Das Wagenseil

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Das Wagenseil

Sauber aufgerollt und mit einem kunstvollen Knoten zusammengebunden hing das alte dicke Wagenseil griffbereit neben verschiedenen anderen Stricken und Ketten an einem rechenartigen Holzgestell an der Scheunenwand. Niemand wusste, von wem es angeschafft worden war und wem es schon gedient hatte. Den besonderen Namen trug es wegen seiner wichtigsten Verwendung: Hatte die bäuerliche Familie im Sommer den hölzernen Leiterwagen fast drei Meter hoch mit Heu oder Getreidegarben vollgeladen, wurde längs über die Heubündel oder Garben ein langer Holzpfahl, der "Wiesbaum" gelegt und vorne mit einer Kette am Wagen befestigt. Um das hintere Ende wurde das Wagenseil geschlungen, dessen zwei herunterhängende Enden um eine am Wagen verankerte hölzerne Winde gelegt und mit den "Windlöffeln" um diese Walze gewickelt wurden, so dass der Wiesbaum mit großer Kraft nach unten gezogen wurde und die Last sicher auf dem Wagen hielt. Natürlich diente das dicke Hanfseil das Jahr über auch anderen Zwecken: So konnte mit ihm beim Schlachtfest das tote Schwein an einem der über dem Scheunentor aus der Wand ragenden Balken, die das Vordach trugen, befestigt werden. Oder man verwendete es zusammen mit einer hölzernen Umlenkrolle zum Hochziehen von Lasten auf den Speicher oder auf den Dachboden des Schuppens und für viele andere Zwecke.

Das Wagenseil hatte aber traditionell in den bäuerlichen Familien noch eine weitere, zwar seltene Aufgabe, die aber im Notfall besonders wichtig war, und heute war dieser Fall eingetreten. Also nahm es der Vater äußerlich ruhig, im Innern aber schäumend vor ohnmächtigem Zorn, vom Haken, begann sehr langsam den Knoten zu lösen und Windung für Windung auf den Boden gleiten zu lassen, bis er das Ende mit der Öse in der Linken hielt. Mit der rechten Hand führte er sorgfältig das andere Ende durch die Öffnung und zog das gesamte Seil durch, bis eine etwa kopfgroße Schlinge entstanden war, die ihm dazu dienen sollte, sich an einem der dicken Tennenbalken aufzuhängen. Die fertige Schlinge behielt er in der linken Hand, während er die an der Scheunenwand lehnende Leiter in die richtige Position rückte und mit pochendem Herzen Stufe für Stufe nach oben stieg, um den vorgesehenen Balken zu erreichen und das Seil dort festzubinden. Dabei wurden seine Bewegungen immer langsamer, als zögere er, seinen nicht ohne Grund gefassten Entschluss auszuführen. Schwer ging sein Atem und sein Gesicht war blaurot angelaufen, als er hoch genug geklettert war, die Schlinge mit einem tiefen Seufzer über den Balken führte und zögerlich nach unten gleiten ließ, um abzumessen, in welcher Höhe er das längere Ende des Seils festknoten musste. Denn die richtige Höhe entschied über das Gelingen seines Vorhabens. Schon mancher hatte sich verschätzt und die Schlinge zu tief gehängt, so dass er mit verletzten Beinen überlebte. Wurde sie aber zu hoch befestigt, genügte die Fallhöhe nicht, um das Genick zu brechen und den sofortigen Tod herbeizuführen. Er kannte die Berichte von Menschen, die eine zu geringe Höhe überlebt hatten und dann jämmerlich erstickt waren. Da der richtige Abstand von oben schlecht abzuschätzen war, stieg er Sprosse um Sprosse nach unten, abwechselnd nach oben und unten blickend, bis er unverhofft wieder auf dem Zementboden der Scheune stand.

Anscheinend über sich selbst verwundert schaute er sich um; dabei fiel sein Blick auf die grüne zweiflügelige Kellertür an der gegenüberliegenden Tennenwand. Der Keller, das war eigentlich sein Reich gewesen, ein Rückzugsgebiet, wenn die Probleme überhand nahmen, aber auch ein Ort der Ruhe nach einem arbeitsreichen Tag. Noch ein letztes Mal hinabzusteigen in die Stille, seine Fässer und Weinflaschen noch einmal zu betrachten, dieser Wunsch wurde in ihm so bestimmend, dass er mechanisch die wenigen Schritte zurücklegte, den großen Schlüssel umdrehte, die knarrende Tür weit öffnete und das Licht an dem schwarzen Schalter anknipste. Mit der Linken hielt er sich an dem mit Mennige überzogenen, schon leicht angerosteten Geländer fest, während er bedächtig Stufe um Stufe nach unten schritt. Alles hatte er mit seinen eigenen Händen geschaffen, so fuhr es ihm durch den Kopf, nicht nur das Geländer, die steile, betonierte Treppe, die so breit war, dass man ein Holzfass nach unten befördern konnte. Nein, den gesamten tiefen Weinkeller hatte er einige Jahre nach dem Krieg dem zähen, an manchen Stellen steinharten Letten abgerungen, mit Spaten und Spitzpickel, manchmal unterstützt von ein, zwei Männern aus dem Dorf. Dieser tiefe, gut temperierte Raum unter der dann errichteten Scheune war sein ganzer Stolz, ruhte doch hier mancher ausgezeichnete Tropfen aus weltberühmten Weinlagen, meist von ihm selbst ausgebaut.

Sein ganzes Leben lang war er dem Weinbau verbunden. Schon als Kind half er bei den Arbeiten im Weinberg mit, soweit es die Kräfte zuließen, besonders als sein Vater im Alter von fast vierzig Jahren noch in den Ersten Krieg einrücken musste. Auch als er zwar unversehrt, aber geschwächt an Körper und Seele heimkehrte, musste der Zwölfjährige kräftig im bäuerlichen Betrieb zupacken. Nach der Volksschule schickte man ihn als Kellerarbeiter in den örtlichen Winzerverein. Zwar lernte er dort viel über Weinbehandlung und den Bau von Fässern und Zubern, doch die Arbeit war für den Heranwachsenden oft sehr schwer. Als Jüngster war er natürlich für das Fassschlüpfen, also das Reinigen der Holzfässer von innen, am besten geeignet. Vor allem im Winter geriet das Spülen der Flaschen im eiskalten Wasser zur Tortur; damals holte er sich ein lebensgefährliches rheumatisches Fieber und trug einen schweren Herzklappenfehler davon, der ihm zeitlebens zu schaffen machte. Später erinnerte er sich oft mit Bitterkeit an diese Zeit, da der Vater nicht durchsetzen konnte, dass er einen Lehrvertrag erhielt; außerdem stellte sich heraus, dass sein Küfermeister die fälligen Rentenbeiträge nicht abgeführt hatte. Spätestens nach dem tragischen Unfalltod der Mutter - sie wurde auf der Dorfstraße von einem Motorrad erfasst - fiel ihm, dem einzigen Sohn von fünf Kindern, die Verantwortung für den Betrieb zu. Allerdings hatte die Herzerkrankung, die man damals nicht operieren konnte, den Vorteil, dass er für den Wehrdienst untauglich war und trotz zahlreicher Intrigen der örtlichen Nazigrößen im Zweiten Krieg nicht an die Front musste.

Inzwischen war er am unteren Ende der Treppe angekommen und ging immer noch in großer innerer Erregung auf dem schmalen betonierten Gang an seinen Weinfässern entlang. Zu jedem von ihnen hatte er eine besondere Beziehung; sein ganzer Stolz war das neue Halbstück (600 Liter), das er vor wenigen Jahren vom örtlichen Küfer erworben hatte. Es glänzte noch in hellem Eichenton, die Reifen waren schwarz lackiert und die Daubenenden am Fassboden rot gestrichen; die große Überwurfmutter am Riegel leuchtete in hellem Messing. Alles in allem war es eine bescheidene Reihe, aber für seine Zwecke gerade richtig; reichte sie doch zum Ausbau des so genannten Haustrunks, eines leichten Portugiesers, und wechselnder Spezialitäten, denn er setzte halt seinen Ehrgeiz daran, einen eigenen, reintönigen Riesling zu erzeugen. Dieser war aber völlig naturrein, also durchgegoren und ohne künstliche Zusätze. Was dies betraf, war er über den Ort hinaus für seine Kompromisslosigkeit bekannt; er hieß daher auch "der Ehrliche".

Und nun hatte er sich aus mehreren Gründen entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber vorher wollte er noch ein letztes Glas von dem 1959er, einem der besonderen Weinjahrgänge, aus seinem Halbstück trinken, den er aus Trauben mit 103 Grad Öchsle aus seinem besten Wingert ausgebaut hatte und der sich vorzüglich entwickelte. Routiniert tauchte er den dünnen roten Abziehschlauch ins Spundloch, zog kurz an, schwenkte mit den ersten Tropfen das Probierglas aus, das immer griffbereit auf dem Fassriegel stand und füllte es dann zur Hälfte. Er hob es gegen das Licht der Kellerlampe und ließ dann den ersten Schluck über die Zunge fließen, kaute ihn mehrfach und geräuschvoll und schluckte ihn aufmerksam. Zu einem wunderbaren Riesling war er herangereift, kräftig im Alkohol, vollmundig im Geschmack, mit feinem, erlesenem Bukett. Nach dem nächsten kräftigen Schluck füllte er sich aus dem Schlauch, den er mit der linken Hand zugedrückt hatte, das Glas fast randvoll und leerte es bedächtig, ja andächtig und bewundernd über so viel Feinheit und Finesse.

Indem er sich auf den Wein konzentrierte, verringerte sich unmerklich seine innere Anspannung ein wenig; sein Atem floss etwas ruhiger. Er goss sich noch einmal nach, spülte den Abziehschlauch mit Wasser aus und schlug den Spund wieder ein. Diese Gottesgabe konnten nun andere weiter pflegen und trinken. Doch bei diesem Gedanken stutzte er: sollte er wirklich so einen Wein freiwillig zurücklassen? War er so schwer verletzt worden, dass es keinen Ausweg gab? Hatte ihn sein Jähzorn nicht vielleicht selbst in den Streit mit seiner Frau getrieben, einen Streit, der sich an einer Nichtigkeit entzündet hatte und dann eskaliert war, weil keiner nachgab und ein böses Wort dem anderen folgte? Meistens schluckte seine Frau seine schlechte Laune und seine Gereiztheit, wenn er sich nach einem langen Tag im Wingert völlig erschöpft und wegen seines Herzfehlers blau im Gesicht angelaufen an den Tisch setzte; dann konnte ein einziges falsches Wort oder eine geringe Unstimmigkeit beim Essen, ein Problem mit den Kindern oder ein Brief mit einer schlechten Nachricht zu einem Zornesausbruch führen.

