Das Zimtmädchen

G. Neville

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Nach Mitternacht. Ich liege rücklings zwischen alten Mülltonnen auf dem Boden und betrachte den gewaltigen Sternenhimmel. Krampfhaft versuche ich darüber nachzudenken wie ich hierher kam. Da war jenes Zimtmädchen, das mir unbedingt sein Zuhause zeigen wollte und beständig wie eine Motte dem grellen Licht folgte ich der jungen Frau. Die Wohnung befand sich auf dem Dachboden eines alten Hauses. Eine gewaltige schindelgedeckte Mansarde. Eine richtige Vogelherberge.

„Ich muss ihnen meinen Vater zeigen“, mit diesen Worten deutete das Zimtmädchen mit ihrer Hand zu einem der Fenster hinauf. Oben auf der Vorhangstange saß ihr Vater.

„Er liebt die Vogelperspektive, müssen sie wissen.“
„Tatsächlich? Warum denn das?“
„Er fühlt sich eben einfach wohl da oben“, war ihre schlichte Antwort.

Ich hatte plötzlich das merkwürdige Gefühl in einer zoologischen Station zu sein. Überall Vogelnester, Ketten, Kugeln und Hängelampen. Eierschalen lagen verstreut, dazwischen wahre Scheusale an Gestalt und Gefieder. Aus ihren Nestern reckte diese Drachenbrut auf dünnen Hälsen die blinden, mit dünnem Flaum bedeckten Köpfe. Lautlos quakend aus stummen Kehlen.

"Mein Vater ist Ornithologe müssen sie wissen, aber seit dem er pensioniert wurde, ist er ein bisschen seltsam geworden. Er hat viele ornithologische Fachenzyklopädien geschrieben und er genießt immer noch ein sehr hohes Ansehen in der gesamten Fachwelt. Allerdings kann er in diesem Zustand natürlich keine Vorträge mehr halten, so wie er das früher gern getan hat.“

„Bedauerlich. Ich nehme an der Grund dafür könnte sein, dass er sich früher sosehr mit seinem Beruf identifiziert hat, sodass er schließlich selbst zum geflügelten Wesen wurde. Jede Tätigkeit formt eben den Menschen, wie es so schön heißt. Kann schon mal passieren, ist aber kein Beinbruch. Ich kenne zum Beispiel einen Chirurgen der zum Skalpell geworden ist, jetzt liegt er in einer blechernen Schublade herum.“

Ein Dienstmädchen trat ein und bewegte mit jungen und kühnen Bewegungen einen Besen am langen Stiel über den Fußboden. Mit ihren ungestümen Bewegungen, wirbelte sie, so weit ich mich erinnere die Luft mit dermaßen viel Staub auf, bis mir schließlich ganz schwarz vor Augen wurde. Das Nächste was ich dann sah, war eine riesige ägyptische Gottheit, die mich aus tiefen Augenhöhlen heraus neugierig musterte. Mit einem sehnsuchtsvollen Schmachten um ihre Lippen seufzte sie „Bringt ihn weg.“

Und nun liege ich also in diesem Hinterhof auf ungemütlichen kalten und feuchten Boden. Über mir glitzernder Sternenhimmel und um mich herum verstreut duftende Zimtstangen.
 
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