Das Weihnachtstribunal

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Rodolfo

Mitglied
Der Baumstumpf hatte sie auf die Spur gebracht. Mit einem barbarischen Werkzeug war eine Tannenpflanze kurz über dem Boden abgetrennt worden. Die Tannenpflanze, ein unschätzbarer Vorrat an Zucker, ätherischen Ölen, Zellulose und vielen anderen Grundstoffen, war verschwunden. Da aber alle Pflanzen im botanischen Garten chemisch versiegelt waren, war es den Polizeimenschen ein Leichtes, die Spur bis zu den Verbrechern zu verfolgen.
[ 6]Jetzt sass die Bande da vorne auf der Anklagebank. Ein Mannmensch, ein Fraumensch, ein Viertelmannmensch und ein Halbfraumensch. Daneben zwei Gestalten, bei deren Anblick einem das Grauen überfiel. Ein längst abgelaufenes Menschenpaar von mindestens 60 Jahren, also seit 20 Jahren überfällig! So sahen also Verbrecher aus: Haare auf dem Kopf, beim Mannmenschen auch im Gesicht. Statt der praktischen, perlgrauen zweiten Haut trugen sie bunte, formlose Stoffe. Die Fraumenschen hatten sich sogar nur Tücher um die Hüfte gewickelt, die von den Knien abwärts nackte Beine sehen liessen. Hätte mir das jemand erzählt, ich würde es nicht glauben wollen. Obwohl mich beim Anblick der lächerlichen Gestalten schauderte, musste ich mich zwingen, den Blick von den nackten Beinen des Halbfraumenschen loszureissen. Bei deren Anblick befiehl mich ein merkwürdiges Ziehen zwischen den Beinen, das mir äusserst unangenehm war.
[ 6]Der Ankläger, ein V16-Kunstmensch, hatte heute leichtes Spiel. Die Liste der Verbrechen war endlos lang und wurde von den Angeklagten in keinem Punkt widerstritten. Hier nur ein Auszug:

Absonderung einer Menschengruppe in unbeaufsichtigten Räumen.
Bewegen im öffentlichen Raum ohne Meldung.
Tötung einer Tannenpflanze und Diebstahl derselben.
Entwendung von Grundstoffen wie Wachs, Früchte (Äpfel, Nüsse), Signalisationsbändern usw.
Herstellung von Brandfackeln mittels gestohlenem Wachs und Wollefasern.
Tötung eines Truthahntieres im städtischen Zoo und Diebstahl desselben.
Entzünden von offenem Feuer, erschwerend noch auf der brandgefährdeten Tannenpflanze.
Verhöhnung der getöteten Tannenpflanze durch schmücken mit Bändern, Früchten und Brandfackeln.
Kannibalismus, verübt an einem Truthahntier.
Befolgung von Riten verbotener Gemeinschaften.
Verstecken von abgelaufenen Menschen. (Von den Angeklagten als Oma und Opa bezeichnet.)

[ 6]Die Verteidigung war zu bedauern. Mit Hilfe eines überalterten V3-Kunstmenschen, Spezialgebiet Geschichte, versuchte sie, bei der Jury Mitleid mit den Angeklagten zu erwecken. Angeblich soll jeden 359. Tag des Jahres – nach alter Zeitrechnung am 24. Dezember – die Geburt eines Propheten gefeiert worden sein, der sich als Sohn eines Gottes bezeichnete und deshalb von den Barbaren an zwei gekreuzte Holzstücke genagelt wurde. Die irre geleiteten Angeklagten hätten ein altes Buch mit Namen „Die Bibel“ gefunden. Nachdem sie es irgendwie geschafft hätten, die Hieroglyphen zu entziffern, seien sie durch dessen gefährlichen Inhalt geblendet worden. Dies sei ja der Grund, weshalb Bücher seit dem Jahre 100 verboten seien. Es sei unverzeihlich, dass die Polizeimenschen ein Buch übersehen hätten.
[ 6]Mit dieser verrückten Geschichte erzielte der Verteidiger einen Lacherfolg und der Geschichte- Kunstmensch wurde unverzüglich verschrottet. Die Anklage wurde um den Besitz verbotener Schriften und Götzenanbetung ergänzt.
[ 6]Das Gericht erklärte die Angeklagten als schuldig in sämtlichen Punkten der Anklage. Sie wurden unverzüglich entsorgt. Mich verfolgt seit der Verhandlung ein furchtbares Trauma. Nachts sehe ich die nackten Beine des Halbfraumenschen und ihr Gesicht unter dem Haarvorhang. Jedes mal befällt mich dann wieder diese eigenartig unangenehme Hitze zwischen den Schenkeln.
 