Gerade solche Post erreichte die Familie in den Fünfziger Jahren recht häufig: fällige Wechsel auf den Traktor, Mahnungen von der Sparkasse wegen des Kredits für das Haus und zu allem Überfluss Nachzahlungen mit Pfändungsandrohung vom Finanzamt. Manchmal war das Geld so knapp, dass sie erst einkaufen konnten, wenn die Nachbarn das "Milchgeld", also die wenigen Pfennige für die verkaufte Milch vorbeibrachten. Heute war eben alles zusammengekommen und die Ehefrau war diesmal nicht in der Lage ihn in seiner Verzweiflung aufzufangen. Eine sicher vererbte Schwermut tat ein übriges, so dass er laut fluchend die Tür hinter sich zuknallte und mit festen Schritten in die Scheune eilte.

Nun stand er wieder einmal niedergeschlagen und voll Bitterkeit in seinem Keller; doch diesmal sah er keinen Ausweg mehr. Zu sehr hatte ihn seine ohnmächtige Wut im Griff. Dabei hatte er eine herzensgute Frau, die meist um Ausgleich bemüht war, manchmal still vor sich hinweinte, wenn die Schicksalsschläge zu häufig kamen und die bäuerliche Arbeit sie überforderte. Während des Krieges, als die Bombenangriffe die Städte in Schutt und Asche legten, war ihr Versuchslabor, in dem sie als Laborantin arbeitete, in das kleine Weindorf an der Haardt ausgelagert worden; so lernte sie den nicht mehr ganz jungen Winzer kennen und wegen seiner Geradlinigkeit schätzen. Sie war trotz einiger Schicksalsschläge von Haus aus ein fröhlicher Mensch, das jüngste von fünf Mädchen einer Familie, in der trotz schlechter Zeiten viel gesungen und gelacht wurde. Für beide schien es die letzte Gelegenheit, einen Partner zu finden. Gleich nach dem Ende des Krieges heirateten sie im Mai 1945 und durchlebten sicher auch glückliche Momente, woran der Vater in der ihm eigenen ironischen Art oft mit der Floskel "wie einst im Mai" erinnerte. Doch der Mutter fiel es nicht leicht, sich in den nur auf Arbeit konzentrierten Winzerhaushalt einzufinden, zu dem auch die ledige Zwillingsschwester ihres Mannes gehörte, die der Neuen das Leben schwer machte.

Ausgerechnet jetzt, als er mit dem Glas in der Hand den guten Tropfen Schluck um Schluck genoss, fiel ihm der Hochzeitswein ein, den er damals, vor bald fünfzehn Jahren nicht ohne Stolz präsentiert hatte, eine Riesling Spätlese des Jahrhundertjahrgangs 1937 - ein Traum von einem Spitzenwein, mit edler Frucht, einem wunderbaren Bukett und einer rieslingtypischen, kernigen Säure. Er hatte sich doch einige wenige Flaschen davon aufbewahrt für einen ganz besonderen Anlass, ihn im täglichen Überlebenskampf aber fast vergessen. Er schritt zu dem Regal aus kantigen, von Schimmel überzogenen Hölzern und suchte in seinen Weinvorräten. Tatsächlich lagen ganz unten, verstaubt und vom Kellerschimmel schwarz gefleckt, drei Flaschen dieses außergewöhnlichen Tropfens. Behutsam holte er eine davon aus dem Regal, wischte den Belag mit einem Tuch vom Etikett und las halblaut Jahrgang und Lage vor sich hin. Was für ein Wein, welches Geschenk, aufbewahrt für eine außergewöhnliche Gelegenheit!

Kurz hielt er inne: Wann sonst als jetzt zu seinem Abschied vom Leben war dieser Anlass gekommen! Also holte er kurz entschlossen den Korkenzieher vom Regal, reinigte sorgfältig den Flaschenhals und zog den Korken heraus. Die ersten Tropfen perlten ins Glas, hochfarben wie flüssiges Gold und füllten es mit einem unvergleichlichen Duft. Mehrfach schwenkte er die Kostbarkeit, so dass sich die Bukettstoffe weiter entfalten konnten. Dazwischen hob er sie hoch zur Lampe, wo das Licht ein Feuerwerk von Goldblitzen entfachte. Beim Schwenken verteilte sich die Flüssigkeit auf der Glaswand und lief fast wie Honig langsam herunter. Kaum wagte er es, von der Rarität zu probieren, als sei er im Begriff, ein Sakrileg zu begehen. Doch dann siegte der Duft, der aus der Öffnung stieg, und er kostete den ersten Schluck. Eine ganz besondere feierliche Unruhe nahm von ihm Besitz.

Wie viele tausend Weine hatte er im Lauf seines Lebens schon beurteilt, bei den jährlichen Jungweinproben, mit dem Kellermeister zusammen an den riesigen Holzfässern im alten Gewölbe oder bei den Naturwein- Versteigerungen! Aber diesmal hatte er einen über zwanzig Jahre alten Tropfen auf der Zunge, aus einem überragenden Jahrgang, der zudem die Erinnerung an die Zeit "einst im Mai" vermittelte. Dieser würdige, betagte Wein füllte den Mund mit unbeschreiblichen Geschmacksnuancen, einer edlen, angenehmen Firne, einer wunderbar frischen Säure, einer feinen, unaufdringlichen Süße und einem beeindruckenden Strauß von Extraktstoffen. Überwältigt von dem Charakter dieses Geschenks der Natur, aber auch tief aufgewühlt von der Situation, in der er sich befand, goss er sich nach und probierte erneut. Die Zeit schien in diesem Augenblick ihre Bedeutung zu verlieren; die Gegenwart verschmolz mit der Erinnerung an seine Hochzeit, an das Jahr 1937, als seine Familie diesen besonderen Jahrgang erntete, und schließlich an seine Jugend im Winzerkeller. Die Bilder seines Lebens schienen sich im Gold dieses Weines zu spiegeln, die harte Arbeit, aber auch die schönen Stunden. Und das alles wollte er jetzt aufgeben, wegwerfen in verletztem Stolz, gekränkt durch einen eigentlich belanglosen Streit, ausgeliefert seiner destruktiven Wut.

Allmählich hörte die Mutter in der Küche auf zu weinen. Langsam wich der Schmerz über die Verletzungen des Streits einer inneren Erschöpfung, der Enttäuschung über ihr Schicksal, das sie in dieses "Kaff" und in dieses entbehrungsreiche Leben verschlagen hatte. Zu Hause in der Stadt waren sie in der Weimarer Zeit und während des Kriegs sicher nicht auf Rosen gebettet, aber es herrschte meist eine gelöste Atmosphäre. Ihr Vater, lange Jahre Vorstand des Gesangvereins und immer wieder arbeitslos, hatte viel Zeit für die Familie, spielte gern auf dem Bandoneon und pflegte das Liedgut der Romantik. In der Fabrik genoss sie die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die für Scherze aller Art zu haben waren. Nun galten andere Prinzipien: "Müßiggang ist aller Laster Anfang!" pflegte ihr Ehemann zu sagen und: "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!" Bei der Arbeit in der Landwirtschaft war voller Einsatz gefordert; alles war wichtig und musste sofort erledigt werden, ob das Heu vor dem drohenden Gewitter eingefahren oder der Weizen geschnitten und gedroschen wurde, ob die Kartoffeln und Rüben vor dem ersten Frost heimzuholen waren oder die Schädlingsbekämpfung im Wingert anstand, immer "galt es", sofort und mit aller Kraft zuzupacken.

Andererseits musste sie zugeben, dass er sich selbst im Einsatz für Betrieb und Familie am allerwenigsten schonte; er war ehrlich und treu ihr gegenüber, überaus ernsthaft in der Sorge um das Wohlergehen der Familie. Doch der von ihm häufig beschworene "Ernst des Lebens" bestimmte alles, ließ sehr wenig Platz für Entspannung und Freude. Nie waren sie in Urlaub; vordergründig war das "Vieh" daran schuld, also die Versorgung des Ochsen, der Kühe und Kälber, der Schweine und Hühner, in Wahrheit aber das Unvermögen, sich einmal auf etwas Neues einzulassen. Einzige Höhepunkte im Jahresablauf waren die Kirchenfeste und die Kerwe, zusätzlich der jährliche Vereinsausflug.

Inzwischen hatte sie sich weitgehend mit ihrem Leben abgefunden, zumal sie auf ihre zwei Söhne stolz war und einen engen Kontakt mit ihren Geschwistern pflegte. Doch bedingt durch den jahrelangen Existenzkampf verstärkte sich bei ihrem Mann die angelegte Schwermut; er bedachte jede Entscheidung mit großem Ernst und vermochte sich immer weniger zu einer Neuerung durchzuringen. Manchmal war er so erschöpft und gereizt, dass man wirklich "jedes Wort auf die Goldwaage legen" musste. Schon mehrmals hatte er in seinem verzweifelten Zorn damit gedroht sich umzubringen; irgendwie war er jedes Mal wieder aufgetaucht, wenn die Wut verraucht und die Verzweiflung abgeklungen waren. Und nun war er schon über eine Stunde aus dem Haus gelaufen. Hatte sie zunächst mit ihrer eigenen Verletztheit zu kämpfen, stieg nun langsam ein beklemmendes Gefühl in ihr hoch. Was wäre, wenn er es diesmal nicht schaffte? War sie dann nicht irgendwie mit schuld? Sie wischte sich die letzten Tränen ab, zog ihre Weste über und ging durch den Hof in die Scheune. Dort fiel ihr Blick sofort auf das Wagenseil, dessen Schlaufe von der Decke der Tenne herabhing; es musste ihm diesmal also sehr ernst sein. Doch wo befand er sich?

