Das Versprechen
Ich sehe den alten Mann die Strasse hinuntergehen. Er trägt eine weite Hose, deren Farbton durch unzähliges Waschen und Trocknen in der Sonne nicht mehr zu definieren ist. Das kurzärmelige, zerknitterte Hemd fällt offen über seinen mageren Oberkörper und entblösst eine knochige, von spärlichem, grauen Haarwuchs bedeckte Brust. Neben ihm läuft ein kleiner, hässlicher Hund mit braunem, struppigem Fell und einem vorstehenden Unterkiefer, aus dem ein einzelner Zahn herausguckt.
Es ist bereits früher Abend, doch die Hitze des Tages hängt immer noch wie eine riesige Dunstglocke über der spanischen Landschaft und lässt die Sonne, die schon tief über den Bergkuppeln des Bernia Gebirges steht, trübe erscheinen.
Seit einiger Zeit ist es unerträglich schwül und feucht, und jedermann erwartet sehnsüchtig das angekündigte Gewitter, das endlich etwas Kühlung bringen soll. Doch nichts deutet auf einen ordentlichen Regenguss hin, und kein Lüftchen bewegt die vertrockneten Gräser am Strassenrand.
Auch der alte Mann leidet unter der Wärme. Obwohl er einen Strohhut trägt, dessen vorstehender, ausgefranzter Rand ihm etwas Schatten spendet, sind auf seiner sonnengebräunten, runzligen Haut unzählige Schweisströpfchen zu sehen. Hin und wieder zieht der Alte ein Tuch aus seiner Hosentasche, und wischt den Schweiss, der sich in den tiefen Gesichtsfalten gesammelt hat, ab. Schwer stützt er sich beim Gehen auf seinen Stock und wenn man genau hinschaut, bemerkt man, dass er das linke Bein ein wenig nachzieht.
Ich lebe schon sehr viele Jahre in dieser Gegend, und deshalb kenne ich diesen Mann gut. Es ist Jaime, der Schäfer, dass heisst, früher einmal war er Schafhirte und zog mit seiner Herde hier oben in den Bergen umher. Doch nun ist der Schafstall seiner alten Finca, die nicht weit von meinem Haus entfernt liegt, schon lange leer. Schade, ich vermisse das fröhliche Geblöke und das zarte Läuten der kleinen Glöckchen, die einige der Tiere um den Hals getragen haben. Es gehörte für mich genau so zum Alltag, wie die Schreie der Möwen, die sich manchmal vom Meer her bis hier hinauf verirren. Meine Kinder haben Jaime und seine Schafe oft begleitet. Eines war ganz zahm, die Kinder nannten es „Blancanieves“, Schneewittchen, und sind sogar auf ihm geritten. Jaime hat nichts dagegen gehabt, er mag meinen Sohn und meine Tochter sehr gerne, vielleicht auch, weil er und Catalina, seine Frau, nie eigene Kinder gehabt haben. Jaime wohnt noch immer in der alten Finca, doch Catalina ist schon lange tot und andere Verwandte scheint es nicht zu geben. Nur Luís, der früher einmal eine Fischerkneipe in dem nahegelegenen Küstenort gehabt hat, kommt ihn manchmal besuchen. Dann sitzen die beiden Alten auf der Bank vor Jaimes Haus, rauchen eine Zigarre und trinken ein Glas Rotwein.
Nun geht Jaime jeden Tag mit seinem kleinen Hund spazieren, eine der wenigen Beschäftigungen, die ihm noch geblieben sind, seitdem es die Schafe nicht mehr gibt. Ich treffe ihn oft auf seinem Spaziergang, denn auch ich gehe täglich denselben Weg mit meinem Hund.
Manchmal, wenn er einen guten Tag hat, dann halten wir ein kleines, Schwätzchen, doch oftmals ist sein Blick starr auf unendlich gerichtet und er schaut einfach durch mich hindurch. Woran er wohl denken mag? An die Vergangenheit, als Catalina noch gelebt hat und er jeden Tag mit den Schafen zwischen Oliven- und Korkeichenbäumen umhergezogen ist? An die Zeit, wo die Landschaft noch nicht von weissen Ferienhäusern und blau schimmernden Swimmingpools übersäht war?
Mittlerweile habe ich Jaime eingeholt.
