Das Weihnachtsbäumchen

Das Weihnachtsbäumchen
von Willi Corsten

Der kleine Daniel sah nachdenklich zu dem alten Fachwerkhaus hinüber, in dem Oma Malik lebte. Im Sommer hatte er oft dort auf der Wiese gespielt, war in den Kastanienbaum geklettert und kaufte hin und wieder ein für die alte Frau. Jetzt aber, einen Tag vor dem Weihnachtsfest, lag das Haus still und verlassen am Ende des Dorfes. Nur der Rauch aus dem Schornstein verriet, dass hier jemand wohnte.
Plötzlich hatte Daniel eine Idee. Ein Christbaum musste her, ein schönes Tannenbäumchen für die freundliche Oma. Der siebenjährige Lausbub eilte in den Schuppen, zog die Gummistiefel an, suchte in Papis Werkzeugkiste die Handsäge, versteckte sie unter seinem Anorak und lief bald schon auf den nahen Wald zu.
Dort kannte der Junge sich aus, er war oft mit den Eltern hier gewesen. Die Nadelbäume standen dicht an dicht und ragten mit ihren mächtigen Zweigen fast bis in den Himmel. Große Tannen gab es genug, aber kein kleines Bäumchen, das in Oma Maliks Stube passte. So musste Daniel tiefer in den Wald dringen. Weit vorn war eine Schonung. Gewiss würde er dort das passende Bäumchen finden. Doch o weh, ein Zaun verwehrte den Zutritt und schützte so die jungen Triebe vor dem Wild. Daniel rannte am Zaun entlang, denn irgendwo musste doch ein Durchkommen sein.
Da begann es zu schneien, dicke Flocken segelten vom grauen Himmel. Zuerst freute sich der Junge darüber, doch als der Schneefall stärker wurde, schaute er besorgt zurück. Sollte er umkehren? Daniel zögerte. Nein, nicht ohne eine Tanne für Oma Malik.
So stiefelte er weiter und entdeckte schließlich gleich neben dem Pfad ein Bäumchen, das ganz nach seinen Vorstellungen gewachsen war. Er holte die Säge hervor und kniete sich in den Schnee, der nun schon den Boden bedeckte. Kurz darauf war die Arbeit getan. Der Junge packte die Tanne am unteren Ast und überlegte, in welcher Richtung er die Schonung umrunden sollte. Er entschied sich für den Weg nach vorn, weil ihm dieser Pfad näher zu sein schien. Doch der Weg endete am See. So musste Daniel die ganze Strecke zurück und verpasste sogar die Abzweigung, die geradewegs ins Dorf führte.
Das Schneetreiben wurde heftiger, allmählich senkte sich die Dunkelheit über das Land. Hilflos schaute der Kleine umher. Alles war so fremd hier. Er versuche quer durch den Wald zu laufen, doch immer wieder versperrte dichtes Unterholz seinen Weg. Entmutigt gab er schließlich auf. Die Füße brannten und die frostklammen Finger konnten das Tannenbäumchen kaum mehr halten. Daniel setzte sich auf einen gefällten Baumstamm und kämpfte mit den Tränen. Ein Käuzchen rief. Das schaurige Huuu hallte gespensterhaft durch die Finsternis. Es knackte im Gebüsch, und ein paar Rehe stürmten in wilder Flucht davon. Der Junge lauschte. War da nicht ein fernes Rufen, irgendwo drüben im Forst? Geisterte da nicht ein Licht zwischen den Bäumen umher? Da, wieder hörte er die Stimme, deutlicher nun: Daniel, Daniel! Der Kleine sprang auf, stolperte vorwärts und rief: „Hier bin ich, hier...!“
Wenig später schmiegte er sich in Papis Arm.
„Warum bist du denn weggelaufen, Junge? Wir haben uns große Sorgen gemacht. Was hast du dir nur dabei gedacht?“
Da zeigte der Kleine stolz auf das Bäumchen, das er immer noch fest umklammert hielt und antwortete „Oma Malik soll doch richtig Weihnachten feiern können.“
Papa schüttelte den Kopf. Dann machten sich beide auf den Heimweg.