Die Kellertür stand offen und das Licht brannte. Sollte sie es wagen, einfach die steile Treppe hinunterzusteigen und ihm gegenüberzutreten, als wäre nichts vorgefallen? Fachte ihr Eindringen in seinen Rückzugsraum vielleicht seinen Zorn wieder an? Doch irgend etwas sagte ihr, dass sie jetzt zu ihm stehen müsse, ungeachtet der Folgen. Also ging sie langsam und vorsichtig Stufe um Stufe hinunter, bis sie ihn vor dem Fass stehen sah. Er hielt ein halb gefülltes Glas und eine Weinflasche in den Händen, war von ihr abgewandt und anscheinend versunken in einer anderen Welt. Leise sagte er sinnend vor sich hin: "So ein Wein!" und nach einer kurzen Pause mit verwundertem Kopfschütteln: "Dass es so was gibt!" Jetzt räusperte sie sich, wie sie es häufig tat, aber sehr leise, um ihn nicht zu erschrecken. Er drehte sich erstaunt zur Treppe, hielt das Glas in die Höhe, so dass sich das Kellerlicht in dem Gold des Weines spiegelte. Nochmals sagte er gedankenverloren zu sich selbst: "So ein Wein! Dass der Herrgott so was wachsen lässt!" Das Wort Herrgott nahm der Vater fast nur in den Mund, wenn er fluchte; und das tat er häufig, wenn die Arbeit nicht von der Hand ging, wenn der Ochse nicht laufen wollte oder wenn ihn der Zorn aus irgendeinem Grund gepackt hatte. Doch in diesem Augenblick kam dieses Wort aus tiefem Herzen und verlieh der Situation etwas Feierliches, Ernstes. Dass er überhaupt so viel Emotion zeigte, war sehr selten und deutete darauf hin, wie aufgewühlt und existenziell betroffen er war.

Sie hatte ihn von der Treppe aus lange angeschaut, diesen groß gewachsenen, kräftigen Mann, der nun so verzweifelt und verloren Zwiesprache hielt mit dem besonderen Geschenk der Natur in seinen Händen. Kurz entschlossen, vielleicht in einem Anflug von Mitgefühl, schritt sie die letzten Stufen hinab und ging auf ihn zu. Außerdem: Sollte sie nicht auch diesen hoch gelobten Wein probieren dürfen? Das hatte er sich gut ausgedacht, die beste Flasche allein auszutrinken! Wortlos griff sie zu dem Glas, das er ihr verdutzt überließ. Sie probierte nicht lange und kunstvoll, sondern nahm einen kräftigen Schluck und gleich noch einen, nickte anerkennend und gab das leere Glas zurück. Noch redeten sie nicht miteinander, aber ihre Blicke begegneten sich kurz und er schenkte nach einem tiefen Atemzug das Glas wieder voll, trank einen guten Schluck und gab es weiter. Mehrmals wiederholte sich dieser Vorgang, einer Zeremonie ähnlich. Und die feierliche Stimmung breitete sich in dem kühlen feuchten Keller aus, ergriff ihre Herzen und löste fast unmerklich Verzweiflung, Wut und Angst.

Irgendwann rannen die letzten Tropfen ins Glas und die silbrigen Kristalle des Weinsteins funkelten beim Schwenken des Restes vor dem Licht. Dann sagte sie mit fester Stimme: "Komm, wir gehen ins Haus." Er stellte Flasche und Glas wortlos auf den Fassriegel und folgte ihr. Als sie nebeneinander die breite steile Treppe hochstiegen, hielt er sich mit der Rechten am Geländer fest, mit der Linken aber fasste er behutsam ihren Oberarm. Es versteht sich von selbst, dass das Wagenseil, das noch in der Scheune hing, jetzt nicht mehr gebraucht wurde. Mit ausgestrecktem Arm griff er nach der Schlinge, zog es mit einem Ruck herab und schob es mit dem Fuß an die Wand. Zum Aufrollen war morgen auch noch ein Tag.
 
J

justooktavio

Gast
Eine Wunderschöne Geschichte. Die Charaktere sind auf eine indirekte Weise, trotzdem mit viel Tiefgang gezeigt. Ich weiß gar nicht, was ich dazu noch sagen soll, denn es spricht alles für sich. Die Inhaltlichen Aspekte, wie z.b. die Beschreibung des Weines fand ich ziemlich Gefühlvoll, du scheinst selbst ein großer kenner und genießer des Weines zu sein...

Ich trau mich jetzt kaum hier noch etwas anzumerken, aber es gab noch zwei drei kleinere dinge.

eines leichten Portugiesers, und wechselnder Spezialitäten, denn er setzte [red]halt[/red] seinen Ehrgeiz daran, einen eigenen, reintönigen Riesling zu erzeugen
hier finde ich klingt das "halt" zu umgangssprachlich für den sanften klang des übrigen textes.

wenn der Ochse nicht laufen wollte oder wenn ihn der Zorn aus irgendeinem [blue]anderen[/blue] Grund gepackt hatte. Doch in diesem Augenblick kam dieses Wort aus tiefem Herzen und verlieh der Situation etwas Feierliches, Ernstes
ich glaube das könnte man auch so stehen lassen, aber bei der Aufzählung fände ich es persönlich so ein wenig besser, da ihn das mit dem Ochsen bestimmt auch zornig gemacht hat :)

Sie hatte ihn von der Treppe aus lange angeschaut, diesen [strike]groß[/strike] [blue]hoch[/blue] gewachsenen, kräftigen Mann,
das klingt, finde ich, ein wenig besser. Groß gewachsen klingt für mich nicht so.

Ansonsten habe ich den Text sehr gerne gelesen!!! Sehr bedächtig geschrieben und das gleiche hat er auch bei mir ausgelöst, auch wenn ich, ehrlich gesagt, einen guten wein nicht so sehr zu schätzen weiß... vielleicht eines tages :)

LG Justo
 
Das Wagenseil

Sauber aufgerollt und mit einem kunstvollen Knoten zusammengebunden hing das alte dicke Wagenseil griffbereit neben verschiedenen anderen Stricken und Ketten an einem rechenartigen Holzgestell an der Scheunenwand. Niemand wusste, von wem es angeschafft worden war und wem es schon gedient hatte. Den besonderen Namen trug es wegen seiner wichtigsten Verwendung: Hatte die bäuerliche Familie im Sommer den hölzernen Leiterwagen fast drei Meter hoch mit Heu oder Getreidegarben vollgeladen, wurde längs über die Heubündel oder Garben ein langer Holzpfahl, der "Wiesbaum" gelegt und vorne mit einer Kette am Wagen befestigt. Um das hintere Ende wurde das Wagenseil geschlungen, dessen zwei herunterhängende Enden um eine am Wagen verankerte hölzerne Winde gelegt und mit den "Windlöffeln" um diese Walze gewickelt wurden, so dass der Wiesbaum mit großer Kraft nach unten gezogen wurde und die Last sicher auf dem Wagen hielt. Natürlich diente das dicke Hanfseil das Jahr über auch anderen Zwecken: So konnte mit ihm beim Schlachtfest das tote Schwein an einem der über dem Scheunentor aus der Wand ragenden Balken, die das Vordach trugen, befestigt werden. Oder man verwendete es zusammen mit einer hölzernen Umlenkrolle zum Hochziehen von Lasten auf den Speicher oder auf den Dachboden des Schuppens und für viele andere Zwecke.

Das Wagenseil hatte aber traditionell in den bäuerlichen Familien noch eine weitere, zwar seltene Aufgabe, die aber im Notfall besonders wichtig war, und heute war dieser Fall eingetreten. Also nahm es der Vater äußerlich ruhig, im Innern aber schäumend vor ohnmächtigem Zorn, vom Haken, begann sehr langsam den Knoten zu lösen und Windung für Windung auf den Boden gleiten zu lassen, bis er das Ende mit der Öse in der Linken hielt. Mit der rechten Hand führte er sorgfältig das andere Ende durch die Öffnung und zog das gesamte Seil durch, bis eine etwa kopfgroße Schlinge entstanden war, die ihm dazu dienen sollte, sich an einem der dicken Tennenbalken aufzuhängen. Die fertige Schlinge behielt er in der linken Hand, während er die an der Scheunenwand lehnende Leiter in die richtige Position rückte und mit pochendem Herzen Stufe für Stufe nach oben stieg, um den vorgesehenen Balken zu erreichen und das Seil dort festzubinden. Dabei wurden seine Bewegungen immer langsamer, als zögere er, seinen nicht ohne Grund gefassten Entschluss auszuführen. Schwer ging sein Atem und sein Gesicht war blaurot angelaufen, als er hoch genug geklettert war, die Schlinge mit einem tiefen Seufzer über den Balken führte und zögerlich nach unten gleiten ließ, um abzumessen, in welcher Höhe er das längere Ende des Seils festknoten musste. Denn die richtige Höhe entschied über das Gelingen seines Vorhabens. Schon mancher hatte sich verschätzt und die Schlinge zu tief gehängt, so dass er mit verletzten Beinen überlebte. Wurde sie aber zu hoch befestigt, genügte die Fallhöhe nicht, um das Genick zu brechen und den sofortigen Tod herbeizuführen. Er kannte die Berichte von Menschen, die eine zu geringe Höhe überlebt hatten und dann jämmerlich erstickt waren. Da der richtige Abstand von oben schlecht abzuschätzen war, stieg er Sprosse um Sprosse nach unten, abwechselnd nach oben und unten blickend, bis er unverhofft wieder auf dem Zementboden der Scheune stand.

Anscheinend über sich selbst verwundert schaute er sich um; dabei fiel sein Blick auf die grüne zweiflügelige Kellertür an der gegenüberliegenden Tennenwand. Der Keller, das war eigentlich sein Reich gewesen, ein Rückzugsgebiet, wenn die Probleme überhand nahmen, aber auch ein Ort der Ruhe nach einem arbeitsreichen Tag. Noch ein letztes Mal hinabzusteigen in die Stille, seine Fässer und Weinflaschen noch einmal zu betrachten, dieser Wunsch wurde in ihm so bestimmend, dass er mechanisch die wenigen Schritte zurücklegte, den großen Schlüssel umdrehte, die knarrende Tür weit öffnete und das Licht an dem schwarzen Schalter anknipste. Mit der Linken hielt er sich an dem mit Mennige überzogenen, schon leicht angerosteten Geländer fest, während er bedächtig Stufe um Stufe nach unten schritt. Alles hatte er mit seinen eigenen Händen geschaffen, so fuhr es ihm durch den Kopf, nicht nur das Geländer, die steile, betonierte Treppe, die so breit war, dass man ein Holzfass nach unten befördern konnte. Nein, den gesamten tiefen Weinkeller hatte er einige Jahre nach dem Krieg dem zähen, an manchen Stellen steinharten Letten abgerungen, mit Spaten und Spitzpickel, manchmal unterstützt von ein, zwei Männern aus dem Dorf. Dieser tiefe, gut temperierte Raum unter der dann errichteten Scheune war sein ganzer Stolz, ruhte doch hier mancher ausgezeichnete Tropfen aus weltberühmten Weinlagen, meist von ihm selbst ausgebaut.

