
Mitten in diesem Zeitraum fand ein Klassenausflug statt. Ich trug ihm am Vortag an, auch im Bus neben ihm zu sitzen. Er war gleich einverstanden. Als wir dann aber vor der Abfahrt die Plätze einnahmen, ging er zur langen Rückbank, wo schon die Klassenrüpel saßen, und erklärte mir dabei kühl: Setz du dich am besten neben K., du wirst dich bestimmt gut mit ihm unterhalten. – So geschah es. Ich saß auf Hin- und Rückfahrt neben dem superklugen K. und unterhielt mich in der Tat sehr gut mit ihm, z.B. über die Illusion des freien Willens. Hinten rissen sie währenddessen Witze, doch nicht einmal über uns.
Es war eine Zurückweisung und zugleich eine Platzanweisung. Sie waren vollkommen gerechtfertigt. Dennoch habe ich sie damals als schweren Verlust und nicht zu verwindende Niederlage empfunden. Beim Abreißen der Folie scheint ein Stück Haut von mir mitgerissen worden zu sein. Es ist nie ganz verheilt. Und daher träume ich, korrigiere träumend das, was ich als nicht hinnehmbar empfinde. Immerhin träume ich diesen Traum von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger häufig – wobei dann auch das mit ihm verbundene unbeschreibliche Glücksgefühl sich allmählich immer seltener einstellt. Reife ist eben ein Austrocknungs- und Vernarbungsprozess.
Der reale Hintergrund: Mit sechzehn fixierte ich mich für Jahre auf einen Mitschüler, der größtmögliche Durchschnittlichkeit mit einem recht angenehmen, vor allem akkuraten Äußeren verband. Indem sich mein Selbstbewusstsein damals herausbildete, erkannte ich in ihm zunehmend mein Gegenbild und fühlte mich zu ihm hingezogen, wie zu einem Urgrund, von dem man sich unweigerlich lösen muss und es nicht will. Er war die Folie, die ich von mir abreißen musste, wenn ich erwachsen werden wollte. Es tat weh und genau das war für mich das erste große Gefühl nach der Kindheit.
Ich liebte ihn nicht aufgrund seiner Vorzüge, sondern wegen seiner Mängel, die ich nach Kräften verklärte. Seine unbegabte Unbedarftheit beispielsweise wurde für mich zur liebens- und schützenswerten Naivität. Er schätzte umgekehrt meinen schärferen Verstand und war schlau genug, mein Interesse für ihn schmeichelhaft zu finden. So wurden wir als Primaner Banknachbarn, ohne die geringste Aussicht, Freunde werden zu können, ein höchst paradoxes Kastor-und-Pollux-Paar. Uns verband nichts, außer meinem Entwicklungsschmerz und seiner unterkühlten Reaktion darauf. Ich saß zwei Jahre neben ihm, litt unter seiner Normalität und Ordentlichkeit und fühlte gleichzeitig unablässig die anästhesierende Wirkung seiner Eigenliebe auf mich.
(Es versteht sich von selbst, dass zwischen uns nie etwas Eindeutiges vorfiel. Ich hatte ihn ja unbewusst gerade zu diesem Zweck ausgewählt. Dass er ihm dann in derart idealer Weise entsprach, hat mir sehr geschadet und meine Kontaktfähigkeit auf lange Zeit beschädigt.)
Mitten in diesem Zeitraum fand ein Klassenausflug statt. Ich trug ihm am Vortag an, auch im Bus neben ihm zu sitzen. Er war gleich einverstanden. Als wir dann aber vor der Abfahrt die Plätze einnahmen, ging er zur langen Rückbank, wo schon die Klassenrüpel saßen, und erklärte mir dabei kühl: Setz du dich am besten neben K., du wirst dich bestimmt gut mit ihm unterhalten. – So geschah es. Ich saß auf Hin- und Rückfahrt neben dem superklugen K. und unterhielt mich in der Tat sehr gut mit ihm, z.B. über die Illusion des freien Willens. Hinten rissen sie währenddessen Witze, doch nicht einmal über uns.
Es war eine Zurückweisung und zugleich eine Platzanweisung. Sie waren vollkommen gerechtfertigt. Dennoch habe ich sie damals als schweren Verlust und nicht zu verwindende Niederlage empfunden. Beim Abreißen der Folie scheint ein Stück Haut von mir mitgerissen worden zu sein. Es ist nie ganz verheilt. Und daher träume ich, korrigiere träumend das, was ich als nicht hinnehmbar empfinde. Immerhin träume ich diesen Traum von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger häufig – wobei dann auch das mit ihm verbundene unbeschreibliche Glücksgefühl sich allmählich immer seltener einstellt. Reife ist eben ein Austrocknungs- und Vernarbungsprozess.