Demut

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Frodomir

Mitglied
Hallo Ubertas,

ich muss dieses Mal zugeben, dass ich bezüglich einer Interpretation deines Gedichtes etwas auf dem Schlauch stehe. Ich frage mich vor allem: Wer sind sie? Die Wortwahl, also Posten, Splitter und tot, deutet auf ein Antikriegsgedicht hin, also wären sie eventuell Soldaten.
Der letzte Vers impliziert, dass die eventuellen Soldaten bereits wissen, dass sie sterben werden, aber wie kann man Splitter aus dem eigenen Körper waschen? Selbst, wenn das als Metapher gemeint ist und es sich gar nicht um Soldaten handeln würde, wäre die Metapher aber dann ein bisschen unlogisch.

Vers 4 kann ich nicht anders lesen als derart, dass die Splitter wie Spiegel zu funktionieren scheinen. Aber müsste es dann nicht wider statt wieder heißen?

Das Gedicht ist angesichts der gewählten Metaphern kurz, vielleicht zu kurz, und kann deshalb bei mir leider keine richtige Wirkung entfalten. Es könnte aber auch sein, dass ich es nicht richtig verstehe und mich vielleicht eine andere Perspektive den Zugang zum Text finden lässt.

Liebe Grüße
Frodomir
 

Ubertas

Mitglied
Lieber Önder, lieber Frodomir,
Euch beiden einen ganz lieben Dank fürs Lesen, Sternvergabe und Eindrücke. Ich freue mich sehr darüber:)

Lieber Frodomir, ich danke dir für deine detaillierte Auseinandersetzung mit meinen Zeilen. Deine Worte haben mich zum Nachdenken angeregt und ich muss ehrlich zugeben, es ist wesentlich schwieriger, sein eigenes Gedicht aufschlüsseln zu wollen als selbst eine Interpretation für ein anderes Gedicht zu verfassen. Ich hoffe, dir einen Einblick in mein Gedankensammelsurium, das mich beim Schreiben immer begleitet, geben zu können. Ich versuche es :) - ob es logischer wird, bleibt abzuwarten.
Du hast vollkommen richtig erkannt, das Ganze lässt sich als Antikriegsgedicht lesen. Das impliziert auch meine Wortwahl. Auf einer Ebene ist es das auch. Die Frage nach dem "Wer sind sie?" wollte ich bewusst offen lassen, ich glaube, das kann nur die Wahrnehmung des Lesenden entscheiden.
Auf verlorenen Posten kann man einerseits im Krieg stehen, aber auch fernab von Schlachtfeldern, auf den eigenen Schlachtfeldern des Lebens. Festzustecken in einer verfahrenen Situation, die nichts hergibt außer dem Gefühl, sich wirklich verloren zu fühlen, zu glauben, man hätte sich tausendmal gedreht und kein gewählter Weg weist in eine neue Richtung. Ich meine hier das Gefühl von Auswegslosigkeit. Daher habe ich auch bewusst zwischen Zeile 2 und 3 etwas Luft gelassen. "waschen sie sich" könnte auch ein sich rein waschen sein. Die Last von sich nehmen zu wollen, sich nicht schuldig fühlen zu müssen oder auch wiederum vergeblich zu versuchen, der Situation zu entrinnen. Doch es sind nur Splitter, die ausgewaschen werden. Darin sehe ich die Zerbrechlichkeit des Einzelnen, der Splitter oder ich nenne es, Wunden zufügt und selbst davonträgt, in dem unerbittlichen Kampf, einer "Demut" Folge zu leisten, die keine sein kann, sobald man trotz Hingabe für ein Ideal oder für einen idealen Zustand bereit ist, über Leichen zu gehen. Dann wird aus Demut, aus tiefster (subjektiver) Überzeugung, einem guten Ziel zu folgen oder zu dienen, eines: Demütigung.
Demütigung des anderen, der genauso fragil ist, zerstörbar ist und mit gleichen guten Ansichten in eine ebensolche Entscheidung findet.
"sehen sich in ihnen wieder" hast du wunderbar beschrieben als Spiegelfunktion. Das freut mich zutiefst, dass du es als diese erkannt hast. Das ist toll!
Es ist doppeldeutig. Sehen sie sich nur selbst in diesen Verwundungen/Splittern wieder oder sehen sie einander wieder? Als das, was sie sind? Als unbewaffnete Menschen, die sich in ihrem Inneren nicht Feind sein wollten oder in einem anderen Zusammenhang sogar als Freunde wiedersehen, wiederfinden könnten?
Die letzte Verszeile "Längst sind sie tot", hierin sah ich den Schlüssel, dass der Zeitpunkt der Erkenntnis, des Begreifens des Wieder-Sehens, zu einer Zeit auftaucht, die hinter jeder Bemühung liegt. Du hast ganz richtig erkannt:

