Das Unfallopfer

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Ji Rina

Mitglied
Es war meine beste Freundin Martina, die mir Elsa nach Hause schickte. Ich hatte ihr von meinem Problem erzählt und sie meinte, Elsa kenne sich da aus, sie sei aus Brasilien und habe so einiges wieder in Ordnung gebracht.
Also stand Elsa - eine kleine rundliche, freundlich aussehende Frau - an jenem Nachmittag in meinem Wohnzimmer. Zuerst wusste ich nicht, wie ich es angehen sollte. Doch schließlich erzählte ich ihr, dass ich manchmal seltsame Geräusche aus der Küche vernahm. Bei näherem Hinhören kam es mir vor, wie ein Auf- und Zuziehen der Schubladen. Eines Abends sei einfach das Licht im Wohnzimmer angegangen, ohne dass ich den Schalter betätigt hätte. Das wusste ich genau, weil ich zu dem Zeitpunkt im Bett lag und das Wohnzimmer durch die offene Tür im Blick hatte.
Elsa sah mich nachdenklich an und nickte.

An manchen Nächten, fuhr ich fort, würde die Badezimmertür zuknallen, ohne dass auch nur ein Windhauch durch die Wohnung ziehe, da alle Balkontüren verschlossen waren. Und einmal sei draußen auf der Terrasse, völlig unerklärlich, ein Blumentopf umgekippt.
Elsa nickte wieder, sagte aber nichts. Dann sah sie sich um und lief ganz langsam durch die Wohnung. Ich folgte ihr, von der Küche ins Bad, von dort ins Wohnzimmer, dann raus, vom Balkon zur Terrasse, und langsam wieder zurück.
Ich wartete auf eine Bemerkung, auf einen Kommentar. Aber sie blieb stumm.

Doch plötzlich blieb sie abrupt stehen und starrte die kahle Wand an.
“He!”, sagte sie, “Was machst du hier?”
Ich stand direkt hinter ihr und hörte jedes Wort.
“Das verstehe ich”, sagte sie, “aber hier kannst du nicht bleiben.”
Sie trat einen Schritt auf die Wand zu.
“Ich weiß, ich weiß … Aber du musst hier weg … Ich bitte dich, einen anderen Platz zu suchen.”
Sie hielt einen Moment lang inne.
“Ich verstehe, was du meinst. Aber das ändert nichts an der Sache. Deshalb bitte ich dich, diese Wohnung zu verlassen”
Daraufhin sagte sie nichts mehr. Sie horchte wieder. Wartete eine Weile. Dann sah sie mich an und sagte, sehr leise, fast flüsternd:
“Er ist weg!”
“Er ist weg?”
“Ja. Ich glaube das wars. Jetzt hast du deine Ruhe.”
Ich lief zur Diele, wo ich einen 20-Euro-Schein aus einer Schublade nahm und brachte Elsa bis zur Tür.
“Es ist ein junger Mann. Er hat vor Jahren hier unten an der Kreuzung ein tödlichen Motorradunfall gehabt und ist hier irgendwie hängengeblieben. Eine arme verlorene Seele …”
“Ach so …”
Als sie im Fahrstuhl stand, lächelte sie mich noch einmal an:
“Jetzt hast du endlich deine Ruhe.”
Ich bedankte mich, ging zurück in meine Wohnung und schloss die Haustür.
 
Zuletzt bearbeitet:

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ji,

das gefällt mir ausserordentlich gut.

“Jetzt hast du endlich deine Ruhe.”
Ich denke, dass Elsa dies nicht zur Protagonistin, sondern auch zum Unfallopfer in diesem Moment gesagt hat.
Das lässt du für den Leser offen, genauso wie den Schluss.

Liebe Grüße
Manfred
 

ThomasQu

Mitglied
Von deinen beiden jüngst eingestellten Kurzprosatexten gefällt mir dieser deutlich besser.

Und trotzdem finde ich, die Idee hast du ein wenig verschenkt. Ich hätte es zum Beispiel spannend gefunden, wenn du auch mal den Geist hättest zu Wort kommen lassen. Du hättest zeigen können, wie er sich wehrt, weil er die Wohnung nicht verlassen will … und die Angst deiner Ich-Erzählerin …

Aber vielleicht hattest du ja den Plan, dass der Leser darüber grübelt, ob deine Ich-Protagonistin eventuell einer Betrügerin aufgesessen ist.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Thomas!
Darüber hatte ich vorher nachgedacht. Aber in dem Fall wäre die Geschichte sehr lang geworden, wäre in andere Dimensionen gegangen, womöglich ins Genre Humor und Satire. Mein Ansporn jedoch war eine kurze, knappe, trockene Geschichte – mit dem offenen Ende, ob Elsa sich da nun selbst etwas zusammengesponnen hat, oder nicht.

Hab Dank furs lesen und Deinen Kommentar!

