Das weiße Einhorn

sica

Mitglied
DAS WEISSE EINHORN


Ich denke oft an unser Einhorn. Nie werde ich den Augenblick vergessen, in dem ich es zum ersten Mal sah. Wir ließen gerade unseren Drachen steigen, als der Regen und der Hagel so plötzlich über uns kamen, dass meine Schwester und ich einfach losrannten und gar nicht mehr daran dachten, dass die alte Scheune auf dem Feld voll von Gespenstern und Ungeheuern war. Sogar unseren Lieblingsdrachen ließen wir unbeachtet auf dem Boden liegen und liefen davon, so erschrocken waren wir über das plötzliche Gewitter.
Wir kamen nicht oft auf das große Feld mit der Scheune, nur manchmal, wenn wir ganz lieb waren, oder zu der Weihnachtszeit, durften wir das Wochenende bei unseren Großeltern verbringen. Wir nahmen dann immer unseren schönsten Drachen mit und ließen ihn so lange steigen, bis es dunkel wurde und wir heim mussten, aber das machte nichts, wir konnten den Drachen dann sowieso nicht mehr erkennen.
In der Woche waren wir ganz lieb gewesen, und meine Schwester und ich freuten uns so sehr auf das Wochenende, dass wir die Nächte davor kaum einschlafen konnten, weil wir schon so lange nicht mehr dort waren. Schon ganz früh Morgens standen wir auf, um endlich loszufahren, und nur ein paar Stunden später standen wir auf dem großen Feld mit der Scheune und freuten uns auf den schönen Tag. Doch dann kam der Regen und der Hagel und auf einmal fanden wir uns direkt vor der Scheune wieder, und weil wir nicht an die vielen Spukgeschichten dachten, öffneten wir schnell die Tür und traten ein. Erst als wir mitten in der Scheune standen, der Regen gegen die Wände peitschte und wir uns vor dem Unwetter nicht mehr zu fürchten brauchten, erinnerten wir uns wieder an die Gespenster und Ungeheuer.
„Siehst du etwas?“, fragte mich meine Schwester. „Nein. Du etwa?“ Sie schüttelte den Kopf.
Ein komisches Geräusch kam auf einmal aus einer Ecke hinter den großen Strohballen. „Aber Gespenster kann man ja auch gar nicht sehen. Sie sind doch unsichtbar.“ – „Kann man wohl!“, sagte ich, „sonst würden sich die Leute doch nicht vor ihnen fürchten.“ Das Geräusch kam langsam näher.
„Und wenn es uns einfach aufessen will?“, fragte meine Schwester leicht weinerlich. „Es hat bestimmt schon seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen.“ – „Bist du doof.“ Ich zeigte ihr einen Vogel. „Es wird uns gar nicht essen wollen, weil Kinderfleisch immer ganz zäh schmeckt, das weiß doch nun wirklich jeder.“ Manchmal war meine Schwester wirklich dumm. „Psst!“, befahl ich dann leise, um besser lauschen zu können. Das Geräusch kam nun direkt hinter dem Strohballen nur wenige Meter vor uns heraus. Ich finde, ich war sehr mutig, als ich kurzentschlossen einmal kräftig gegen den Strohballen trat, um endlich festzustellen, ob man Gespenster wirklich nicht sehen konnte. Doch was ich dann vor mir sah, übertraf all meine Phantasie. Ich stand einfach nur da und blickte es mit offenem Mund an. Meine Schwester stieß einen schrillen Schrei aus, denn sie hatte nicht damit gerechnet, ein Einhorn zu sehen. Aber auch sonst schrie sie ziemlich häufig, und dazu bedurfte es in der Regel keine Einhörner. Ich glaube aber, das Einhorn war nicht so an die Schreie meiner Schwester gewöhnt wie ich, denn nur wenige Augenblicke später stand es wieder hinter seinen Strohballen und lugte mit großen Augen ab und zu hervor.
„Zu...zumindest ist es kein Gespenst.“ – „Und kein Ungeheuer“, ergänze ich. „Und es will und auch bestimmt nicht aufessen. Auch nicht, wenn wir ganz lecker schmecken würden.“
Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir einfach nur dastanden und zum großen Strohballen blickten. Es hätten Sekunden sein können, Minuten oder auch Stunden. Das Einhorn lugte immer wieder für ein paar Momente hinter den Ballen hervor und irgendwann schien es wohl verstanden zu haben, dass wir es auch nicht aufessen wollen. Außerdem würden Einhörner bestimmt auch ganz zäh schmecken. Meine Schwester schrie jetzt nicht mehr, als es langsam näher kam und uns mit seinen großen runden Augen anschaute. Ich habe noch nie in meinem Leben so etwas Schönes gesehen. Es war schöner, als alles, was es auf der Welt gibt und ich hätte sofort alle meine Spielsachen verschenkt, nur um es noch weiter sehen zu können. „Das stimmt nicht, Benny“, sagte meine Schwester, „deine doofen Autos hättest du nie verschenkt.“ Aber das hätte ich wohl! Und meine Zinnsoldaten gleich dazu. Doch das Einhorn wollte ja auch gar nicht, dass ich alles verschenke, statt dessen kam es langsam auf uns zugetrabt und streckte uns seinen weißen Kopf entgegen, damit wir es streicheln konnten.