Sein ganzes Leben lang war er dem Weinbau verbunden. Schon als Kind half er bei den Arbeiten im Weinberg mit, soweit es die Kräfte zuließen, besonders als sein Vater im Alter von fast vierzig Jahren noch in den Ersten Krieg einrücken musste. Auch als er zwar unversehrt, aber geschwächt an Körper und Seele heimkehrte, musste der Zwölfjährige kräftig im bäuerlichen Betrieb zupacken. Nach der Volksschule schickte man ihn als Kellerarbeiter in den örtlichen Winzerverein. Zwar lernte er dort viel über Weinbehandlung und den Bau von Fässern und Zubern, doch die Arbeit war für den Heranwachsenden oft sehr schwer. Als Jüngster war er natürlich für das Fassschlüpfen, also das Reinigen der Holzfässer von innen, am besten geeignet. Vor allem im Winter geriet das Spülen der Flaschen im eiskalten Wasser zur Tortur; damals holte er sich ein lebensgefährliches rheumatisches Fieber und trug einen schweren Herzklappenfehler davon, der ihm zeitlebens zu schaffen machte. Später erinnerte er sich oft mit Bitterkeit an diese Zeit, da der Vater nicht durchsetzen konnte, dass er einen Lehrvertrag erhielt; außerdem stellte sich heraus, dass sein Küfermeister die fälligen Rentenbeiträge nicht abgeführt hatte. Spätestens nach dem tragischen Unfalltod der Mutter - sie wurde auf der Dorfstraße von einem Motorrad erfasst - fiel ihm, dem einzigen Sohn von fünf Kindern, die Verantwortung für den Betrieb zu. Allerdings hatte die Herzerkrankung, die man damals nicht operieren konnte, den Vorteil, dass er für den Wehrdienst untauglich war und trotz zahlreicher Intrigen der örtlichen Nazigrößen im Zweiten Krieg nicht an die Front musste.

Inzwischen war er am unteren Ende der Treppe angekommen und ging immer noch in großer innerer Erregung auf dem schmalen betonierten Gang an seinen Weinfässern entlang. Zu jedem von ihnen hatte er eine besondere Beziehung; sein ganzer Stolz war das neue Halbstück (600 Liter), das er vor wenigen Jahren vom örtlichen Küfer erworben hatte. Es glänzte noch in hellem Eichenton, die Reifen waren schwarz lackiert und die Daubenenden am Fassboden rot gestrichen; die große Überwurfmutter am Riegel leuchtete in hellem Messing. Alles in allem war es eine bescheidene Reihe, aber für seine Zwecke gerade richtig; reichte sie doch zum Ausbau des so genannten Haustrunks, eines leichten Portugiesers, und wechselnder Spezialitäten, denn er setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, einen eigenen, reintönigen Riesling zu erzeugen. Dieser war aber völlig naturrein, also durchgegoren und ohne künstliche Zusätze. Was dies betraf, war er über den Ort hinaus für seine Kompromisslosigkeit bekannt; er hieß daher auch "der Ehrliche".

Und nun hatte er sich aus mehreren Gründen entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber vorher wollte er noch ein letztes Glas von dem 1959er, einem der besonderen Weinjahrgänge, aus seinem Halbstück trinken, den er aus Trauben mit 103 Grad Öchsle aus seinem besten Wingert ausgebaut hatte und der sich vorzüglich entwickelte. Routiniert tauchte er den dünnen roten Abziehschlauch ins Spundloch, zog kurz an, schwenkte mit den ersten Tropfen das Probierglas aus, das immer griffbereit auf dem Fassriegel stand und füllte es dann zur Hälfte. Er hob es gegen das Licht der Kellerlampe und ließ dann den ersten Schluck über die Zunge fließen, kaute ihn mehrfach und geräuschvoll und schluckte ihn aufmerksam. Zu einem wunderbaren Riesling war er herangereift, kräftig im Alkohol, vollmundig im Geschmack, mit feinem, erlesenem Bukett. Nach dem nächsten kräftigen Schluck füllte er sich aus dem Schlauch, den er mit der linken Hand zugedrückt hatte, das Glas fast randvoll und leerte es bedächtig, ja andächtig und bewundernd über so viel Feinheit und Finesse.

Indem er sich auf den Wein konzentrierte, verringerte sich unmerklich seine innere Anspannung ein wenig; sein Atem floss etwas ruhiger. Er goss sich noch einmal nach, spülte den Abziehschlauch mit Wasser aus und schlug den Spund wieder ein. Diese Gottesgabe konnten nun andere weiter pflegen und trinken. Doch bei diesem Gedanken stutzte er: sollte er wirklich so einen Wein freiwillig zurücklassen? War er so schwer verletzt worden, dass es keinen Ausweg gab? Hatte ihn sein Jähzorn nicht vielleicht selbst in den Streit mit seiner Frau getrieben, einen Streit, der sich an einer Nichtigkeit entzündet hatte und dann eskaliert war, weil keiner nachgab und ein böses Wort dem anderen folgte? Meistens schluckte seine Frau seine schlechte Laune und seine Gereiztheit, wenn er sich nach einem langen Tag im Wingert völlig erschöpft und wegen seines Herzfehlers blau im Gesicht angelaufen an den Tisch setzte; dann konnte ein einziges falsches Wort oder eine geringe Unstimmigkeit beim Essen, ein Problem mit den Kindern oder ein Brief mit einer schlechten Nachricht zu einem Zornesausbruch führen.

Gerade solche Post erreichte die Familie in den Fünfziger Jahren recht häufig: fällige Wechsel auf den Traktor, Mahnungen von der Sparkasse wegen des Kredits für das Haus und zu allem Überfluss Nachzahlungen mit Pfändungsandrohung vom Finanzamt. Manchmal war das Geld so knapp, dass sie erst einkaufen konnten, wenn die Nachbarn das "Milchgeld", also die wenigen Pfennige für die verkaufte Milch vorbeibrachten. Heute war eben alles zusammengekommen und die Ehefrau war diesmal nicht in der Lage ihn in seiner Verzweiflung aufzufangen. Eine sicher vererbte Schwermut tat ein übriges, so dass er laut fluchend die Tür hinter sich zuknallte und mit festen Schritten in die Scheune eilte.

Nun stand er wieder einmal niedergeschlagen und voll Bitterkeit in seinem Keller; doch diesmal sah er keinen Ausweg mehr. Zu sehr hatte ihn seine ohnmächtige Wut im Griff. Dabei hatte er eine herzensgute Frau, die meist um Ausgleich bemüht war, manchmal still vor sich hinweinte, wenn die Schicksalsschläge zu häufig kamen und die bäuerliche Arbeit sie überforderte. Während des Krieges, als die Bombenangriffe die Städte in Schutt und Asche legten, war ihr Versuchslabor, in dem sie als Laborantin arbeitete, in das kleine Weindorf an der Haardt ausgelagert worden; so lernte sie den nicht mehr ganz jungen Winzer kennen und wegen seiner Geradlinigkeit schätzen. Sie war trotz einiger Schicksalsschläge von Haus aus ein fröhlicher Mensch, das jüngste von fünf Mädchen einer Familie, in der trotz schlechter Zeiten viel gesungen und gelacht wurde. Für beide schien es die letzte Gelegenheit, einen Partner zu finden. Gleich nach dem Ende des Krieges heirateten sie im Mai 1945 und durchlebten sicher auch glückliche Momente, woran der Vater in der ihm eigenen ironischen Art oft mit der Floskel "wie einst im Mai" erinnerte. Doch der Mutter fiel es nicht leicht, sich in den nur auf Arbeit konzentrierten Winzerhaushalt einzufinden, zu dem auch die ledige Zwillingsschwester ihres Mannes gehörte, die der Neuen das Leben schwer machte.

Ausgerechnet jetzt, als er mit dem Glas in der Hand den guten Tropfen Schluck um Schluck genoss, fiel ihm der Hochzeitswein ein, den er damals, vor bald fünfzehn Jahren nicht ohne Stolz präsentiert hatte, eine Riesling Spätlese des Jahrhundertjahrgangs 1937 - ein Traum von einem Spitzenwein, mit edler Frucht, einem wunderbaren Bukett und einer rieslingtypischen, kernigen Säure. Er hatte sich doch einige wenige Flaschen davon aufbewahrt für einen ganz besonderen Anlass, ihn im täglichen Überlebenskampf aber fast vergessen. Er schritt zu dem Regal aus kantigen, von Schimmel überzogenen Hölzern und suchte in seinen Weinvorräten. Tatsächlich lagen ganz unten, verstaubt und vom Kellerschimmel schwarz gefleckt, drei Flaschen dieses außergewöhnlichen Tropfens. Behutsam holte er eine davon aus dem Regal, wischte den Belag mit einem Tuch vom Etikett und las halblaut Jahrgang und Lage vor sich hin. Was für ein Wein, welches Geschenk, aufbewahrt für eine außergewöhnliche Gelegenheit!

Kurz hielt er inne: Wann sonst als jetzt zu seinem Abschied vom Leben war dieser Anlass gekommen! Also holte er kurz entschlossen den Korkenzieher vom Regal, reinigte sorgfältig den Flaschenhals und zog den Korken heraus. Die ersten Tropfen perlten ins Glas, hochfarben wie flüssiges Gold und füllten es mit einem unvergleichlichen Duft. Mehrfach schwenkte er die Kostbarkeit, so dass sich die Bukettstoffe weiter entfalten konnten. Dazwischen hob er sie hoch zur Lampe, wo das Licht ein Feuerwerk von Goldblitzen entfachte. Beim Schwenken verteilte sich die Flüssigkeit auf der Glaswand und lief fast wie Honig langsam herunter. Kaum wagte er es, von der Rarität zu probieren, als sei er im Begriff, ein Sakrileg zu begehen. Doch dann siegte der Duft, der aus der Öffnung stieg, und er kostete den ersten Schluck. Eine ganz besondere feierliche Unruhe nahm von ihm Besitz.