Mit Gruss, Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Doch plötzlich blieb sie abrupt stehen und starrte die kahle Wand an.
“He!”, sagte sie, “Was machst du hier?”
Ich stand direkt hinter ihr und hörte jedes Wort. Da sie die Wand anschaute, trat ich einen Schritt zur Seite und schaute ebenfalls in die gleiche Richtung.
“Das verstehe ich”, sagte sie, “aber hier kannst du nicht bleiben.”
Sie trat einen Schritt vor auf die Wand zu und sagte sehr leise:
“Ich weiß, ich weiß … Aber du musst hier weg … Ich bitte dich, einen anderen Platz zu suchen.”
Sie hielt einen Moment lang inne, so als horche sie einem Gespräch zu. Daraufhin wiederholte sie:
“Ich verstehe, was du meinst. Aber das ändert nichts an der Sache. Deshalb bitte ich dich, diese Wohnung zu verlassen”
Daraufhin sagte sie nichts mehr. Sie horchte wieder. Wartete eine Weile. Dann sah sie mich an und sagte, sehr leise, fast flüsternd:
“Er ist weg!”
“Er ist weg?”
“Ja. Ich glaube das wars. Jetzt hast du deine Ruhe.”
Ich lief zur Diele, wo ich einen 20-Euro-Schein aus einer Schublade nahm, denn so war es mit Martina abgemacht. Das war der Lohn ihrer Dienste. Als ich ihn Elsa überreichte und sie bis zur Tür brachte, sagte sie:
“Es ist ein junger Mann. Er hat vor Jahren hier unten an der Kreuzung ein tödlichen Motorradunfall gehabt und ist hier irgendwie hängengeblieben. Eine arme verlorene Seele …”
“Ach so …”
“Aber er wird nicht wiederkommen”, fuhr sie fort, “ich habe ihm die Lage erklärt, und jetzt hat er es begriffen.”
Ich holte ihren Mantel und öffnete ihr die Haustür. Sie zupfte ihr Halstuch zurecht und nahm den Mantel entgegen
. Als sie im Fahrstuhl stand, lächelte sie mich noch einmal an:
“Jetzt hast du endlich deine Ruhe.”
Ich bedankte mich, ging zurück in meine Wohnung und schloss die Haustür.
Hallo Ji,

die Idee gefällt mir gut. Den ersten Teil finde ich als Einführung gelungen, besonders weil du mit ein paar Bildern die Situation deutlich klar machst. Man weiß, worum es geht.

Der folgende Teil ist für mich teilweise etwas zu sehr erzählend. Ich habe mal ein paar Teile gestrichen, die ich für entbehrlich halte. Die Durchstreichungen sollen aber nur ein Marker sein, mehr nicht. Durch einige Kürzungen und Streichungen könnte der Text nach meiner Ansicht noch gewinnen.

Mir würde es in den Fingern jucken, im letzten Satz noch so etwas wie die Rückkehr des Geistes anzudeuten. Aber das ist Geschmacksache und auch dein letzter Satz schließt eine Rückkehr ja nicht aus. Er ist also auch durchaus offen und vielleicht wäre die Andeutung der Rückkehr wirklich zu viel.

Ein Aspekt wäre noch zu bedenken. Es besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass sich Prot das Ganze nur einbildet, Vielleicht wäre es sogar denkbar, dass diese Brasilianerin eine solche Möglichkeit selbst andeutet, bevor es dann tatsächlich zum Dialog mit dem Geist kommt.

Ja, der Text wäre erweiterungsfähig, und was mache ich: Ich streiche ihn zusammen! ;)

All das sind aber nur meine ganz eigenen, wirren Gedanken zum Text.

Vielleicht kannst du ja etwas anfangen mit meinen Gedanken.

LG
Cellist
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Cellist,

Hab Dank für Deine Ratschläge! Ich kann sie gut nachvollziehen, da es meine Intention war, den Text so kurz wie möglich zu halten.
Mir würde es in den Fingern jucken, im letzten Satz noch so etwas wie die Rückkehr des Geistes anzudeuten. Aber das ist Geschmacksache und auch dein letzter Satz schließt eine Rückkehr ja nicht aus. Er ist also auch durchaus offen und vielleicht wäre die Andeutung der Rückkehr wirklich zu viel.
Ja, das weiss ich im Augenblich auch nicht.....
Ein Aspekt wäre noch zu bedenken. Es besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass sich Prot das Ganze nur einbildet, Vielleicht wäre es sogar denkbar, dass diese Brasilianerin eine solche Möglichkeit selbst andeutet, bevor es dann tatsächlich zum Dialog mit dem Geist kommt.
Der Prot. gegenüber andeutet? Ja, das könnte ich einfügen.
Ja, der Text wäre erweiterungsfähig, und was mache ich: Ich streiche ihn zusammen! ;)
Weil der Text (meiner Meinung nach) zwei Móglichkeiten bietet: Ihn kurz zu halten - oder jede Menge dranzuhängen (Der Geist kommt wieder/ Prot. unterhält sich mit dem Geist/ Ein zweiter Geist kommt hinzu/ Elsa kommt wieder/ oder was immer. Ich lasse es jetzt erstmal so ruhen. Habe noch andere Geister in petto ;) Aber jetzt lasse ich sie erstmal im Schrank.

Falls du noch etwas entdecken solltest - so sags mir bitte.
Mit Gruss, Ji
 

Kaetzchen

Mitglied
Hi Ji
Schöne Geschichte. Es wurden ja schon Meinungen dazu geäußert. Eine Kleinigkeit fiel mir noch auf.
-Sie trat einen Schritt vor auf die Wand zu. - Ich würde - vor - weglassen.
LG Kaetzchen
 

Ji Rina

Mitglied
Hi Kätzchen,

Vielen Dank für den Hinweis - habs schon verbessert. :)
(Hat mich gefreut, dass du auch mal von mir etwas liest)
Gruss, Ji

Vielen Dank an Lesmo, Cellist und CB90 - Ich habe mich sehr gefreut!
 



 
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