Der letzte Vers impliziert, dass die eventuellen Soldaten bereits wissen, dass sie sterben werden, aber wie kann man Splitter aus dem eigenen Körper waschen?
Es mag ihnen (denen man damit eine Stimme gibt), zwar der physische Tod als Konsequenz bewusst sein, als begangenes Risiko. Was für mich in dieser letzten Zeile steckt, ist wahrscheinlich am schwierigsten aus meinen Gedanken herausholen. Einerseits ein "Totsein" im Sinne des Verlustes von Emotion, Traumatisierung, Sprachlosigkeit, andererseits ein "längst sind sie tot" als Zeichen der Vergänglichkeit all der mühsehlig gewählten Formen, mehr zu sein, stärker, größer, in einer Handlungsweise, die nur eines widerspiegelt: Die Ironie des in Wahrheit sinnlosen Kampfes. Worüber man sprechen wird? Über Erfolge, nicht über Verlust.
Und du hast absolut Recht: Nicht jeder Splitter lässt sich auswaschen, es bleibt nur die Frage, wie gehen wir mit ihm um? Lassen wir ihn verkapselt in uns, legen wir die Hand in die Splitter anderer oder erkennen wir, das nichts von uns wächst, je länger wir den Pfad des Krieges beschreiten, nach außen und mit uns, in uns selbst? Wir werden längst tot sein damit und wiederkehren in gleicher Rüstung.
Hinsichtlich der Tatsache, dass mein Gedicht wirklich zu kurz ist, stehen hier jetzt ziemlich viele Zeilen:)
Manchmal steckt ein Teil des Gedichtes wohl noch im Kopf des Dichters. Irgendwie.
Danke lieber Frodomir, dass du meine Gedanken wachgerüttelt hast!

Liebe Grüße an Euch,
ubertas
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Ubertas,

vielen Dank für deine Antwort und deine Erklärungen zu deinem Gedicht. Ich habe mir das so in der Richtung schon gedacht und ging davon aus, dass die Wörter aus dem Wortfeld Krieg eher Metaphern darstellen.

Deine Erklärung spricht für deine tiefgehende Beschäftigung mit dem Thema des zwischenmenschlich zugefügten Leides und der Suche nach Heilungswegen. Bezüglich des Gedichtes stellt sich aber die Frage, ob dieses diesen Inhalt und vor allem auch diese Emotionen auch vermitteln kann. Und zumindest bei mir funktioniert das, auch wenn ich nun deine Erklärung zu diesem Gedicht vorliegen habe, leider nicht. Ich finde es tatsächlich zu kurz und zu sehr im Abstrakten bleibend, um einen tiefergehend Zugangsweg zu finden. Wenn du also sagst: Manchmal steckt ein Teil des Gedichtes wohl noch im Kopf des Dichters., dann würde ich da in diesem Falle zustimmen.

Die maximale Verdichtung, die dein so hervorragendes Gedicht so einsam sind die schlüsselblumen ausgezeichnet hat, wird dir hier meiner Meinung nach leider zum Verhängnis, weil aus der Verdichtung ein Weglassen von Wesentlichem geworden ist.
Und weiterhin lese ich hier im Forum in letzter Zeit sehr oft die Aussage, dass der Autor gewisse Worte, Zeilen oder sogar das ganze Werk bewusst offen gelassen hat, um dem Leser seinen Interpretationsfreiraum zu geben. Ich möchte dahingehend zu bedenken geben, dass dabei die Grenze zur Beliebigkeit verschwimmen kann und die Kunst doch eher darin liegt, genau zu wissen, wen oder was welches Wort meint und gewissermaßen dennoch dem Leser nichts aufzuzwingen. In deinem Gedicht wäre dafür beispielhaft das Pronomen sie. Freilich ist es die höchste Kunst, dass dieses Personalpronomen in verschiedene Richtungen deutbar wäre, aber dafür braucht es eben auch einen Kontext, in dem das möglich ist.
Bei deinem schon erwähnten Meisterwerk gibt es auch verschiedene unklare Personenzuweisungen, ich habe sie mal markiert:

lass mir den saum
vom ufer
den lauf
den stand
der böschung
schilf
und pfützen
seiner kleider
ihre briefe
nichts mehr
nun
nichts mehr
nichts
nur alte
die auf händen
kinder tragen zum bach