Wie viele tausend Weine hatte er im Lauf seines Lebens schon beurteilt, bei den jährlichen Jungweinproben, mit dem Kellermeister zusammen an den riesigen Holzfässern im alten Gewölbe oder bei den Naturwein- Versteigerungen! Aber diesmal hatte er einen über zwanzig Jahre alten Tropfen auf der Zunge, aus einem überragenden Jahrgang, der zudem die Erinnerung an die Zeit "einst im Mai" vermittelte. Dieser würdige, betagte Wein füllte den Mund mit unbeschreiblichen Geschmacksnuancen, einer edlen, angenehmen Firne, einer wunderbar frischen Säure, einer feinen, unaufdringlichen Süße und einem beeindruckenden Strauß von Extraktstoffen. Überwältigt von dem Charakter dieses Geschenks der Natur, aber auch tief aufgewühlt von der Situation, in der er sich befand, goss er sich nach und probierte erneut. Die Zeit schien in diesem Augenblick ihre Bedeutung zu verlieren; die Gegenwart verschmolz mit der Erinnerung an seine Hochzeit, an das Jahr 1937, als seine Familie diesen besonderen Jahrgang erntete, und schließlich an seine Jugend im Winzerkeller. Die Bilder seines Lebens schienen sich im Gold dieses Weines zu spiegeln, die harte Arbeit, aber auch die schönen Stunden. Und das alles wollte er jetzt aufgeben, wegwerfen in verletztem Stolz, gekränkt durch einen eigentlich belanglosen Streit, ausgeliefert seiner destruktiven Wut.

Allmählich hörte die Mutter in der Küche auf zu weinen. Langsam wich der Schmerz über die Verletzungen des Streits einer inneren Erschöpfung, der Enttäuschung über ihr Schicksal, das sie in dieses "Kaff" und in dieses entbehrungsreiche Leben verschlagen hatte. Zu Hause in der Stadt waren sie in der Weimarer Zeit und während des Kriegs sicher nicht auf Rosen gebettet, aber es herrschte meist eine gelöste Atmosphäre. Ihr Vater, lange Jahre Vorstand des Gesangvereins und immer wieder arbeitslos, hatte viel Zeit für die Familie, spielte gern auf dem Bandoneon und pflegte das Liedgut der Romantik. In der Fabrik genoss sie die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die für Scherze aller Art zu haben waren. Nun galten andere Prinzipien: "Müßiggang ist aller Laster Anfang!" pflegte ihr Ehemann zu sagen und: "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!" Bei der Arbeit in der Landwirtschaft war voller Einsatz gefordert; alles war wichtig und musste sofort erledigt werden, ob das Heu vor dem drohenden Gewitter eingefahren oder der Weizen geschnitten und gedroschen wurde, ob die Kartoffeln und Rüben vor dem ersten Frost heimzuholen waren oder die Schädlingsbekämpfung im Wingert anstand, immer "galt es", sofort und mit aller Kraft zuzupacken.

Andererseits musste sie zugeben, dass er sich selbst im Einsatz für Betrieb und Familie am allerwenigsten schonte; er war ehrlich und treu ihr gegenüber, überaus ernsthaft in der Sorge um das Wohlergehen der Familie. Doch der von ihm häufig beschworene "Ernst des Lebens" bestimmte alles, ließ sehr wenig Platz für Entspannung und Freude. Nie waren sie in Urlaub; vordergründig war das "Vieh" daran schuld, also die Versorgung des Ochsen, der Kühe und Kälber, der Schweine und Hühner, in Wahrheit aber das Unvermögen, sich einmal auf etwas Neues einzulassen. Einzige Höhepunkte im Jahresablauf waren die Kirchenfeste und die Kerwe, zusätzlich der jährliche Vereinsausflug.

Inzwischen hatte sie sich weitgehend mit ihrem Leben abgefunden, zumal sie auf ihre zwei Söhne stolz war und einen engen Kontakt mit ihren Geschwistern pflegte. Doch bedingt durch den jahrelangen Existenzkampf verstärkte sich bei ihrem Mann die angelegte Schwermut; er bedachte jede Entscheidung mit großem Ernst und vermochte sich immer weniger zu einer Neuerung durchzuringen. Manchmal war er so erschöpft und gereizt, dass man wirklich "jedes Wort auf die Goldwaage legen" musste. Schon mehrmals hatte er in seinem verzweifelten Zorn damit gedroht sich umzubringen; irgendwie war er jedes Mal wieder aufgetaucht, wenn die Wut verraucht und die Verzweiflung abgeklungen waren. Und nun war er schon über eine Stunde aus dem Haus gelaufen. Hatte sie zunächst mit ihrer eigenen Verletztheit zu kämpfen, stieg nun langsam ein beklemmendes Gefühl in ihr hoch. Was wäre, wenn er es diesmal nicht schaffte? War sie dann nicht irgendwie mit schuld? Sie wischte sich die letzten Tränen ab, zog ihre Weste über und ging durch den Hof in die Scheune. Dort fiel ihr Blick sofort auf das Wagenseil, dessen Schlaufe von der Decke der Tenne herabhing; es musste ihm diesmal also sehr ernst sein. Doch wo befand er sich?

Die Kellertür stand offen und das Licht brannte. Sollte sie es wagen, einfach die steile Treppe hinunterzusteigen und ihm gegenüberzutreten, als wäre nichts vorgefallen? Fachte ihr Eindringen in seinen Rückzugsraum vielleicht seinen Zorn wieder an? Doch irgend etwas sagte ihr, dass sie jetzt zu ihm stehen müsse, ungeachtet der Folgen. Also ging sie langsam und vorsichtig Stufe um Stufe hinunter, bis sie ihn vor dem Fass stehen sah. Er hielt ein halb gefülltes Glas und eine Weinflasche in den Händen, war von ihr abgewandt und anscheinend versunken in einer anderen Welt. Leise sagte er sinnend vor sich hin: "So ein Wein!" und nach einer kurzen Pause mit verwundertem Kopfschütteln: "Dass es so was gibt!" Jetzt räusperte sie sich, wie sie es häufig tat, aber sehr leise, um ihn nicht zu erschrecken. Er drehte sich erstaunt zur Treppe, hielt das Glas in die Höhe, so dass sich das Kellerlicht in dem Gold des Weines spiegelte. Nochmals sagte er gedankenverloren zu sich selbst: "So ein Wein! Dass der Herrgott so was wachsen lässt!" Das Wort Herrgott nahm der Vater fast nur in den Mund, wenn er fluchte; und das tat er häufig, wenn die Arbeit nicht von der Hand ging, wenn der Ochse nicht laufen wollte oder wenn ihn der Zorn aus irgendeinem anderen Grund gepackt hatte. Doch in diesem Augenblick kam dieses Wort aus tiefem Herzen und verlieh der Situation etwas Feierliches, Ernstes. Dass er überhaupt so viel Emotion zeigte, war sehr selten und deutete darauf hin, wie aufgewühlt und existenziell betroffen er war.

Sie hatte ihn von der Treppe aus lange angeschaut, diesen hoch gewachsenen, kräftigen Mann, der nun so verzweifelt und verloren Zwiesprache hielt mit dem besonderen Geschenk der Natur in seinen Händen. Kurz entschlossen, vielleicht in einem Anflug von Mitgefühl, schritt sie die letzten Stufen hinab und ging auf ihn zu. Außerdem: Sollte sie nicht auch diesen hoch gelobten Wein probieren dürfen? Das hatte er sich gut ausgedacht, die beste Flasche allein auszutrinken! Wortlos griff sie zu dem Glas, das er ihr verdutzt überließ. Sie probierte nicht lange und kunstvoll, sondern nahm einen kräftigen Schluck und gleich noch einen, nickte anerkennend und gab das leere Glas zurück. Noch redeten sie nicht miteinander, aber ihre Blicke begegneten sich kurz und er schenkte nach einem tiefen Atemzug das Glas wieder voll, trank einen guten Schluck und gab es weiter. Mehrmals wiederholte sich dieser Vorgang, einer Zeremonie ähnlich. Und die feierliche Stimmung breitete sich in dem kühlen feuchten Keller aus, ergriff ihre Herzen und löste fast unmerklich Verzweiflung, Wut und Angst.

Irgendwann rannen die letzten Tropfen ins Glas und die silbrigen Kristalle des Weinsteins funkelten beim Schwenken des Restes vor dem Licht. Dann sagte sie mit fester Stimme: "Komm, wir gehen ins Haus." Er stellte Flasche und Glas wortlos auf den Fassriegel und folgte ihr. Als sie nebeneinander die breite steile Treppe hochstiegen, hielt er sich mit der Rechten am Geländer fest, mit der Linken aber fasste er behutsam ihren Oberarm. Es versteht sich von selbst, dass das Wagenseil, das noch in der Scheune hing, jetzt nicht mehr gebraucht wurde. Mit ausgestrecktem Arm griff er nach der Schlinge, zog es mit einem Ruck herab und schob es mit dem Fuß an die Wand. Zum Aufrollen war morgen auch noch ein Tag.
 
Hallo Justo,

vielen Dank für das Interesse an meiner Erzählung und die wohlwollenden Anmerkungen. Deine Vorschläge finde ich gut; ich habe sie schon in die Geschichte einfließen lassen.
Den Wein kann man auch als Metapher sehen für das, was die Natur für uns bereit hält, anders ausgedrückt, was das Leben lebenswert macht, trotz widriger Umstände... Dies führt ja auch zum langsamen Wandel des zum Suizid entschlossenen Prot. (neben der Erinnerung an sein Lebenswerk und der Solidarität seiner Frau...).

In diesem Sinne LG Bertl
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Bertl,

auch mit diesem Text ist es Dir gelungen, eine traurige Geschichte bis zum unerwartet glücklichen Ende packend zu erzählen – für mich eine Erzählung, wie sie nicht besser in diese Rubrik passen könnte.

