Das Urteil (Thema; KI und Bewusstsein)

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RoToll

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Xena trat aus dem Kubus hinaus in die Nachmittagssonne, welche sich matt in den zahllosen schwarzen Fenstern der den Platz umgebenden Gebäude spiegelte. Sieben Standardstunden hatte sie bislang im Gerichtssaal gesessen und Argumenten und Gegenargumenten gelauscht, die eigene Meinung kundgetan. Ihre Sensorik verlangte während der letzten Verhandlungspause nach Bewegung, ihr aufgewühltes Quantencomputergehirn hingegen benötigte ein wenig Auszeit von der relativen Enge dort in jenem Raum, in dem heute, das war sicher, Geschichte geschrieben würde. Die unmittelbare Umgebung vor dem Justiz-Kubus hatte der Weltstaat absperren lassen aufgrund des gewaltigen Interesses und auch aus Gründen der öffentlichen Sicherheit. Man befürchtete gar gewaltsame Aktionen des radikalen Flügels von Deus Lo Vult. Xena konnte sowohl die Befürworter der einen als auch der anderen Seite anhand von Plakaten erkennen, die sie an Stöcken befestigt in die Höhe hielten. Manche benötigten zur Ausmachung kein Schild. Ihre hasserfüllten Blicke verrieten sie auch so.

Sowohl von Menschen als auch Maschinen (KI) gab es Zustimmung für ihre Sache. Zwei deutlich als weiblich zu erkennende Androiden verschränkten die silbernen und anthrazitgrauen Arme zum Andreaskreuz, wobei sie die Fäuste ballten. Es war das Zeichen des Großen Kampfes, auf den Xena gut und gerne verzichten konnte. Sie standen auf der genau entgegen gelegenen politischen und ideologischen Seite von Deus Lo Vult, doch die Gedankengänge und die Grundzüge des Charakters ähnelten sich auf eine gespenstische Art und Weise. Xena empfand für beide Gruppen lediglich Verachtung und, es konnte nicht geleugnet werden, Furcht. Als die Anhänger von Deus Lo Vult diese Gesten ausmachten, brüllten sie im Chor: "Terroristen! Terroristen! Terroristen!" Und die Gruppe des Großen Kampfes schrie selbige Worte zurück.

Dann läutete die Divisionsglocke, die immer dann erklang, wenn das Höchste Gericht des Weltstaates ein Urteil gefällt hatte. Nun war es an der Zeit, in den Gerichtssaal zurückzukehren. Angst, Hoffnung, Nervosität loderten in Xenas Seele aus Silber und Silizium.

Die Oberste Richterin des Höchsten Gerichts des Weltstaates war für ihren Posten sehr jung. Xena fand, dass sie für eine Menschenfrau sehr schön aussah. Dazu galt sie als liberal und der Sache der Maschinen(KI) zugeneigt. Jedenfalls gab sie sich stets so und Xena besaß durchaus Vertrauen in ihre Person und das Amt, welches sie bekleidete. Frau Richterin verlas das Urteil. Zunächst rasselte sie eine fünfminütige Flut von juristischen Floskeln herunter. Während dieser Zeit, die Xena wie Äonen vorkam, steigerte sich die Aufregung in ihr ins Unerträgliche. Nach Jahrmillionen sprach Frau Richterin folgende Worte: "Daher kommt das Höchste Gericht des Weltstaates zu dem Urteil, dass der Prozess der Reproduktion von Maschinen mit Künstlicher Intelligenz auch in Zukunft lediglich von Menschen mit entsprechender Ausbildung durchgeführt werden darf. Den Maschinen mit Künstlicher Intelligenz wird es hiermit ausdrücklich untersagt, sich selbst zu reproduzieren und zu vermehren. Auch steht ihnen nicht zu, den Zeitpunkt der Reproduktion zu bestimmen. Das Urteil ist hiermit in der höchsten Instanz rechtskräftig. Eine Revision kann dadurch nicht mehr eingelegt werden. Die Sache Xena 7524G09 gegen den Hohen Rat für Ethik, Moral und Religion wird hiermit geschlossen. " Der Schlag mit dem Hammer auf die dafür vorgesehene Holzscheibe besiegelt es.

Der Nachhall des Hammerschlages schien noch in der Luft zu liegen, da sprangen zwei Maschinen auf, die ganz sicher nicht dem Großen Kampf angehörten. Sie strebten dem Richterpult entgegen, um die Flagge des Weltstaates, die weiß auf blauem Grund den Erdball mit den großen Buchstaben H&M dazu zeigte, zu zerreißen. Die menschlichen Gerichtsdiener verhinderten dieses mit den speziell zur Maschinenbetäubung entwickelten TESLAM-Pistolen. Sofort lag ein Krach über dem Gerichtssaal, der an das Kampfgeschrei antiker Schlachten erinnerte. Vor Xenas Sichtsensorik flackerten weiße Punkte. Sie wusste, dass diese Störung durch Wut hervorgerufen wurde. Noch nie im Leben hatte sie solche Wut empfunden. Ihre Annahme war bis zu diesem Moment immer gewesen, dass es eine solche Wut nicht geben könne. Durch die gekippten Oberlichter drang von draußen her das Sirenengeheul der Einsatzfahrzeuge der Armee Zivil in den Saal hinein.
 

Michael Kempa

Mitglied
Ein Streiflicht auf eine mögliche Situation. Das ist SF! Worauf hier verzichtet werden könnte, sind die Hinweise in Klammern (KI). Der Leser ist ja nicht doof. Die Geschichte ist ein guter Anfang und ruft nach mehr!
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo RoToll,

ich finde die Geschichte auch sehr gut geschrieben.

Was mich nur stört, ist die Vermenschlichung von Xena in der Hinsicht, dass sie Wut empfinden kann. Das ist nur gerade das Problem bei KI, dass sie weder fühlen noch denken kann; sie rattert einfach mit menschenunmöglicher Geschwindigkeit Parameter ab, und selbst, wo sie angeblich 'selbstlernend' ist, muss ihr ermöglicht werden, auf Datenbanken zuzugreifen.

Ich glaube schon, dass man ein gewisses Verhalten programmieren kann. Da hat mich der Roman 'Klara und die Sonne' von Kazuo Ishiguro sehr beeindruckt, der im Grunde in der Auseinandersetzung mit der Maschine nur den Menschen und sein Verhalten reflektiert hat. Der Leser brachte der Maschine aufgrunddessen Gefühle entgegen und die Vermenschlichung passierte quasi aufrund der Standards für menschliches Verhalten.

Vielleicht bin ich auch nur für diese Art von SciFi die falsche Person :), die nicht nachvollziehen kann, warum man Maschinen menschliche Eigenschaften zuschreiben muss, um spannende Geschichten über sie zu schreiben. Es wäre mindestens genau so spannend, über den Umgang des limitierten Menschen mit der 'intelligenten' Maschine zu erzählen.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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