Der Unterschied zum Gedicht Demut besteht aber darin, dass es erstens mehrer Personen gibt, also ein Beziehungskontext entsteht und zweitens, dass ich als Leser durch die Textlogik und die dadurch entstehende Kohärenz meine Fantasie bezüglich der Personen in einem Kontext entwickeln kann, den du als Lyrikerin aber vorgegeben hast. Beim Gedicht Demut hast du natürlich auch einen Rahmen, in dem sich die Vorstellungskraft entfalten kann, vorgegeben, aber weil er nicht stringend genug ist und in seiner Kürze mehr weglässt, als dass er verdichtet, verläuft die Fantasie eher ins Leere und wird zu beliebig.

Ich hoffe, du kannst mit meiner Kritik etwas anfangen und wünsche dir noch einen schönen Abend.

Liebe Grüße
Frodomir
 
Zuletzt bearbeitet:

Ubertas

Mitglied
Lieber Frodomir,
ich kann mit deiner konstruktiven Kritik viel anfangen und bin dir dankbar, dass du sie geäußert hast. Dafür, dass du dich so in das Gedicht, obwohl es dir Zweifel aufgibt, hineingefunden hast. Ich verstehe auch den Unterschied, den du mit dem Vergleich zum Schlüsselblumen-Gedicht herstellst. Danke dafür:)
Dieses Gedicht "Demut" will besprochen werden, darum stelle ich auch Gedichte ein. Ich gehe niemals davon aus, dass jedes geschriebene Wort von mir "gefeiert" wird. Deswegen stelle ich auch meine Nicht-"Meisterwerke" hier ein. Ohne Kenntnis von wirklichen Meisterwerken. In der Hoffnung, dass es a) gelesen wird b) bewertet wird auf eigene Art und Weise wie auch immer und c) einfach dastehen darf, mit aller Kritik hinsichtlich Zu- und Abgewandheit.
Verhängnis ist vielleicht ein zu großes Wort, es macht nichts, in Verhängnis zu sein.

Und weiterhin lese ich hier im Forum in letzter Zeit sehr oft die Aussage, dass der Autor gewisse Worte, Zeilen oder sogar das ganze Werk bewusst offen gelassen hat, um dem Leser seinen Interpretationsfreiraum zu geben. Ich möchte dahingehend zu bedenken geben, dass dabei die Grenze zur Beliebigkeit verschwimmen kann und die Kunst doch eher darin liegt, genau zu wissen, wen oder was welches Wort meint und gewissermaßen dennoch dem Leser nichts aufzuzwingen.
Dazu möchte ich noch etwas sagen. Ich glaube nicht, dass sich Grenzen der Beliebigkeit öffnen, egal wie sehr der Autor darauf Wert legt, einen offenen oder geschlossenen Raum für die Interpretation seines Gedichtes anzustreben (tut er es wirklich?), letztendlich bestimmt der Leser, ob es schwarz auf weiß steht oder nicht. Ich kann an dieser Stelle nur meine eigene Meinung vertreten. Kunst liegt für mich darin, in geschlossener, überschaubarer Form, in loser Form, in irgendeiner Form, zu existieren. Ob sie sich abbildet, dechiffrieren lässt, ist meiner Meinung nach zweitrangig. Genau zu wissen, was jedes Wort meint, erscheint mir als bergaufwärts rollende Eigenschaft.
Natürlich ist das eine Frage der inneren Einstellung. Aber ist es schlimm, wenn mich ein Gedicht zurücklässt, weil ich ihm keine Antwort geben kann? Nein. Oder Ja.
Es ist immer eine Entscheidung des Lesers, eine Frage der Erwartung. Ein gegebenes Wort ist natürlich hilfreich, wenn es nicht gegeben ist, ist es nicht weniger Kunst.
Ich bin schon vor Gemälden gestanden, die keiner Erklärung bedurften. Hieronymus Bosch ist ein Beispiel. Man sieht auf das Szenario und findet sich an irgendeinem Punkt. Ich muss mir dafür vorher nichts ausdenken, ich lasse mich hinein, fühle, sehe oder nicht. So ist es mit Gedichten, zumindest für mich. Es ist nicht wichtig, ihre Sprache zu sprechen, nur sich ihnen hingeben zu können. Dann öffnen sie Auge und Herz. Und manchmal bleiben sie verschlossenen.
So ist das. Und jetzt bin ich saumiad, lieber Frodomir:) Lass uns morgen weiterreden.
Deine Einschätzungen sind ehrlich.
Danke dafür und habe auch eine gute Nacht:),
bis bald und einen lieben Gruß zurück, ubertas
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Ubertas,