„Hola Jaime, wie geht es dir heute?“, frage ich ihn mit lauter Stimme, denn ich weiss, dass er nicht mehr so gut hört.“ Er bleibt stehen und dreht sich langsam um. Nur einen kurzen Moment blickt er mich fragend an, dann erkennt er mich.
„Ah, Manuela... und Benni“, sagt er und tätschelt meinem Hund über den Kopf. Der hat bereits Jaimes Promenadenmischung Lola begrüsst, und fröhlich rennen die beiden Hunde voraus.
„Ai, hija mia“, stöhnt Jaime. „Die Hitze macht mir sehr zu schaffen. Bin schliesslich nicht mehr der Jüngste.“ Dabei grinst er mich an und entblösst die zwei einzigen gelblich-bräunlichen Zähne, die ihm vorne noch geblieben sind.
„Das Herz will auch nicht mehr so recht.“
„Soll ich dich morgen früh zum Arzt fahren?“, biete ich ihm an, doch er schüttelt verneinend mit dem Kopf.
Vor uns liegt der Aussichtspunkt, von dem aus man über die Landschaft bis hinunter zum Meer schauen kann, wo sich die Apartmenthäuser und Hotels des grossen Ortes an der Küste entlang drängen . Wir setzen uns auf die Holzbank und geniessen einen Augenblick die herrliche Ruhe, die hier oben herrscht. Nur das Zirpen der Grillen und das Summen der Wespen ist zu hören und klingt wie Musik in unseren Ohren. Mandel- und Olivenbaumplantagen wechseln sich mit Weinfeldern ab. Nur hier und da sieht man vereinzelt Häuser, kleine Casitas, die nur während der Sommermonate von Einheimischen bewohnt sind. Weiter unten im Tal nimmt die Bebauung drastisch zu. Haus an Haus reiht sich aneinander, dazwischen die blauen Flecken der Schwimmbäder. Grundstücke in Meeresnähe sind Mangelware geworden und so entdeckt man gerade, dass auch das Hinterland seinen Reiz hat.
„Hast du etwas neues von den Salinas gehört?“, will Jaime wissen.
Salinas heisst das Feuchtgebiet eines Salzsees, der in der Nähe des Meers inmitten der Wohngebiete liegt. Man kann ihn von hier oben erkennen, eine kleine Naturoase zwischen all den Häusern und mittlerweile eine Heimat für viele Seevögel und Flamingoarten. Sogar eine nur noch ganz selten zu findende hat sich hier angesiedelt. Und trotzdem wittern einige windige Spekulanten das grosse Geld und wollen den See trockenlegen und das so gewonnene Riesengrundstück mit Wohneinheiten vollstopfen. Der allgemeine, städtische Bebauungsplan ist bereits abgeändert worden, um den Bau zu genehmigen.
Ich schüttel veneinend den Kopf: „ Nein, es gibt nichts neues.“
„Bist du eigentlich noch Mitglied in dieser Vereinigung, von der du mir mal erzählt hast?“
Ich bin Mitglied eines Ausschusses, der eigens gegründet worden ist, um sich für die Erhaltung des Salzsees einzusetzen. Unsere Gruppe besteht aus Naturschützern und –liebhabern, Einheimischen wie auch Ausländern, die schon lange in unserer Gegend leben und sich voll integriert haben. Solche wie ich, für die dieses schöne Land eine zweite Heimat geworden ist.
„Ja, ich bin noch in der Vereinigung“, beantworte ich Jaimes Frage. „Wir haben schon jede Menge Unterschriften gegen das Bauvorhaben gesammelt und übermorgen werden wir eine Demonstration veranstalten. Vielleicht können wir auf diese Weise die Stattväter endlich wachrütteln.“
„Eine Demo...was?“
„Wir machen so etwas ähnliches wie eine Prozession, verstehst du, so wie die Festgruppen bei unserer Dorffiesta,“ versuche ich es ihm zu verbildlichen.
Woher soll Jaime, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben ferngesehen hat, auch wissen, was eine Demonstration ist.
„Wir gehen durch den ganzen Ort bis zum Rathausplatz und tragen dabei Plakate auf denen steht, dass die Salinas nicht zerstört werden sollen.“
„Und das soll etwas nutzen?“, fragend blickt mich Jaime an.