Nach der Bescherung stieg der Junge die Treppe zum Kinderzimmer hoch und legte sich ins Bett. Im Traum suchte er einen Helfer, der das Bäumchen für Oma Malik aufstellte und schmückte. Irgendwann in der Nacht hörte er draußen ein Geräusch. Fuhr da etwa das Christkind mit seinem Rentierschlitten vorbei? Daniel machte das Licht an, schlich ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite - und rieb sich verwundert die Augen. Von hier aus konnte er doch geradewegs in Oma Maliks Stube sehen und entdeckte dort ein festlich geschmücktes Tannenbäumchen, an dem zahlreiche Kerzen brannten. Sein sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen. Hatte das Christkind etwa geholfen, oder war es Papi gewesen? Egal! Einer von den Beiden hatte wohl Oma Malik besucht, ihr gewiss von seinem Abenteuer im Wald erzählt und weihnachtliche Freude ins Haus gebracht. Als er genauer hinschaute, sah er am Fenster Oma Malik stehen. Sie winkte zu ihm herüber. Und Daniel freute sich sehr.
 

Brigitte

Mitglied
Lieber Willi,

Immer wieder schön, Geschichten von dir zu lesen, und diese gehört einfach zu Weihnachten. Musste sie hier noch einmal lesen.
Aber warum hast du sie in "Sonstiges" gesetzt? Hätte sie nicht viel besser in Winterimpressionen gepasst, oder in Kindergeschichten?
Nunja, sie ist jedenfalls schön, und darauf kommts an;)

Ich wünsch dir noch ein paar schöne Tage im alten Jahr und einen guten Start ins Neue....
Liebe Grüsse
Brigitte
 
Liebe Brigitte,
vielen Dank fürs Reinschauen. Dein Lob freut mich immer wieder. Du hast ja auch in der Schreibwerkstatt fleißig mit gearbeitet.
Nun, die Geschichte hätte auch in ein anderes Forum gepasst, aber hier ist sie auch gut aufgehoben, oder?
Ich wünsche auch dir einen guten Start ins Neue Jahr.
(Eine kleine Nachbetrachtung zum Weihnachtsfest findest du übrigens im Ironieforum unter Fröhliche Weihnachten)

Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 
R

Rote Socke

Gast
Lieber Willi,

nun ist Weihnachten schon fast Schnee von gestern und ich komme erst jetzt dazu, auf den Text zu antworten. Schäm!
Aber der Schnee liegt ja noch und so ist auch Weihnachten noch im Gedächnis. Die fertige Geschichte hier, anstelle in der Werkstatt zu lesen, macht große Freude. In der Werkstatt halten wir uns ja oft an einzelnen Passagen auf. Im fertigen Gesamtbild liest sich die Geschichte wunderbar. Doch ganz kann ich die Werkstattdenkerei nicht ablegen. In einem Satz steht:

"So musste Daniel die ganze Strecke zurück und verpasste auch noch die Abzweigung,..."

wie wäre es, wenn Du "auch noch" durch "sogar" ersetzt? Da im Text eh einige "auch" und "noch" stehen. Was meinst Du?

LG
Volkmar
 

uedeke

Mitglied
Lieber Willi,

dies ist wieder einer der Momente, in dem ich meinen Zeitmangel fürs Lesen (und vielleicht auch wieder mal etwas schreiben).

Obwohl Weihnachten schon vorbei ist und der Alltag mich wieder hat, konnte die Geschichte mich in ihren Bann ziehen.

Ob es heute noch viele Kinder gibt, die so denken wie der Held der Geschichte ? Manchmal zweifle ich daran.

Alles Gute, nicht nur für 2002.

Udo
 
Lieber Volkmar,
vielen Dank für den Hinweis. Habe ihn gleich verwendet.
Da bastelten wir so lange in der Schreibwerkstatt herum, und finden immer noch etwas zum Verbessern.
Beste Grüße
Willi
 
Lieber Udo,
dein Lob freut mich. Dankeschön.
Du fragst, ob es heute auch noch hilfsbereite Kinder gibt. Doch, die gibt es. Man muss sie nur ernst nehmen und die richtigen Worte finden. Hab da schon kleine Wunder erlebt.

Auch dir viel Erfolg und Alles Gute
wünscht Willi
 



 
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