vielen Dank für deine erneute Antwort. Du schreibst:
In der Hoffnung, dass es a) gelesen wird b) bewertet wird auf eigene Art und Weise wie auch immer und c) einfach dastehen darf, mit aller Kritik hinsichtlich Zu- und Abgewandheit.
Jedes Gedicht hat normalerweise dem Autor Mühe gemacht und wenn er es anderen zeigt, ist das meiner Meinung nach gewissermaßen auch etwas Persönliches. Das geht mir ganz genau so, wenn ich einen Text ins Forum stelle oder einer anderen Person zeige. Wenn ich aber als Leser an einen Text herangehe, dann läuft das in etwa so ab wie beim Geschenkeauspacken. Ah, juhu, ein neuer Text, ich bin schon ganz gespannt. Und dann lese ich den Text und manchmal steckt da so viel drin, dass ich einfach begeistert bin und manchmal gibt es natürlich auch Enttäuschungen, weil es doch wieder nur die Socken zu Weihnachten gegeben hat. Und wer will schon Socken bekommen, womit wir zum zweiten Punkt deiner Antwort kommen.

Dazu möchte ich noch etwas sagen. Ich glaube nicht, dass sich Grenzen der Beliebigkeit öffnen, egal wie sehr der Autor darauf Wert legt, einen offenen oder geschlossenen Raum für die Interpretation seines Gedichtes anzustreben (tut er es wirklich?), letztendlich bestimmt der Leser, ob es schwarz auf weiß steht oder nicht. Ich kann an dieser Stelle nur meine eigene Meinung vertreten. Kunst liegt für mich darin, in geschlossener, überschaubarer Form, in loser Form, in irgendeiner Form, zu existieren. Ob sie sich abbildet, dechiffrieren lässt, ist meiner Meinung nach zweitrangig. Genau zu wissen, was jedes Wort meint, erscheint mir als bergaufwärts rollende Eigenschaft.
Ist das wirklich so? Oder ist das nicht die Definition von Beliebigkeit? Was da aus der postmodernen Diskussion entwachsen ist, hat der Gegenwartskunst natürlich eine unglaubliche Freiheit gegeben, aber im gleichen Atemzug wurde das ästhetische Urteil - und im Zuge dessen auch die Übung am ästhetischen Geschmack zu einem Anachronismus degradiert. Wenn sich der Wert eines Kunstwerks bereits und allein aus seiner bloßen Existenz definiert, dann verbietet sich in der Konsequenz jeder Anspruch daran und jede ästhetische Diskussion darüber. Dass dies in der Gegenwartsdebatte alltäglich ist, ist durchaus festzustellen, aber ist es auch gut? Welcher Gewinn liegt in dieser Freiheit, wenn ihr gleichsam der Inhalt abhanden kommt? Diesem dann dem Leser zu verantworten, führt wohl manchmal zu solch abstrusen Situationen wie jene, als die Putzfrau das Kunstwerk von Joseph Beuys für Müll gehalten hat. Aber was ist Müll in seiner Eigenschaft? Form ohne Inhalt und ohne Nutzen, also Beliebiges. So zumindest meine Meinung.

Bitte versteh mich nicht miss, ich meine das im Generellen auf die Konsequenz deiner Aussage zur Kunst bezogen, nicht bezogen auf dein Gedicht.

