Zur umgekehrten Reihenfolge: Es gibt keine logischen Grund, warum ich es umgekehrt (also anfangend bei "Vergessen" "richtiger" empfinde – es ist eben so. Vielleicht weil es im Leben oft so ist, dass man mit einer Erkenntnis/einem Gedanken anfängt (Mist, schon wieder vergessen, Oma zu besuchen!) und daran eine Gedanken-/Erinnerungskette anschließt. Oder weil es eine "schönere" literarische Spannung ergibt, wenn man mit einem Ergebnis anfängt und dann erzählt, wie es dazu kam. Oder … (Aber einfach nur die Zeilen von unten nach oben lesen reicht nicht, das hakt es doch zu sehr – dieser {schönere} Schuh drückt dann doch zu sehr.)
Verse … Die Strophen und der Rhythmus erzeugen eine Art Lied, eine Leichtigkeit und einen Abstand (wie bei Bänkelliedern, wo man aus sicherem Abstand wohlige Schauer über das Grauen der anderen spürt). Zugleich sind die Worte und Inhalte so gnadenlos direkt und über-präzise (sich winden, herausprusten, aufheulen, gellen, reißen …) dass man förmlich mit der Nase aufs Geschehen gepresst wird – keine Chance, es wohltuend verschwommen und milder interpretierbar wahrzunehmen.
[ 3]Wenn der Effekt des "passt nicht" Absicht war, dann ist das traumwandlerisch gut gelungen und findet meine Anerkennung. Der "Künstler" in mir nickt hochachtungsvoll. Aber schmecken tut dem "Leser" das Gericht trotzdem nicht. So wir mir z. B. Fenchel nicht schmeckt, obwohl ich weiß, dass er genial u. a. zu Fisch ist.
Ich habe beim Schreiben des Komms zuerst wirklich erstmal innerlich die Augen verleiert über die Verse (so oft wird Prosa einfach zerhackt und dann als Lyrik verkauft). Bei der Suche nach Gründen, warum es mich hier stört (und zwar mehr als sonst), ist mir diese Diskrepanz bewusst geworden und vor allem der Strophenende-Effekt. Das fand ich recht interessant. Ich habe schließlich eine "Botschaft"/einen Inhalt rausgelesen, die/den ich vorher nicht sah. Sehr spannend und lehrreich.
[ 3]Dieser Inhalt ist: Eigentlich erinnert man sich doch daran, was man(!) erlebt hat, das Zentrum der Erinnerung ist also das Ich. In den Strophenenden wird es hier zur Nebensache "vertont". So, als würde "ich" sich nicht wirklich erinnern wollen an das, was es damals fühlte. Oder als würde es heute Empfindungen damit verbinden, die unangenehm sind (manchmal erkennt man ja erst im Nachhein das "Schlimme").
[ 3]Dadurch klingt das Ganze recht bitter und gleichzeitig so, als würde die Bitterkeit beiseit gewischt und durch Gleichgültigkeit (oder "ist vorbei") ersetzt werden sollen. Wenn das so Absicht war, dann ist es gut gemacht, Respekt. Zugleich klingt es aber, als sei es noch Prozess, als fände dieser Austausch noch statt. Der Autor (und ich sage bewusst nicht das LyrIch) scheint damit noch nicht fertig (ob es nun genau diese Situation ist, die noch zu verarbeiten ist oder sie für etwas anderes steht, weiß ich nicht, und es ist auch egal). Er – der Autor – scheint noch immer das Ganze von seinem Innern fernhalten zu müssen und das führt dazu, dass er es auch vom Innern des Lesers fern hält. Darum, glaub ich, erkennt mein Kopf zwar das gut Gemachte, mein Herz/Bauch findet aber keine Beziehung dazu (höchstens die des "es kratzt und beißt etwas").
[ 3]Auch die "verkehrte Reihenfolge" ergibt unter diesen Aspekt Sinn: Hätte der Autor/das LyrIch mit dem Thema abgeschlossen, würde ein Reiz kurz die Erinnerung wecken und gut. So sieht es aber aus, als wäre die Erinnerung immer da und würde (permanent) die Handlungen/Entscheidungen bestimmen. Wenn nämlich "ich vergesse" Ergebnis des Textes (der Erinnerung) ist, ist das was anderes als wenn es der Auslöser für den Text ist.
Das ist es, was ich rauslese, mir "raus erarbeitet" habe beim Nachdenken über die Wirkung des Textes auf mich. Ob es stimmt – keine Ahnung. Kann natürlich sein, dass der Autor dieses Strukturen mit ganz anderem Ziel gebaut hat und diese Wirkung zufällig entsteht (dann ist – zumindest wenn ich als Leser-Maßstab gelten würde – was schief gegangen). Kann auch sein, dass er das gar nicht "gebaut" hat, dann hat sich vielleicht was Unbewusstes Bahn gebrochen (oder es wieder nur Zufall). Oder es war genau so gewollt – dann kann es immer noch (theoretisch) vollständig fiktiv sein.