Auch wenn man bald ahnt, dass der Vater spätestens beim Gang in den Keller das Seil nicht mehr brauchen wird, bleibt doch lange Zeit alles offen. Er hätte ja auch die Treppe hinunterfallen, sich an zu viel Wein zu Tode trinken können oder dergleichen mehr. Mit einem Aufatmen liest man, dass die Geschichte gut ausgeht. Vielleicht nur ein Aufschub?

Du zeichnest die Charaktere intensiv und gibst ihnen durch diverse Rückblenden noch mehr Tiefe. Man kann sich als Außenstehender sehr gut hineinversetzen in dieses bäuerliche Leben, auch wenn man nicht eben in einer Weingegend aufgewachsen ist.

Eine gelungene Geschichte, für die ich zum ersten Mal die Bestnote vergebe.

Liebe Grüße
Ciconia
 
Hallo Ciconia,

ich habe lange gezweifelt, ob eine solche bedächtig erzählte Geschichte aus einer lange zurückliegenden Zeit Interesse findet. (Sie trägt, wie man unschwer erkennen kann, autobiografische Züge). Umso glücklicher bin ich, dass das Lesen Dir anscheinend Freude bereitet hat, was ich Deinem außerordentlich positiven Kommentar entnehme. Noch dankbarer bin ich natürlich für die exzellente Wertung. Für mich soll es ein Ansporn sein, die eine oder andere Begebenheit von früher auszugraben; vielleicht ist es gut, wenn nicht alles vergessen wird.

Ganz liebe Grüße
Bertl
 

rogathe

Mitglied
Hallo Bertl,
deine Erzählung habe ich erst jetzt lesen können. Zudem musste ich mich mit den Kriterien, die für Erzählungen gelten, vertraut machen. Ich bevorzuge straff formulierte Texte.

Der Protagonist bereitet seinen Suizid durch Erhängen mittels Wagenseil in der Scheune vor. Seine Beweggründe erfährt der Leser anfangs nicht, nur dass er innerlich vor Wut schäumt.

Ein wenig umständlich formuliert finde ich:
Da der richtige Abstand von oben schlecht abzuschätzen war, stieg er Sprosse um Sprosse nach unten, abwechselnd nach oben und unten blickend, bis er unverhofft wieder auf dem Zementboden der Scheune stand.
Auf der obersten Sprosse angelangt, muss er das Seil doch nur um den Dachbalken verknoten und den Kopf durch durch die Schlinge stecken, dann ist die "sichere" Fallhöhe garantiert. Mit den Füßen die Leiter umstoßen, fertig. Oder wolltest du sein Zögern beschreiben? Aber eben schäumte er noch innerlich vor Wut. Das hakelt etwas, finde ich.
Anscheinend über sich selbst verwundert schaute er sich um;
- In diesem Moment wundert er sich doch tatsächlich über sich selbst, dass sein Blick zur gegenüberliegenden Tür wandert.
Sein Zögern wird größer, er steigt in "seinen" Weinkeller hinunter, Erinnerungen kommen auf, er probiert seinen besten Tropfen und beruhigt sich dabei.
Fazit: Eigentlich will er sich gar nicht umbringen. Die Schuldenlast drückt, Ausweg ist keiner in Sicht. Streit.
Er versuchte es bereits mehrmals, ist dann zu lesen. Seine Frau kennt die Situation also schon und macht sich wieder einmal auf die Suche nach ihm. Sie beobachtet ihn still, dann gesellt sie sich zu ihm.

So ein Wein! Dass der Herrgott so was wachsen lässt!" Das Wort Herrgott nahm der Vater fast nur in den Mund, wenn er fluchte; und das tat er häufig, wenn die Arbeit nicht von der Hand ging, wenn der Ochse nicht laufen wollte oder wenn ihn der Zorn aus irgendeinem anderen Grund gepackt hatte.
Ist hier der Vater des Prots. gemeint? Sozusagen als Zitat?

Sie leeren die Flasche gemeinsam - stumm versöhnt und gehen gemeinsam ins Haus zurück. Einmal mehr ist der Selbstmord abgewendet.

Der Prot. hatte ein harte Kindheit/Jugend. Da war kein Platz für Spiele: das Wagenseil hätte zum Beispiel zum fröhlichen Tauziehen verwendet werden können. Unfalltod der Mutter, Erkrankung mit bleibendem Herzklappenfehler, Depression.
Die wirtschaftlichen Probleme werden ihn erneut in die Knie zwingen. Er wird es bei nächster Gelegenheit wieder versuchen, meine ich. Und wieder auf ein "Wunder" hoffen.
Du hast es einfühlsam beschrieben.
 
Hallo Rogathe,
ich darf mich herzlich bedanken für die ausführliche Würdigung meiner Erzählung, die sicher auch als tiefere Analyse gelten darf.
Gern möchte ich zu den einzelnen Anmerkungen und Vorschlägen Stellung beziehen:

Die Gattung der Erzählung kommt meiner Art zu denken und zu schreiben sehr entgegen. Meist wird aus dem Vorhaben, eine Kurzgeschichte zu konzipieren, wieder eine längere Erzählung, weil ich gern ausgestalte und in die Tiefe gehe. (Das Straffen und Konzentrieren auf das Wesentliche ist sicher schwieriger.) Mein Hang zu möglichst genauem Beschreiben spielt mir manchmal einen Streich, wie z.B. bei der von Dir zitierten Stelle, wo der Vater die Leiter wieder herabsteigt. Der Passus gefällt mir auch nicht; ich werde ihn überarbeiten.

Auch den Gemütszustand des Prot. muss ich noch genauer fassen: Einerseits schäumt er vor innerer Erregung, andererseits zögert er, sein Vorhaben durchzuführen, also die Schlinge um den Hals zu legen. Er ist eben ein Zauderer, was vielleicht auch gut für ihn ist. Dass er den Weg in den Keller findet, geschieht fast unbewusst, vielleicht auch aus dem Bedürfnis heraus, den Entschluss hinauszuzögern.

Nun zum "Vater": er ist durchgängig der Prot. Da die Geschichte auf Wahrheit beruht, hätte ich auch "mein Vater" schreiben können; das war mir aber zu persönlich. Übrigens, auch andere Kommentatoren äußerten die Befürchtung, er werde es aufgrund seiner Gemütsverfassung wieder versuchen. Dies war nicht der Fall; er erlitt einige Jahre später mitten in seinem Weinberg einen Herzschlag. (So persönlich wollte ich eigentlich nicht werden; sorry.)
Nochmals vielen Dank und liebe Grüße
Bertl
 
Das Wagenseil

Sauber aufgerollt und mit einem kunstvollen Knoten zusammengebunden hing das alte dicke Wagenseil griffbereit neben verschiedenen anderen Stricken und Ketten an einem rechenartigen Holzgestell an der Scheunenwand. Niemand wusste, von wem es angeschafft worden war und wem es schon gedient hatte. Den besonderen Namen trug es wegen seiner wichtigsten Verwendung: Hatte die bäuerliche Familie im Sommer den hölzernen Leiterwagen fast drei Meter hoch mit Heu oder Getreidegarben vollgeladen, wurde längs über die Heubündel oder Garben ein langer Holzpfahl, der "Wiesbaum" gelegt und vorne mit einer Kette am Wagen befestigt. Um das hintere Ende wurde das Wagenseil geschlungen, dessen zwei herunterhängende Enden um eine am Wagen verankerte hölzerne Winde gelegt und mit den "Windlöffeln" um diese Walze gewickelt wurden, so dass der Wiesbaum mit großer Kraft nach unten gezogen wurde und die Last sicher auf dem Wagen hielt. Natürlich diente das dicke Hanfseil das Jahr über auch anderen Zwecken: So konnte mit ihm beim Schlachtfest das tote Schwein an einem der über dem Scheunentor aus der Wand ragenden Balken, die das Vordach trugen, befestigt werden. Oder man verwendete es zusammen mit einer hölzernen Umlenkrolle zum Hochziehen von Lasten auf den Speicher oder auf den Dachboden des Schuppens und für viele andere Zwecke.

Das Wagenseil hatte aber traditionell in den bäuerlichen Familien noch eine weitere, zwar seltene Aufgabe, die aber im Notfall besonders wichtig war, und heute war dieser Fall eingetreten. Also nahm es der Vater äußerlich ruhig, im Innern aber schäumend vor ohnmächtigem Zorn, vom Haken, begann sehr langsam den Knoten zu lösen und Windung für Windung auf den Boden gleiten zu lassen, bis er das Ende mit der Öse in der Linken hielt. Mit der rechten Hand führte er sorgfältig das andere Ende durch die Öffnung und zog das gesamte Seil durch, bis eine etwa kopfgroße Schlinge entstanden war, die ihm dazu dienen sollte, sich an einem der dicken Tennenbalken aufzuhängen. Die fertige Schlinge behielt er in der linken Hand, während er die an der Scheunenwand lehnende Leiter in die richtige Position rückte und mit pochendem Herzen Stufe für Stufe nach oben stieg, um den vorgesehenen Balken zu erreichen und das Seil dort festzubinden. Dabei wurden seine Bewegungen immer langsamer, als zögere er, seinen nicht ohne Grund gefassten Entschluss auszuführen. Schwer ging sein Atem und sein Gesicht war blaurot angelaufen, als er hoch genug geklettert war, die Schlinge mit einem tiefen Seufzer über den Balken führte und zögerlich nach unten gleiten ließ, um abzumessen, in welcher Höhe er das längere Ende des Seils festknoten musste. Denn die richtige Höhe entschied über das Gelingen seines Vorhabens. Schon mancher hatte sich verschätzt und die Schlinge zu tief gehängt, so dass er mit verletzten Beinen überlebte. Wurde sie aber zu hoch befestigt, genügte die Fallhöhe nicht, um das Genick zu brechen und den sofortigen Tod herbeizuführen. Weil er aber gewohnt war, alles mehrfach abzuwägen und bis ins Einzelne vorauszuberechnen, stieg er Sprosse um Sprosse nach unten, um sich sein Werk aus größerer Entfernung anzusehen, vor allem aber um die Entscheidung noch etwas hinauszuzögern.