Überdies meinte ich nicht, dass der Autor jedes Wort, welches er schreibt, vollständig analytisch verstehen sollte, um es dann wie eine mathematische Formel erklären zu können. Das würde der Lyrik ja jede Intuition und Inspiration nehmen! Aber es geht in meinen Augen immer darum, ob ein Text auch über das Intuitive hinaus zu funktionieren im Stande ist, eine gewisse Logik und die Intuition sollten Hand in Hand gehen. Dein Gedicht so einsam sind die schlüsselblumen zum Beispiel hat in diesem Verhältnis die Grenze ausgelotet und dadurch ein unglaubliches Spannungsverhältnis ausgelöst. Im Kopf des Lesers konnte ein ganzer Kosmos an Gefühlen und Bildern entstehen - aber nicht, weil du dem Leser die maximale Freiheit gegeben hättest, sondern weil du mit deinem Text den Leser berühren konntest. Die im Wortsinne fantastische Reaktion der Rezipienten war also meiner Ansicht nach nicht ihre Reaktion auf das, was sie in deinen Text hineininterpretiert haben, sondern auf das, was sie in deinen Text hineininterpretieren konnten.

Wenn du also schreibst,

Es ist nicht wichtig, ihre Sprache zu sprechen, nur sich ihnen hingeben zu können. Dann öffnen sie Auge und Herz.
dann wird meiner Ansicht nach die ganze Verantwortung dem Leser auferlegt. Mir ist das zu einseitig. Denn man kann sich doch nur dort hineingeben, wo das Lager dafür bereitet wurde. Ich würde es also umdrehen: Der Autor gibt dem Leser etwas, sei es eine ganze Welt oder nur ein Wort, aber zumindest irgendetwas, das den Rezipienten so dargereicht wird und vielleicht auch berührt, dass er dem Text dafür seine Fantasie zurückschenken will.

Ich würde also die Trennlinie nicht ziehen zwischen der Frage, was ist Kunst und was ist keine Kunst. Für mich stellt sich eher die Frage, was ist Ästhetik und kann Kunst über das bloße Design heraus etwas erreichen oder berühren. In der Endkonsequenz zu postulieren, dass alles Kunst wäre, weil es ja existiert, ist vielleicht oberflächlich richtig, aber meiner Ansicht nach nimmt das der Kunsterschaffung jede Substanz.

Dies ist meine persönliche Meinung und ich kann mir vorstellen, dass ich damit ziemlich alleine dastehe im Gegenwartsdiskurs. Aber ich wollte sie in unserem Gespräch dennoch geäußert haben, weil sie die weltanschauliche Grundlage für meine Textkritik bildet.

Ich freue mich über die Diskussion mit dir, liebe Ubertas, weil mir nun auch über mich selbst noch einiges klarer geworden ist und weil ich es grundlegend interessant finde, mit dir im respektvollen Austausch zu stehen.

Liebe Grüße
Frodomir
 

mondnein

Mitglied
Wenn sich der Wert eines Kunstwerks bereits und allein aus seiner bloßen Existenz definiert, dann verbietet sich in der Konsequenz jeder Anspruch daran und jede ästhetische Diskussion darüber.
das Gegenteil (zur hier zitierten These) ist wahr, und deutlich fruchtbarer als diese ins Absolute generalisierte Negation
(davon abgesehen, daß jede absolute Generalisierung nicht wahrer ist als die absolute Generalisierung ihres Gegenteils
und auch abgesehen davon, daß das "Verbieten" den Verbieter und seinen autoritären Wunsch in eine schmerzliche Einsamkeit treibt)

nämlich: Jedes Wort und jedes Geschöpf, jedes Ding und jedes Ereignis aus dem Munde des großen Dichters (deus sive natura) ist ein Kunstwerk von unendlich auslotbarer Tiefe. Der Anspruch daran und die ästhetische Diskussion darüber entspricht dem gerne wieder und wieder von mir wiederholten Satz:
"Der Leser macht das Gedicht"
grusz, hansz
 

