dem sommer fällt die letzte turteltaube

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Walther

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dem sommer fällt die letzte turteltaube
aus seinem haar denn jetzt ist aus die laube
als ich in meinen alten reimen klaube
& dabei diesen frechen text entstaube

vergisst die muse dass ich ihr sie raube
den letzten sonnenstrahl in meine gaube
der frühen jugend frischer hoffnungsglaube
die täuschung ist für blinde & für taube

der neue wein in billigen kaschemmen
bei blasmusik gemeinsam sich enthemmen
bis von der völlerei die gürtel klemmen

ist nichts als gegen den verfall sich stemmen
der herbst wird es vernebeln überschwemmen
der winter zeichnet auf den scheiben gemmen
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es ist ein Sonett, das alte Wörter (und landschaftliche) aufleben lässt.

Durch Walthers Schreibweise wird man gezwungen, es sehr langsam zu lesen und manchmal zurückzuspringen, das Gedicht verliert seine Linearität und wird mehrdimensional, labyrinthisch.
Wie bei Shakespeare oft (ich habe grade einige seiner Sonette gelesen) ist das Hauptthema die Zeit, hier die Jahreszeit in ihrem Werden und Vergehen.

Enthemmen - ist ein kritisches Wort, Blasmusik hebt das Volkstümliche, oder das Volkstümelnde hervor.

"Neuer Wein" kommt in "alte Säcke" (billige Kaschemmen symbolisieren es).
Alt bedeutet im Gedicht nicht "alt", sondern "vergangen", "von früher".

Der Winter deutet sich an, und damit wird es philosophisch, das Gedicht zur Metapher für das Leben selbst. Ist es vergeudetes Leben? Nein. Auch wenn es so aussehen mag. Die Wortwahl kritisiert und achtet/akzeptiert zugleich.

Winter: Symbol für den Tod und das Überleben in den Nachkommen.
 

Label

Mitglied
Lieber Walther

ich fürchte nur, es ist kein Aberglaube, der Lebensherbst zwingt jeden unter seine Haube. Und dreht man noch so an der Jugendschraube, am Ende sehen es auch dafür taube.

gefällt mir dein Gedicht, besonders das Thema, auf dem ich zur Zeit auch herumdenke und dichte

Die vielen au au geben deinem Gedicht in meinen Augen eine heitere Note, den Lebensherbst so bunt anzunehmen wie sich der jährliche auch gestaltet.

sehr gut gefällt mir
der winter zeichnet auf den scheiben gemmen

gemmen sind kostbarkeiten

Lieber Gruß
Label
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
An das Wort "Gemmen" kann ich mich über das Buch "Der Golem" erinnern. Dort wurden Gemmen geschnitzt, wenn ich mich nicht täusche.

Der Zwielaut "au" hat auch bei mir einen Eindruck des Laubbunten gemacht.
 

Walther

Mitglied
hallo bernd,

danke für deine ausführliche besprechung. in der tat gratwandert das sonett am abgrund das epischen themas herbst entlang. dabei zieht es die ganze bilderwelt und das metaphernuniversum mit sich. es ist ein wunder, wenn es dabei sich weder schneidet noch abstürzt.

der text wackelt natürlich in seinem lauf - daher kann er nicht lineal geschrieben sein. der mögliche fehltritt ist teil des programm und des stils - man darf sich fragen, ob dieses gedicht anders "geschrieben" werden könnte und dann ähnlich wirken.

in der tat sind die säcke alt - auch die täubchen sind es, die kaum flattern können. und schön getrunken ist welt einfach reizvoller, möchte man meinen. der neue wein ist dabei ebenso süß wie "räs" wie hundsgefährlich.

und philosophieren darf ein sonett immer - auch und gerade über die zeit.

lg w.
 

Walther

Mitglied
lb label,

danke, daß du den nicht so offensichtlichen elementen des texts nachgegangen bist. der text ist in der draufsicht wesentlich "einfacher", als er es im grunde seiner bilder sein soll.

das mit den "gemmen" habe ich mir als krönenden abschluß einfallen lassen. schön, daß du die "kostbarkeit" gefunden hat! :)

lg w.
 



 
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