„Ich weiss es nicht, aber es ist einen Versuch wert.“
Rechts unterhalb von uns erstreckt sich ein grosses Waldgebiet mit Pinien. Inmitten der Bäume leuchtet - wie ein drohendes Ungetüm - ein gelber Bagger. Er hat bereits begonnen, eine breite Schneisse zu schieben, ein sicheres Zeichen dafür, dass auch diese Gegend nicht von den Urbanisierungsplänen der Stadträte verschont werden wird. Schon bald wird auch hier die Natur der Architektur weichen müssen. Strassen und Bürgersteine wird man anlegen, die Pinien bis auf wenige Ausnahmen abholzen und wie durch Zauberhand Reihenhausanlagen aus dem Boden stampfen.
Ich sehe, wie Jaime frustriert auf den Wald starrt. Was für ein Gefühl muss es wohl für die alten Einheimischen sein, wenn sie sehen, welche Folgen der Tourismus mit sich bringt. Sicher, er hat auf der einen Seite auch viele Arbeitsplätze geschaffen und Wohlstand für die Bevölkerung gebracht, doch alles hat seine Grenzen.
„Hören die denn niemals auf zu bauen?“, traurig schüttelt Jaime den Kopf.
Ich wünschte, ich könnte ihm seine Frage beantworten, ihm sagen, dass die letzten Stücke unberührter Natur unantastbar bleiben würden.
„Das musst du deinem Verein zeigen, vielleicht können die ja hier oben auch was erreichen.“ Für einen Moment verzieht Jaime das Gesicht und legt die Hand auf seine linke Seite.
„Versprich mir, dass du versuchst, unsere Gegend hier oben vor den Schaufeln der gelben Ungetüme zu schützen“, sagt er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Jaime, was hast du? Geht es dir nicht gut?“
„Versprich es mir!“, beharrt er.
„Okay, ich werde mein Möglichstes tun. Aber jetzt fahre ich dich erst einmal zum Arzt.“
„Nein, nein, lass nur, es geht schon wieder“, wehrt Jaime ab, der wie viele ältere Leute, Arztbesuche scheut.
Zwei Wochen später findet Luís Jaime tot in seinem Bett. Das Herz des Alten hat einfach aufgehört zu schlagen und er ist sanft eingeschlafen.
Jaime der Schäfer wird immer einen Platz in meinem Herzen behalten, und ich werde alles tun, um mein Versprechen einzulösen.
Ich sehe den alten Mann die Strasse hinuntergehen. Er trägt eine weite Hose, deren Farbton durch unzähliges Waschen und Trocknen in der Sonne nicht mehr zu definieren ist. Das kurzärmelige, zerknitterte Hemd fällt offen über seinen mageren Oberkörper und entblösst eine knochige, von spärlichem, grauen Haarwuchs bedeckte Brust. Neben ihm läuft ein kleiner, hässlicher Hund mit braunem, struppigem Fell und einem vorstehenden Unterkiefer, aus dem ein einzelner Zahn herausguckt.
Es ist bereits früher Abend, doch die Hitze des Tages hängt immer noch wie eine riesige Dunstglocke über der spanischen Landschaft und lässt die Sonne, die schon tief über den Bergkuppeln des Bernia Gebirges steht, trübe erscheinen.
Seit einiger Zeit ist es unerträglich schwül und feucht, und jedermann erwartet sehnsüchtig das angekündigte Gewitter, das endlich etwas Kühlung bringen soll. Doch nichts deutet auf einen ordentlichen Regenguss hin, und kein Lüftchen bewegt die vertrockneten Gräser am Strassenrand.
Auch der alte Mann leidet unter der Wärme. Obwohl er einen Strohhut trägt, dessen vorstehender, ausgefranzter Rand ihm etwas Schatten spendet, sind auf seiner sonnengebräunten, runzligen Haut unzählige Schweisströpfchen zu sehen. Hin und wieder zieht der Alte ein Tuch aus seiner Hosentasche, und wischt den Schweiss, der sich in den tiefen Gesichtsfalten gesammelt hat, ab. Schwer stützt er sich beim Gehen auf seinen Stock und wenn man genau hinschaut, bemerkt man, dass er das linke Bein ein wenig nachzieht.