Zum Gruseln

Hallo Rodolfo,

lebendig und bildhaft geschrieben, man kann sich diese Gerichtsszene plastisch vorstellen.

Nur eine Kleinigkeit: Der Beobachter weiß offenbar nicht, ob er Mann ist, Halbmann (Was immer das sein mag in deiner Geschichte) oder Kunstmensch. Wieso eigentlich? Irgendwie müssen sich deine Zukunftswesen ja auch vermehren. Da sollte man eigentlich schon wissen, ob man Männlein oder Weiblein ist!

Grüße
Marlene
 

Rodolfo

Mitglied
Re: Zum Gruseln

Hi Marlene

Das wissen doch manche heute schon nicht, oder?

In einer so unpersönlichen, kontrollierten Welt wird es vermutlich genügend Vermehrungsmöglichkeiten geben, ohne das schwer kontrollierbare und unerwünschte Lustgefühle erzeugende Kopulieren. Klonen, Eizellenentnahme mit künstlicher Befruchtung und ähnliche Schreckgespenster mehr.

Und wie soll der arme Mann? oder Halbmann? in solcher Atmosphäre noch wissen, was er denn nun genau ist?

Soviel möchte ich offen lassen, sonst wird noch ein Roman daraus und ich hab's nicht so mit SF.

Der Rest lässt sich einfach erklären: Viertelmensch = Kleinkind, Halbmensch = Jugendlicher etc.

Also, ich lebe doch lieber heute.


Saluti: Rodolfo
 

Rodolfo

Mitglied
hm...

Ciao Stephanie

Habe mir Deinen Tipp überlegt, bin aber manchmal ein bisschen bösartig: Ich habe oft meine liebe Mühe, mich in die verrückten SF- Stories einzudenken. Lebt der Protagonist jetzt auf dem Mond, der Erde oder einem bis heute unentdeckten Planeten? Ist das jetzt ein Mensch oder ein Roboter? Ist der und der Typ mit dem und dem Namen ein Erdmensch oder sonst ein Weltraumviech?

Da dies meine erste und vermutlich letzte SF- Story ist, räche ich mich hiermit an allen Futuristen, indem ich sie selber grübeln lasse.

Denk mal statt Denkmal.

Tutto il bene: Rodolfo
 

sirprise

Mitglied
schreckliche zukunft...

hallo rodolfo,

schreckliche zukunft - tolle story !

besonders die hitze zwischen seinen beinen am ende der geschichte, trägt zur gelungenen auflösung des ganzen bei.

schön das du dich "gerächt" hast! *schmunzel

lieben gruß aus krefeld

S.
 
S

Stoffel

Gast
moin Rodolfo,
ist kurz und bündig geschrieben, gefällt mir im Grunde gut. So ein kleiner Auszug aus diesem Leben. Wobei natürlich als SF-Fan ich eher auf sowas wie "Androiden" stehe.*lach*
Und sicher ist in meiner Zukunft nicht von "Polizeimenschen" die Rede. Aber egal.
Den Schluss find ich recht witzig. Obwohl natürlich auch ich daran dachte, dass ja es noch Mann und Frau geben muss.

lG
Stoffel
 

Gandl

Mitglied
Hi Rodolfo,
na, jetzt weiß ich, warum du meinen Text so gut verstehen konntest.
Klasse Geschichte!
Frohe Weihnachten
Gandl
(überalteter - und daher zu verschrottender - V3)
 



 
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