Ubertas

Mitglied
@seefeldmaren @Frodomir @mondnein
Mit saftiger Verspätung einen ganz lieben Dank an dich, liebe Maren und <----<3 herzal zruck! Ich freue mich sehr:)
Danke lieber Frodomir und lieber Hansz für eure Beiträge zu meinem Gedicht und zum erfassten Thema. Ich freue mich über die rege Anteilnahme zu den gesponnen Gedanken!
Eines möchte ich und muss es auch vorwegschicken: es folgen laienhafte Ansichten, da es sich um Aussagen einer Hobbydichterin handeln, die nicht empirisch geprüft sind und nur einer persönlichen Auffassung folgen. Gerne durch fachlich versierte Beiträge ergänzt werden dürfen und sicherlich keine allgemeine Gültigkeit besitzen. Also nur eine Teilaufnahme eines Betrachters darstellen, der auch nicht alles weiß.
Ob ich damit zu der angefangen Diskussion irgendetwas beitragen kann, weiß ich ebenfalls nicht zu beurteilen.
Aber ich versuche es auf meine Weise.
Lieber Frodomir, ich glaube unsere Auffassungen gehen nicht soweit auseinander, wie es anfänglich erscheint. Ich schreibe gerade vom smartphone aus und scrolle nicht ständig nach oben, um sämtlichen Inhalt nochmals vor Augen zu haben. (Habe ich vorhin)
Daher hoffe ich, dass mir meine Erinnerung an deine Worte ausreicht, um zu antworten. Hoffentlich:)
Wo ich absolut der gleichen Auffassung bin:
Der Autor schickt eine Botschaft in die Welt, mit gegebenem Rahmen oder nicht. Er hat ganz sicher eine Funktion hin zum Transport eines Gedichtes an den Leser. Wenn du dir dabei eine gewisse Erwartung an den Schreiber/Schreiberin (ich verzichte folgend auf *in und innen, weil ich grundsätzlich alle meine) vorstellst, sehe ich das sehr ähnlich. Natürlich bin ich anfangs Schöpfer meiner Worte, je nach Ausrichtung meiner Absichten lässt sich ein Raum schaffen, der dem Leser offensteht, anbietet, Zutritt gewährt. Meine Erfahrung beim Gedicht verfassen ist die: ich begebe mich vollkommen in eine Gefühls- und Gedankenwelt, in ein Etwas, dass sich erstmal als regungsloser Zustand beschreiben lässt, dann und schon zuvor hat mich irgendetwas so erfasst, beschäftigt, dass es sprichwörtlich heraus will aus mir. Teilweise zaghaft oder mit schnellen Bleistiftstrichen, aber es sucht sich seinen Weg, findet Worte, manchmal auch nicht, dann drehe ich den Bleistift um meine Finger und denke, gut, es steckt in meinem Kopf, steht auf dem Blatt, aber gehört nicht oder noch nicht der Welt. Diese Beobachtung bringt mich an den Punkt, zu verstehen, dass es immer wieder ein großer Versuch ist, mit einem Gedicht auf kleinstem Raum und das Gedicht könnte auch viele, viele Strophen besitzen, es bleibt immer noch ein sehr begrenzter Raum, mit dem eigenen Gefühl etwas abzubilden zu versuchen, das mehr will. Vielleicht eine große, emotionale Botschaft an den Leser versenden oder ihn nur streifen will, sodass er selbst hineingeht. Das sind Wünsche, in erster Linie besteht der Wunsch, etwas mit Worten zu sagen, die nicht im normalen zwischenmenschlichen Satzbau gewöhnlich auftauchen, außer zwei Lyriker tauschen sich aus;-)
Meiner Meinung nach kann sich Beliebigkeit nur unter zweierlei Konstellationen entwickeln, das mag nach Schwarz-Weiß- Denken klingen und ist es in Teilen auch:
Anspruchlosigkeit des Autors gegenüber seinem Schreiben und/oder Anspruchslosigkeit des Leser in seiner Deutung oder Wahrnehmung.
Daraus wird nichts, weder auf Autorenseite noch auf Leserseite. Worst-case-szenario: zwei loben sich hoch.
Ich finde sowohl deine, lieber Frodomir als auch deine lieber Hansz, geäußerten Einstellungen zum Kontext sinnvoll und absolut plausibel.
Jetzt gehen mir soviele Gedanken durch den Kopf, ich hoffe, obwohl ich sie zwar nicht gerade aufs Papier bringe, aber letztlich aus der Tastatur herausklopfend tippen will.