Von dem Moment an kamen wir so oft es uns gelang zu unserem Einhorn und brachten ihm immer ein paar Geschenke mit, über die es sich manchmal so sehr freute, dass es uns von oben bis unten abschleckte und mit seinem Horn kraulte. Seine Augen glänzten dann immer besonders hell und es wieherte so glockenklar dazu, dass meiner Schwester vor Glück die Tränen in die Augen stiegen. Einmal, als ich ihm eine ganz besondere Freude machen wollte, verkaufte ich sogar meine Eisenbahn für unser Einhorn. Na gut, es waren nicht die Autos und auch nicht die Zinnsoldaten. Aber die Eisenbahn habe ich auch schon sehr gemocht.
Mittlerweile durften meine Schwester und ich jede Woche zu dem großen Feld mit der alten Scheune und dem Einhorn drin, weil wir jede Woche so lieb waren, dass unsere Eltern gar nicht anders konnten, als uns hinzulassen. Naja, eigentlich war das gar nicht mehr schwer mit dem Lieb-sein. Wir mussten einfach nur an unser Einhorn denken – da konnten und gar keine bösen Gedanken mehr kommen.
Eines Tages, es war der 25.Mai, besuchten wir wieder einmal unser Einhorn. Wir hatten ihm auch ein paar schöne Geschenke mitgebracht, Glasperlen zum Beispiel, die mochte es besonders gern. Doch dieses Mal schien es sich überhaupt nicht zu freuen. „Was ist mit ihm los?“, meine Stimme klang leicht ratlos. „Vielleicht ist er ja krank“, antwortete meine Schwester. Doch er war nicht krank. Tränen standen in seinen Augen, als es uns traurig anblickte und sein Horn noch einmal an unserer Schulter rieb.
Diesen Tag blieben wir lange bei ihm, wir konnten einfach nicht gehen, etwas hielt und zurück, etwas, das uns sagte, dass wir es für immer bereuen würden, wenn wir jetzt gingen, obwohl meine Schwester mehr weinte als unser Einhorn. Meine Schwester weint zwar ziemlich oft, aber normalerweise ist das mit einem Plärren verbunden, der den Wunsch in einem aufkeimen läßt, sie auf der Stelle aufzuessen, egal ob zäh oder nicht. Doch an diesem Tag plärrte sie nicht, statt dessen weinte sie ganz still vor sich hin. Es war sehr spät, als das Einhorn wieder aufstand, sich schüttelte und uns zum letzten Mal voller Liebe in seinen Augen ansah. Dann trabte es langsam zum Ausgang der Scheune und wartet darauf, dass wir ihm folgen würden. Die Sterne schienen sehr hell diese Nacht. Die Augen unseres Einhorns glitzerten im Licht des Mondes schöner, als wir es bisher je gesehen hatten und mit einem Mal hob es sich vom Boden ab und flog gen Himmel. Meine Schwester und ich konnten kaum glauben, was wir da sahen. Der Punkt am Himmel wurde immer kleiner und kleiner, so klein, dass wir ihm fast nicht mehr erkennen konnte, doch verloren wir ihn nie aus den Augen. Als der Punkt schon sehr lange unterwegs war, ward der Himmel für einen kurzen Moment blendend hell und dort, wo eben noch unser Einhorn flog, war ein neuer Stern zu sehen.
Manchmal, wenn wir nachts nicht schlafen können, dann stellen wir uns an unser Fenster und blicken hinaus in die klare Sternennacht. Und es scheint, als würde der hellsten Stern uns einen Moment lag zuzwinkern.
 

Criss Jordan

Mitglied
Schnüff

Das ist eine traumhaft schöne Geschichte. Sie fordert geradezu dazu heraus, nach einem eigenen Einhorn zu suchen...
Ich werd mal losgehen... bestimmt entdeck ich auch eins!

Criss
(ähm, ach ja, frag dich nich von wo die "Zehn" kommt... *meld* von mir!)
 

sica

Mitglied
Danke, es freut mich wirklich, dass es dir gefällt. Ich schreibe normalerweise eigentlich gar nicht so oft Kindergeschichten, aber es ist schön zu hören, dass sich der "Ausrutscher" gelohnt hat :)
 

hera

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo sica!

Ein "Ausrutscher", oh je!
Meine Tochter(8)möchte sich jedenfalls für die schöne Geschichte bedanken, wenn sie auch zum Schluss etwas traurig ist. Sie hat ihr gut gefallen.

Tschüssie, hera
 



 
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