Als er unerwartet wieder auf dem Zementboden der Scheune stand, schaute er sich unschlüssig um; dabei fiel sein Blick auf die grüne zweiflügelige Kellertür an der gegenüberliegenden Tennenwand. Der Keller, das war eigentlich sein Reich gewesen, ein Rückzugsgebiet, wenn die Probleme überhand nahmen, aber auch ein Ort der Ruhe nach einem arbeitsreichen Tag. Noch ein letztes Mal hinabzusteigen in die Stille, seine Fässer und Weinflaschen noch einmal zu betrachten, dieser Wunsch wurde in ihm so bestimmend, dass er mechanisch die wenigen Schritte zurücklegte, den großen Schlüssel umdrehte, die knarrende Tür weit öffnete und das Licht an dem schwarzen Schalter anknipste. Mit der Linken hielt er sich an dem mit Mennige überzogenen, schon leicht angerosteten Geländer fest, während er bedächtig Stufe um Stufe nach unten schritt. Alles hatte er mit seinen eigenen Händen geschaffen, so fuhr es ihm durch den Kopf, nicht nur das Geländer, die steile, betonierte Treppe, die so breit war, dass man ein Holzfass nach unten befördern konnte. Nein, den gesamten tiefen Weinkeller hatte er einige Jahre nach dem Krieg dem zähen, an manchen Stellen steinharten Letten abgerungen, mit Spaten und Spitzpickel, manchmal unterstützt von ein, zwei Männern aus dem Dorf. Dieser tiefe, gut temperierte Raum unter der dann errichteten Scheune war sein ganzer Stolz, ruhte doch hier mancher ausgezeichnete Tropfen aus weltberühmten Weinlagen, meist von ihm selbst ausgebaut.

Sein ganzes Leben lang war er dem Weinbau verbunden. Schon als Kind half er bei den Arbeiten im Weinberg mit, soweit es die Kräfte zuließen, besonders als sein Vater im Alter von fast vierzig Jahren noch in den Ersten Krieg einrücken musste. Auch als er zwar unversehrt, aber geschwächt an Körper und Seele heimkehrte, musste der Zwölfjährige kräftig im bäuerlichen Betrieb zupacken. Nach der Volksschule schickte man ihn als Kellerarbeiter in den örtlichen Winzerverein. Zwar lernte er dort viel über Weinbehandlung und den Bau von Fässern und Zubern, doch die Arbeit war für den Heranwachsenden oft sehr schwer. Als Jüngster war er natürlich für das Fassschlüpfen, also das Reinigen der Holzfässer von innen, am besten geeignet. Vor allem im Winter geriet das Spülen der Flaschen im eiskalten Wasser zur Tortur; damals holte er sich ein lebensgefährliches rheumatisches Fieber und trug einen schweren Herzklappenfehler davon, der ihm zeitlebens zu schaffen machte. Später erinnerte er sich oft mit Bitterkeit an diese Zeit, da der Vater nicht durchsetzen konnte, dass er einen Lehrvertrag erhielt; außerdem stellte sich heraus, dass sein Küfermeister die fälligen Rentenbeiträge nicht abgeführt hatte. Spätestens nach dem tragischen Unfalltod der Mutter - sie wurde auf der Dorfstraße von einem Motorrad erfasst - fiel ihm, dem einzigen Sohn von fünf Kindern, die Verantwortung für den Betrieb zu. Allerdings hatte die Herzerkrankung, die man damals nicht operieren konnte, den Vorteil, dass er für den Wehrdienst untauglich war und trotz zahlreicher Intrigen der örtlichen Nazigrößen im Zweiten Krieg nicht an die Front musste.

Inzwischen war er am unteren Ende der Treppe angekommen und ging immer noch in großer innerer Erregung auf dem schmalen betonierten Gang an seinen Weinfässern entlang. Zu jedem von ihnen hatte er eine besondere Beziehung; sein ganzer Stolz war das neue Halbstück (600 Liter), das er vor wenigen Jahren vom örtlichen Küfer erworben hatte. Es glänzte noch in hellem Eichenton, die Reifen waren schwarz lackiert und die Daubenenden am Fassboden rot gestrichen; die große Überwurfmutter am Riegel leuchtete in hellem Messing. Alles in allem war es eine bescheidene Reihe, aber für seine Zwecke gerade richtig; reichte sie doch zum Ausbau des so genannten Haustrunks, eines leichten Portugiesers, und wechselnder Spezialitäten, denn er setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, einen eigenen, reintönigen Riesling zu erzeugen. Dieser war aber völlig naturrein, also durchgegoren und ohne künstliche Zusätze. Was dies betraf, war er über den Ort hinaus für seine Kompromisslosigkeit bekannt; er hieß daher auch "der Ehrliche".

Und nun hatte er sich aus mehreren Gründen entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber vorher wollte er noch ein letztes Glas von dem 1959er, einem der besonderen Weinjahrgänge, aus seinem Halbstück trinken, den er aus Trauben mit 103 Grad Öchsle aus seinem besten Wingert ausgebaut hatte und der sich vorzüglich entwickelte. Routiniert tauchte er den dünnen roten Abziehschlauch ins Spundloch, zog kurz an, schwenkte mit den ersten Tropfen das Probierglas aus, das immer griffbereit auf dem Fassriegel stand und füllte es dann zur Hälfte. Er hob es gegen das Licht der Kellerlampe und ließ dann den ersten Schluck über die Zunge fließen, kaute ihn mehrfach und geräuschvoll und schluckte ihn aufmerksam. Zu einem wunderbaren Riesling war er herangereift, kräftig im Alkohol, vollmundig im Geschmack, mit feinem, erlesenem Bukett. Nach dem nächsten kräftigen Schluck füllte er sich aus dem Schlauch, den er mit der linken Hand zugedrückt hatte, das Glas fast randvoll und leerte es bedächtig, ja andächtig und bewundernd über so viel Feinheit und Finesse.

Indem er sich auf den Wein konzentrierte, verringerte sich unmerklich seine innere Anspannung ein wenig; sein Atem floss etwas ruhiger. Er goss sich noch einmal nach, spülte den Abziehschlauch mit Wasser aus und schlug den Spund wieder ein. Diese Gottesgabe konnten nun andere weiter pflegen und trinken. Doch bei diesem Gedanken stutzte er: sollte er wirklich so einen Wein freiwillig zurücklassen? War er so schwer verletzt worden, dass es keinen Ausweg gab? Hatte ihn sein Jähzorn nicht vielleicht selbst in den Streit mit seiner Frau getrieben, einen Streit, der sich an einer Nichtigkeit entzündet hatte und dann eskaliert war, weil keiner nachgab und ein böses Wort dem anderen folgte? Meistens schluckte seine Frau seine schlechte Laune und seine Gereiztheit, wenn er sich nach einem langen Tag im Wingert völlig erschöpft und wegen seines Herzfehlers blau im Gesicht angelaufen an den Tisch setzte; dann konnte ein einziges falsches Wort oder eine geringe Unstimmigkeit beim Essen, ein Problem mit den Kindern oder ein Brief mit einer schlechten Nachricht zu einem Zornesausbruch führen.

Gerade solche Post erreichte die Familie in den Fünfziger Jahren recht häufig: fällige Wechsel auf den Traktor, Mahnungen von der Sparkasse wegen des Kredits für das Haus und zu allem Überfluss Nachzahlungen mit Pfändungsandrohung vom Finanzamt. Manchmal war das Geld so knapp, dass sie erst einkaufen konnten, wenn die Nachbarn das "Milchgeld", also die wenigen Pfennige für die verkaufte Milch vorbeibrachten. Heute war eben alles zusammengekommen und die Ehefrau war diesmal nicht in der Lage ihn in seiner Verzweiflung aufzufangen. Eine sicher vererbte Schwermut tat ein übriges, so dass er laut fluchend die Tür hinter sich zuknallte und mit festen Schritten in die Scheune eilte.

Nun stand er wieder einmal niedergeschlagen und voll Bitterkeit in seinem Keller; doch diesmal sah er keinen Ausweg mehr. Zu sehr hatte ihn seine ohnmächtige Wut im Griff. Dabei hatte er eine herzensgute Frau, die meist um Ausgleich bemüht war, manchmal still vor sich hinweinte, wenn die Schicksalsschläge zu häufig kamen und die bäuerliche Arbeit sie überforderte. Während des Krieges, als die Bombenangriffe die Städte in Schutt und Asche legten, war ihr Versuchslabor, in dem sie als Laborantin arbeitete, in das kleine Weindorf an der Haardt ausgelagert worden; so lernte sie den nicht mehr ganz jungen Winzer kennen und wegen seiner Geradlinigkeit schätzen. Sie war trotz einiger Schicksalsschläge von Haus aus ein fröhlicher Mensch, das jüngste von fünf Mädchen einer Familie, in der trotz schlechter Zeiten viel gesungen und gelacht wurde. Für beide schien es die letzte Gelegenheit, einen Partner zu finden. Gleich nach dem Ende des Krieges heirateten sie im Mai 1945 und durchlebten sicher auch glückliche Momente, woran der Vater in der ihm eigenen ironischen Art oft mit der Floskel "wie einst im Mai" erinnerte. Doch der Mutter fiel es nicht leicht, sich in den nur auf Arbeit konzentrierten Winzerhaushalt einzufinden, zu dem auch die ledige Zwillingsschwester ihres Mannes gehörte, die der Neuen das Leben schwer machte.

Ausgerechnet jetzt, als er mit dem Glas in der Hand den guten Tropfen Schluck um Schluck genoss, fiel ihm der Hochzeitswein ein, den er damals, vor bald fünfzehn Jahren nicht ohne Stolz präsentiert hatte, eine Riesling Spätlese des Jahrhundertjahrgangs 1937 - ein Traum von einem Spitzenwein, mit edler Frucht, einem wunderbaren Bukett und einer rieslingtypischen, kernigen Säure. Er hatte sich doch einige wenige Flaschen davon aufbewahrt für einen ganz besonderen Anlass, ihn im täglichen Überlebenskampf aber fast vergessen. Er schritt zu dem Regal aus kantigen, von Schimmel überzogenen Hölzern und suchte in seinen Weinvorräten. Tatsächlich lagen ganz unten, verstaubt und vom Kellerschimmel schwarz gefleckt, drei Flaschen dieses außergewöhnlichen Tropfens. Behutsam holte er eine davon aus dem Regal, wischte den Belag mit einem Tuch vom Etikett und las halblaut Jahrgang und Lage vor sich hin. Was für ein Wein, welches Geschenk, aufbewahrt für eine außergewöhnliche Gelegenheit!