Mit Existieren zu dürfen meinte ich vor allem die Fähigkeit, wenn mir ein Gedicht nicht gefällt, ich nicht den Zugang zu ihm finde, nicht gleich aus alt gewohnter Tradtion mit totaler Verneinung darauf reagiere, sondern es erst einmal annehme. Annehme, dass es sich a) meinem Erwartungshorizont entziehen darf wie die gutgemeinte Sockenspende zu Weihnachten und b) nur weil ich an meine persönlichen Grenzen des Verständnisses gelange nicht nur c) in Erwägung ziehe, das ist Mist. An dieser Stelle sollte sich der Leser doch auch fragen: Was hindert mich? Es kann durchaus sein, dass mehr darin begründet liegt, wo meine eigene Kirche das Dorf verlässt. Das ist legitim. Auch zu sagen, bis hierhin und nicht weiter. Jetzt dreht es mich nur noch um die Zeilen und die Zeilen um mich. Trotzdem und so denke ich einfach, sollte man nicht gleich wieder zu seinem inneren "Kirchturm" zurückkehren, sondern ab und zu auch mal das eigene Bimmbamm überhören, vielleicht schwingt noch mehr an Klang durch den Raum. Selbst wenn er sich in Zersetzung, Selbstauflösung befindet, ein leises Klingen bleibt. Wenn jemand in seiner Dichtung konsequent auf vordergründiges und inhaltliches Zersetztsein setzt und lediglich eine Hülle hinterlässt, so sehe ich darin ebenso Sinn (wobei es Unsinn gibt für jeden). Wenn ich ein Gedicht vollkommen demontiere, ihm den Boden wegzunehmen versuche, es bleibt davon etwas übrig. Allerdings als Gegenbewegung, die gerade (nur für mich) eines will, wieder zur Sprache, zum Inhalt zu finden, weil es ihr an beidem mangelt. Das ist auch eine Demonstration von Kunst - ich habe wohl den Kunstbegriff jetzt bereits zweimal zu vollmundig verwendet, ohne ihn definieren zu können. Wenn ich es jetzt mit dem Begriff Ästhetik ummantele, wird es auch nicht zu einer richtigen Einheit oder besser. Sinnentleert ist somit nichts . Im Gegenteil.
Wenn ich dich richtig verstanden habe, lieber Frodomir, geht es dir um die Grenze zum wirklichen, greifbaren Werk eines Dichtes mit der Intention, etwas auszusenden, das den Leser erreicht. Du hast es so treffend formuliert als Berühren. Diese Berührung ist da, in vielen Gedichten. Gleichzeitig berührt der Lesende das Gedicht. Ich würde es als Flirt bezeichnen. Eine sanfte Annäherung zu einem Tex und von ihm ausgehend. Da etwas geschrieben steht, handelt es sich um Interaktion. Wir beurteilen ständig, auch um uns im Raum einzusortieren, sehen jeden Wimpernschlag des anderen, deuten im Gespräch, in jeder Form des Austausches, die kleinsten Zuckungen der Finger des Gegenübers, je nachdem, wieviel uns aneinander liegt, geben wir Signale, deuten sie unterbewusst. Daher kann für mich keine direkte Beliebigkeit entstehen, kein Verlust der Substanz, egal wie weit wir gehen, selbst in unserer mitgeteilten Abwesenheit bleiben wir präsent. Deswegen habe ich keine großen Bedenken, dass uns wirklich ein Verlust an Inhalt trifft, weil wir ihn uns täglich schaffen. Zeiten ändern sich, aber die Grundbedürfnisse der Menschen bleiben und aus ihnen speist sich Hoffnung und Zerfall. So wird und das hoffe ich, Lyrik immer ein Teil dessen sein, was in uns liegen darf, existieren darf und wenn es nur im kleinsten Fragment besteht, es wird bleiben. Meine Hoffnung ist, dass gerade im oft reizüberflutenden Zeitalter des ständigen Daseins etwas auftreten wird, das uns zwar nicht zurückbringt an einen Tag, an dem man auf Briefantworten tagelang warten musste und Telefongespräche noch etwas kosteten, aber vielleicht führt es uns eines Tages heran. An uns selbst, die wir nicht jeden Tag erreichbar sein können und bestenfalls daraus lernen, dass der Weg unser Ziel ist. Kein Festhalten an dem, was uns eines Tages aufgibt, sondern ein eigenes Finden und Voranschreiten in eigenem Tempo. Wieder mit der Zuerkenntnis eigener Grenzen. Das wünsche ich uns, sonst drehen wir vielleicht noch durch und es wundert nachträglich niemanden. Und ich weiß, lieber Frodomir, so schätze ich dich ein, dass du dich keiner Anschauung verschließt, das höre ich aus jedem Satz von dir und es ist gut und keine Einzelpostur, wenn du für dich sagst, hier ist mein Punkt, mein Zugang erschöpft.