Ich lebe schon sehr viele Jahre in dieser Gegend, und deshalb kenne ich diesen Mann gut. Es ist Jaime, der Schäfer, dass heisst, früher einmal war er Schafhirte und zog mit seiner Herde hier oben in den Bergen umher. Doch nun ist der Schafstall seiner alten Finca, die nicht weit von meinem Haus entfernt liegt, schon lange leer. Schade, ich vermisse das fröhliche Geblöke und das zarte Läuten der kleinen Glöckchen, die einige der Tiere um den Hals getragen haben. Es gehörte für mich genau so zum Alltag, wie die Schreie der Möwen, die sich manchmal vom Meer her bis hier hinauf verirren. Meine Kinder haben Jaime und seine Schafe oft begleitet. Eines war ganz zahm, die Kinder nannten es „Blancanieves“, Schneewittchen, und sind sogar auf ihm geritten. Jaime hat nichts dagegen gehabt, er mag meinen Sohn und meine Tochter sehr gerne, vielleicht auch, weil er und Catalina, seine Frau, nie eigene Kinder gehabt haben. Jaime wohnt noch immer in der alten Finca, doch Catalina ist schon lange tot und andere Verwandte scheint es nicht zu geben. Nur Luís, der früher einmal eine Fischerkneipe in dem nahegelegenen Küstenort gehabt hat, kommt ihn manchmal besuchen. Dann sitzen die beiden Alten auf der Bank vor Jaimes Haus, rauchen eine Zigarre und trinken ein Glas Rotwein.
Nun geht Jaime jeden Tag mit seinem kleinen Hund spazieren, eine der wenigen Beschäftigungen, die ihm noch geblieben sind, seitdem es die Schafe nicht mehr gibt. Ich treffe ihn oft auf seinem Spaziergang, denn auch ich gehe täglich denselben Weg mit meinem Hund.
Manchmal, wenn er einen guten Tag hat, dann halten wir ein kleines, Schwätzchen, doch oftmals ist sein Blick starr auf unendlich gerichtet und er schaut einfach durch mich hindurch. Woran er wohl denken mag? An die Vergangenheit, als Catalina noch gelebt hat und er jeden Tag mit den Schafen zwischen Oliven- und Korkeichenbäumen umhergezogen ist? An die Zeit, wo die Landschaft noch nicht von weissen Ferienhäusern und blau schimmernden Swimmingpools übersäht war?
Mittlerweile habe ich Jaime eingeholt.
„Hola Jaime, wie geht es dir heute?“, frage ich ihn mit lauter Stimme, denn ich weiss, dass er nicht mehr so gut hört.“ Er bleibt stehen und dreht sich langsam um. Nur einen kurzen Moment blickt er mich fragend an, dann erkennt er mich.
„Ah, Manuela... und Benni“, sagt er und tätschelt meinem Hund über den Kopf. Der hat bereits Jaimes Promenadenmischung Lola begrüsst, und fröhlich rennen die beiden Hunde voraus.
„Ai, hija mia“, stöhnt Jaime. „Die Hitze macht mir sehr zu schaffen. Bin schliesslich nicht mehr der Jüngste.“ Dabei grinst er mich an und entblösst die zwei einzigen gelblich-bräunlichen Zähne, die ihm vorne noch geblieben sind.
„Das Herz will auch nicht mehr so recht.“
„Soll ich dich morgen früh zum Arzt fahren?“, biete ich ihm an, doch er schüttelt verneinend mit dem Kopf.
Vor uns liegt der Aussichtspunkt, von dem aus man über die Landschaft bis hinunter zum Meer schauen kann, wo sich die Apartmenthäuser und Hotels des grossen Ortes an der Küste entlang drängen . Wir setzen uns auf die Holzbank und geniessen einen Augenblick die herrliche Ruhe, die hier oben herrscht. Nur das Zirpen der Grillen und das Summen der Wespen ist zu hören und klingt wie Musik in unseren Ohren. Mandel- und Olivenbaumplantagen wechseln sich mit Weinfeldern ab. Nur hier und da sieht man vereinzelt Häuser, kleine Casitas, die nur während der Sommermonate von Einheimischen bewohnt sind. Weiter unten im Tal nimmt die Bebauung drastisch zu. Haus an Haus reiht sich aneinander, dazwischen die blauen Flecken der Schwimmbäder. Grundstücke in Meeresnähe sind Mangelware geworden und so entdeckt man gerade, dass auch das Hinterland seinen Reiz hat.
„Hast du etwas neues von den Salinas gehört?“, will Jaime wissen.