Kurz hielt er inne: Wann sonst als jetzt zu seinem Abschied vom Leben war dieser Anlass gekommen! Also holte er kurz entschlossen den Korkenzieher vom Regal, reinigte sorgfältig den Flaschenhals und zog den Korken heraus. Die ersten Tropfen perlten ins Glas, hochfarben wie flüssiges Gold und füllten es mit einem unvergleichlichen Duft. Mehrfach schwenkte er die Kostbarkeit, so dass sich die Bukettstoffe weiter entfalten konnten. Dazwischen hob er sie hoch zur Lampe, wo das Licht ein Feuerwerk von Goldblitzen entfachte. Beim Schwenken verteilte sich die Flüssigkeit auf der Glaswand und lief fast wie Honig langsam herunter. Kaum wagte er es, von der Rarität zu probieren, als sei er im Begriff, ein Sakrileg zu begehen. Doch dann siegte der Duft, der aus der Öffnung stieg, und er kostete den ersten Schluck. Eine ganz besondere feierliche Unruhe nahm von ihm Besitz.

Wie viele tausend Weine hatte er im Lauf seines Lebens schon beurteilt, bei den jährlichen Jungweinproben, mit dem Kellermeister zusammen an den riesigen Holzfässern im alten Gewölbe oder bei den Naturwein- Versteigerungen! Aber diesmal hatte er einen über zwanzig Jahre alten Tropfen auf der Zunge, aus einem überragenden Jahrgang, der zudem die Erinnerung an die Zeit "einst im Mai" vermittelte. Dieser würdige, betagte Wein füllte den Mund mit unbeschreiblichen Geschmacksnuancen, einer edlen, angenehmen Firne, einer wunderbar frischen Säure, einer feinen, unaufdringlichen Süße und einem beeindruckenden Strauß von Extraktstoffen. Überwältigt von dem Charakter dieses Geschenks der Natur, aber auch tief aufgewühlt von der Situation, in der er sich befand, goss er sich nach und probierte erneut. Die Zeit schien in diesem Augenblick ihre Bedeutung zu verlieren; die Gegenwart verschmolz mit der Erinnerung an seine Hochzeit, an das Jahr 1937, als seine Familie diesen besonderen Jahrgang erntete, und schließlich an seine Jugend im Winzerkeller. Die Bilder seines Lebens schienen sich im Gold dieses Weines zu spiegeln, die harte Arbeit, aber auch die schönen Stunden. Und das alles wollte er jetzt aufgeben, wegwerfen in verletztem Stolz, gekränkt durch einen eigentlich belanglosen Streit, ausgeliefert seiner destruktiven Wut.

Allmählich hörte die Mutter in der Küche auf zu weinen. Langsam wich der Schmerz über die Verletzungen des Streits einer inneren Erschöpfung, der Enttäuschung über ihr Schicksal, das sie in dieses "Kaff" und in dieses entbehrungsreiche Leben verschlagen hatte. Zu Hause in der Stadt waren sie in der Weimarer Zeit und während des Kriegs sicher nicht auf Rosen gebettet, aber es herrschte meist eine gelöste Atmosphäre. Ihr Vater, lange Jahre Vorstand des Gesangvereins und immer wieder arbeitslos, hatte viel Zeit für die Familie, spielte gern auf dem Bandoneon und pflegte das Liedgut der Romantik. In der Fabrik genoss sie die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, die für Scherze aller Art zu haben waren. Nun galten andere Prinzipien: "Müßiggang ist aller Laster Anfang!" pflegte ihr Ehemann zu sagen und: "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!" Bei der Arbeit in der Landwirtschaft war voller Einsatz gefordert; alles war wichtig und musste sofort erledigt werden, ob das Heu vor dem drohenden Gewitter eingefahren oder der Weizen geschnitten und gedroschen wurde, ob die Kartoffeln und Rüben vor dem ersten Frost heimzuholen waren oder die Schädlingsbekämpfung im Wingert anstand, immer "galt es", sofort und mit aller Kraft zuzupacken.

Andererseits musste sie zugeben, dass er sich selbst im Einsatz für Betrieb und Familie am allerwenigsten schonte; er war ehrlich und treu ihr gegenüber, überaus ernsthaft in der Sorge um das Wohlergehen der Familie. Doch der von ihm häufig beschworene "Ernst des Lebens" bestimmte alles, ließ sehr wenig Platz für Entspannung und Freude. Nie waren sie in Urlaub; vordergründig war das "Vieh" daran schuld, also die Versorgung des Ochsen, der Kühe und Kälber, der Schweine und Hühner, in Wahrheit aber das Unvermögen, sich einmal auf etwas Neues einzulassen. Einzige Höhepunkte im Jahresablauf waren die Kirchenfeste und die Kerwe, zusätzlich der jährliche Vereinsausflug.

Inzwischen hatte sie sich weitgehend mit ihrem Leben abgefunden, zumal sie auf ihre zwei Söhne stolz war und einen engen Kontakt mit ihren Geschwistern pflegte. Doch bedingt durch den jahrelangen Existenzkampf verstärkte sich bei ihrem Mann die angelegte Schwermut; er bedachte jede Entscheidung mit großem Ernst und vermochte sich immer weniger zu einer Neuerung durchzuringen. Manchmal war er so erschöpft und gereizt, dass man wirklich "jedes Wort auf die Goldwaage legen" musste. Schon mehrmals hatte er in seinem verzweifelten Zorn damit gedroht sich umzubringen; irgendwie war er jedes Mal wieder aufgetaucht, wenn die Wut verraucht und die Verzweiflung abgeklungen waren. Und nun war er schon über eine Stunde aus dem Haus gelaufen. Hatte sie zunächst mit ihrer eigenen Verletztheit zu kämpfen, stieg nun langsam ein beklemmendes Gefühl in ihr hoch. Was wäre, wenn er es diesmal nicht schaffte? War sie dann nicht irgendwie mit schuld? Sie wischte sich die letzten Tränen ab, zog ihre Weste über und ging durch den Hof in die Scheune. Dort fiel ihr Blick sofort auf das Wagenseil, dessen Schlaufe von der Decke der Tenne herabhing; es musste ihm diesmal also sehr ernst sein. Doch wo befand er sich?

Die Kellertür stand offen und das Licht brannte. Sollte sie es wagen, einfach die steile Treppe hinunterzusteigen und ihm gegenüberzutreten, als wäre nichts vorgefallen? Fachte ihr Eindringen in seinen Rückzugsraum vielleicht seinen Zorn wieder an? Doch irgend etwas sagte ihr, dass sie jetzt zu ihm stehen müsse, ungeachtet der Folgen. Also ging sie langsam und vorsichtig Stufe um Stufe hinunter, bis sie ihn vor dem Fass stehen sah. Er hielt ein halb gefülltes Glas und eine Weinflasche in den Händen, war von ihr abgewandt und anscheinend versunken in einer anderen Welt. Leise sagte er sinnend vor sich hin: "So ein Wein!" und nach einer kurzen Pause mit verwundertem Kopfschütteln: "Dass es so was gibt!" Jetzt räusperte sie sich, wie sie es häufig tat, aber sehr leise, um ihn nicht zu erschrecken. Er drehte sich erstaunt zur Treppe, hielt das Glas in die Höhe, so dass sich das Kellerlicht in dem Gold des Weines spiegelte. Nochmals sagte er gedankenverloren zu sich selbst: "So ein Wein! Dass der Herrgott so was wachsen lässt!" Das Wort Herrgott nahm der Vater fast nur in den Mund, wenn er fluchte; und das tat er häufig, wenn die Arbeit nicht von der Hand ging, wenn der Ochse nicht laufen wollte oder wenn ihn der Zorn aus irgendeinem anderen Grund gepackt hatte. Doch in diesem Augenblick kam dieses Wort aus tiefem Herzen und verlieh der Situation etwas Feierliches, Ernstes. Dass er überhaupt so viel Emotion zeigte, war sehr selten und deutete darauf hin, wie aufgewühlt und existenziell betroffen er war.

Sie hatte ihn von der Treppe aus lange angeschaut, diesen hoch gewachsenen, kräftigen Mann, der nun so verzweifelt und verloren Zwiesprache hielt mit dem besonderen Geschenk der Natur in seinen Händen. Kurz entschlossen, vielleicht in einem Anflug von Mitgefühl, schritt sie die letzten Stufen hinab und ging auf ihn zu. Außerdem: Sollte sie nicht auch diesen hoch gelobten Wein probieren dürfen? Das hatte er sich gut ausgedacht, die beste Flasche allein auszutrinken! Wortlos griff sie zu dem Glas, das er ihr verdutzt überließ. Sie probierte nicht lange und kunstvoll, sondern nahm einen kräftigen Schluck und gleich noch einen, nickte anerkennend und gab das leere Glas zurück. Noch redeten sie nicht miteinander, aber ihre Blicke begegneten sich kurz und er schenkte nach einem tiefen Atemzug das Glas wieder voll, trank einen guten Schluck und gab es weiter. Mehrmals wiederholte sich dieser Vorgang, einer Zeremonie ähnlich. Und die feierliche Stimmung breitete sich in dem kühlen feuchten Keller aus, ergriff ihre Herzen und löste fast unmerklich Verzweiflung, Wut und Angst.

Irgendwann rannen die letzten Tropfen ins Glas und die silbrigen Kristalle des Weinsteins funkelten beim Schwenken des Restes vor dem Licht. Dann sagte sie mit fester Stimme: "Komm, wir gehen ins Haus." Er stellte Flasche und Glas wortlos auf den Fassriegel und folgte ihr. Als sie nebeneinander die breite steile Treppe hochstiegen, hielt er sich mit der Rechten am Geländer fest, mit der Linken aber fasste er behutsam ihren Oberarm. Es versteht sich von selbst, dass das Wagenseil, das noch in der Scheune hing, jetzt nicht mehr gebraucht wurde. Mit ausgestrecktem Arm griff er nach der Schlinge, zog es mit einem Ruck herab und schob es mit dem Fuß an die Wand. Zum Aufrollen war morgen auch noch ein Tag.
 



 
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