In der heutigen Zeit, in der alle so tolerant sind, ein Spießrutenlauf. Bis sie alle umkippen vor lauter Heiligkeit. Da fällt mir gerade Gerhard Polt ein mit seinem köstlichen Beitrag zur "Toleranz". Youtube hat alles:) Falls du Zeit findest und es nicht kennst, guck es dir an:)
Danke will ich dir sagen, für alle deine Worte. Wenn ich auch spät dran bin, sie freuen mich mehr als sehr!
Lieber Hansz,
jetzt habe ich schon viel geschrieben. Falls du bis hierhin noch mitliest und das nehme ich an:) Ich danke dir für deine Worte: der Leser macht das Gedicht.
Das ist ein wichtiger Satz. Was mit dem Lesen beginnt, entscheidet oft über alles, was der Dichter vorgibt. Ein großer Teil, sofern nicht vergeblich erdichtet, sondern in Anbetracht eines Gedichtes, das etwas sein will, setzt eine Abbildung ein, eine individuelle Wahrnehmung des Geschehnisses. Diese Abbildung erfährt sich aus vielen Stücken. Erinnerungen, Worten, die wir vertragen und Worten, die wir nicht vertragen können, weil sie uns bittersweet erscheinen. Ein kleiner Spaziergang durch ein Museum unserer Wahl könnte erklären, wie wir als Leser wandeln. Ich kann zum Beispiel in der alten Pinakothek in München umherschlendern, obwohl ich umgeben bin von großartigen Gemälden, wird es mich zu denen ziehen und hat es mich, wiederholt, zu jenen, gezogen, die mich einerseits berühren konnten, so wie es der liebe Frodomir wesentlich weiter oben im Gesprächsverlauf vollkommen richtig erkannt hat. Ich frage mich gleichzeitig immer wieder, warum bleibe ich genau vor diesem Gemälde stehen? Ich bleibe nicht nur davor stehen, weil es der Künstler so erschaffen hat, sondern ich bleibe auch ganz wesentlich davor stehen, weil ich in mir selbst die Assoziation finde. Ich stelle eine Verbindung her, ich ich ich, aber so ist es, meine Erfahrungen, meine Ablehnungen entscheiden an diesem Ort, ob ich mir dessen bewusst sein will oder nicht, über die Schönheit, über die Akzeptanz, über die Annahme der künstlerischen Entfaltung. Als Rezipient verhalte ich mich nicht als aufnehmender Mensch, sondern, so denke ich, als wiedererfahrender Mensch.
Selbst wenn ich mich jetzt mit meiner Antwort auf hoch "künstlerischem" Niveau weit aus den Fenstern lehne:
Alles ist zulässig, solange es nicht seine Leidenschaft verliert. Es ist stets ein beidseitige Leidenschaft, ob in der Musik, in der Sprache, in jedem Ausdruck von uns als Menschen, im Tanz, im Schweigen, wir gehen immer aufeinander zu, wir werden es selbst dann noch tun, wenn wir schweigen.
Daher gehe ich jetzt zur Schnabelhaltung über und bedanke mich bei alllen, die zugehört haben.
Habt eine gute Nacht und danke für Eure Zeit, liebe Maren, lieber Frodomir und lieber Hansz und den Rest der lieben Welt.
Eine gute Nacht wünscht euch ubertas
 

Anders Tell

Mitglied
Immer, wenn ich Deinen wortreichen Ausführungen folge und das tue ich gerne, muss ich an Gertrude Stein denken. So ähnliche Diskussionen hätte sie vielleicht auch geführt, wenn sie jemals gedacht hätte, etwas erklären zu müssen. Das hat sie, glaube ich, nicht gedacht. In ihrem Salon auf der Rue de Fleur hat sie die zeitgenössische Autoren und Maler empfangen und ihre Meinung war gefragt. Ich würde Dich auch eher fragen, als um Erklärungen Deines Werkes bitten. Das spricht für sich und ist ganz bestimmt keine Hobbydichterei. Leidenschaft hast Du hervorgehoben und daran habe ich erkannt, was auch für mich den Unterschied markiert. Es gibt Virtuosen und solche, die jeden Ton auch meinen, den sie spielen.
 



 
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