Salinas heisst das Feuchtgebiet eines Salzsees, der in der Nähe des Meers inmitten der Wohngebiete liegt. Man kann ihn von hier oben erkennen, eine kleine Naturoase zwischen all den Häusern und mittlerweile eine Heimat für viele Seevögel und Flamingoarten. Sogar eine nur noch ganz selten zu findende hat sich hier angesiedelt. Und trotzdem wittern einige windige Spekulanten das grosse Geld und wollen den See trockenlegen und das so gewonnene Riesengrundstück mit Wohneinheiten vollstopfen. Der allgemeine, städtische Bebauungsplan ist bereits abgeändert worden, um den Bau zu genehmigen.
Ich schüttel veneinend den Kopf: „ Nein, es gibt nichts neues.“
„Bist du eigentlich noch Mitglied in dieser Vereinigung, von der du mir mal erzählt hast?“
Ich bin Mitglied eines Ausschusses, der eigens gegründet worden ist, um sich für die Erhaltung des Salzsees einzusetzen. Unsere Gruppe besteht aus Naturschützern und –liebhabern, Einheimischen wie auch Ausländern, die schon lange in unserer Gegend leben und sich voll integriert haben. Solche wie ich, für die dieses schöne Land eine zweite Heimat geworden ist.
„Ja, ich bin noch in der Vereinigung“, beantworte ich Jaimes Frage. „Wir haben schon jede Menge Unterschriften gegen das Bauvorhaben gesammelt und übermorgen werden wir eine Demonstration veranstalten. Vielleicht können wir auf diese Weise die Stattväter endlich wachrütteln.“
„Eine Demo...was?“
„Wir machen so etwas ähnliches wie eine Prozession, verstehst du, so wie die Festgruppen bei unserer Dorffiesta,“ versuche ich es ihm zu verbildlichen.
Woher soll Jaime, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben ferngesehen hat, auch wissen, was eine Demonstration ist.
„Wir gehen durch den ganzen Ort bis zum Rathausplatz und tragen dabei Plakate auf denen steht, dass die Salinas nicht zerstört werden sollen.“
„Und das soll etwas nutzen?“, fragend blickt mich Jaime an.
„Ich weiss es nicht, aber es ist einen Versuch wert.“
Rechts unterhalb von uns erstreckt sich ein grosses Waldgebiet mit Pinien. Inmitten der Bäume leuchtet - wie ein drohendes Ungetüm - ein gelber Bagger. Er hat bereits begonnen, eine breite Schneisse zu schieben, ein sicheres Zeichen dafür, dass auch diese Gegend nicht von den Urbanisierungsplänen der Stadträte verschont werden wird. Schon bald wird auch hier die Natur der Architektur weichen müssen. Strassen und Bürgersteine wird man anlegen, die Pinien bis auf wenige Ausnahmen abholzen und wie durch Zauberhand Reihenhausanlagen aus dem Boden stampfen.
Ich sehe, wie Jaime frustriert auf den Wald starrt. Was für ein Gefühl muss es wohl für die alten Einheimischen sein, wenn sie sehen, welche Folgen der Tourismus mit sich bringt. Sicher, er hat auf der einen Seite auch viele Arbeitsplätze geschaffen und Wohlstand für die Bevölkerung gebracht, doch alles hat seine Grenzen.
„Hören die denn niemals auf zu bauen?“, traurig schüttelt Jaime den Kopf.
Ich wünschte, ich könnte ihm seine Frage beantworten, ihm sagen, dass die letzten Stücke unberührter Natur unantastbar bleiben würden.
„Das musst du deinem Verein zeigen, vielleicht können die ja hier oben auch was erreichen.“ Für einen Moment verzieht Jaime das Gesicht und legt die Hand auf seine linke Seite.
„Versprich mir, dass du versuchst, unsere Gegend hier oben vor den Schaufeln der gelben Ungetüme zu schützen“, sagt er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Jaime, was hast du? Geht es dir nicht gut?“
„Versprich es mir!“, beharrt er.
„Okay, ich werde mein Möglichstes tun. Aber jetzt fahre ich dich erst einmal zum Arzt.“
„Nein, nein, lass nur, es geht schon wieder“, wehrt Jaime ab, der wie viele ältere Leute, Arztbesuche scheut.
Zwei Wochen später findet Luís Jaime tot in seinem Bett. Das Herz des Alten hat einfach aufgehört zu schlagen und er ist sanft eingeschlafen.
Jaime der Schäfer wird immer einen Platz in meinem Herzen behalten, und ich werde alles tun, um mein Versprechen einzulösen.